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Illustration: Viktoria Spokojna.

Air Rage: Das Flugzeug als Mikrokosmos der Klassengesellschaft 

Fliegen ist heute kein glamouröses Erlebnis mehr, sondern wird eher als stressig empfunden. Aber warum macht uns Fliegen manchmal so wütend? Und was hat das mit sozialer Ungleichheit zu tun? 

Genervte, unzufriedene oder gar wütende Passagiere waren keine Seltenheit in meinem Alltag als Flugbegleiterin. Zwei Jahre habe ich für eine der größten Fluggesellschaften auf der Welt gearbeitet und währenddessen alles Mögliche an unsozialem Benehmen erlebt. Passagiere, die nicht nebeneinander sitzen wollen. Passagiere, die mehr Alkohol wollen, als sie vertragen. Passagiere, die erwarten, dass ich ihr Gepäck trage. Passagiere, die besseres Essen wollen oder finden, ihnen stünde eine bessere Behandlung zu … die Liste könnte endlos weitergehen. 

Keine Frage: Der Glamour vom Fliegen vergangener Zeiten ist längst passé. Fliegen ist heute Massenware und das bedeutet meistens auch: Es ist unangenehm. Nicht nur für Flugbegleiter:innen, sondern auch für Passagiere, die oft vergeblich versuchen, zwischen Tritten in die Rückenlehne und schreienden Babies eine halbwegs bequeme Schlafposition zu finden. Hiervon sind Passagiere der Business- oder ersten Klasse natürlich nicht betroffen. Womit wir auch schon beim Thema wären: das Flugzeug als Mikrokosmos der Klassengesellschaft.

Denn mit abnehmendem Glamour und Komfort nimmt ein ganz besonderes Phänomen auf Flugreisen zu: Passagiere werden aggressiv, bekommen Wutanfälle und bedrohen die Flugsicherheit an Bord. Die Wissenschaft hat für den Wutausbruch über den Wolken einen Namen: Air Rage, zu Deutsch: Flugwut.

Mit Glamour hat das nichts mehr zutun: Viele empfinden Flugreisen heutzutage vor allem als stressig. Bild: Chris Brignola

Soziale Ungleichheit by Design

Aber woran liegt es, dass uns Fliegen aggressiv machen kann? Laut einer Studie der Princeton University ist einer der Gründe für die Flugwut soziale Ungleichheit. Denn Ungleichheit ist durch die Klassenaufteilung sozusagen mit in das Flugzeug eingebaut und macht uns zu unsozialen Einzelkämpfer:innen. 

Demnach haben Passagiere in der Economy Class eine 3,84-Mal höhere Wahrscheinlichkeit, im Flugzeug wütend zu werden, sofern das Flugzeug eine Erste Klasse hat. Wenn Economy Class Passagiere durch diese beim Einsteigen durchlaufen müssen, haben sie außerdem eine 2,18 höhere Wahrscheinlichkeit, einen Wutausbruch zu erleben.

Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass über 83 % der Wutausbrüche bei Passagieren in der Economy Class vorkommen, die sich am unteren Ende des Klassensystems befinden. Über 72 % der wütenden Passagiere sind zudem männlich. Die Auslöser für die Wutausbrüche sind überwiegend Trunkenheit (31,75 %) oder Angriffslust (29 %). 

Wahrscheinlich händigte die Fluggesellschaft, bei der ich gearbeitet habe, deshalb die schriftlichen Verwarnungen an Passagiere, die sich daneben benehmen, neben Englisch auch in den Sprachen der Länder aus, die mit besonders hohem Alkoholkonsum in Verbindung gebracht werden.

Laut einer Studie der Princeton University ist einer der Gründe für die Flugwut soziale Ungleichheit. Denn Ungleichheit ist durch die Klassenaufteilung sozusagen mit in das Flugzeug eingebaut. Bild: Screenshot Youtube.

Transportmittel und soziale Ungleichheit

Die Trennung von Menschen in Fortbewegungsmitteln nach Geschlecht, Status oder Hautfarbe hat eine lange Geschichte. Wir alle kennen die Bilder von Überseedampfern, auf denen Menschen dritter Klasse auf harten Pritschen mit Brot und Wasser schlafen, während im Bordrestaurant der ersten Klasse Kaviar und Champagner serviert werden. 

Oder man denke an andere Szenen in der Geschichte, bei denen Diskriminierung in das Design des Transportmittels integriert wurde, wie zum Beispiel während der Rassentrennung in den USA, der Apartheid in Südafrika oder dem Nationalsozialismus in Deutschland. Nicht ohne Grund wurde Rosa Parks, die afroamerikanische Frau, die sich weigerte, von ihrem “weißen” Platz im Bus aufzustehen und nach hinten zu gehen, zu einer Ikone der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung. 

Sicherlich ist es also nicht nur die Präsenz einer höheren Klasse, einen Steinwurf vom eigenen Sitzplatz entfernt, die einen zur Weißglut bringt, sondern auch die ungenierte Normalisierung sozioökonomischer Ungleichheit und Diskriminierung. 

Links: Rosa Parks legal in einem Bus im Dezember 1956. Rechts: Rosa Parks im Februar 1956 nach ihrer Festnahme in Folge des Busboykotts von Montgomery. Bild: Alabama Department of Archives and History, gemeinfrei.

Tatsächlich kommen Wutausbrüche im Flugzeug aber verhältnismäßig selten vor: Nur auf 1,58 von 1.000 Flügen mit einer ersten Klasse hatten Economy Class Passagiere einen Wutausbruch, unter Erste Klasse Passagieren waren es nur 0,31 Flüge. In meinen zwei Jahren als Flugbegleiterin habe ich keinen einzigen Fall von Air Rage erlebt. In meiner Ausbildung habe ich zwar gelernt, wie man einen Passagier mit Kabelbindern an seinem Sitz fixiert oder gefährliche Passagiere mit dem Feuerlöscher ausknockt, zum Glück musste ich diese Skills aber nie einsetzen. 

Eine Illustration des anmutigen Treppenaufgangs der RMS Titanic, 1911. Bild: White Star Line, Public domain.

Doch obwohl viele Unternehmen, auch Fluggesellschaften, sich um eine inklusivere Politik bemühen, scheinen Klassenunterschiede im Flugverkehr nicht weniger zu werden, sondern eher mehr. Man denke nur an Priority Boardings oder Extra-Zahlungen für Services wie Gepäckaufgabe. Ebenso steckt hinter der Entfernung der ersten Klasse in so manch einer Fluggesellschaft keineswegs Sozialismus, sondern viel eher das kapitalistische Kalkül, mehr Sitzplätze verkaufen zu können. So gibt es jetzt statt der ersten Klasse auf vielen Lufthansa-Flügen nur noch eine Business Class und neben der Economy Class, deren Sitze verkleinert wurden, die Premium Economy.

Vielleicht wäre ein bisschen mehr Air Rage für die Auflösung des Klassensystems gar nicht so schlecht? Denn letztlich hinterfragen Wutausbrüche in der Luft auch das Klassensystem selbst und das Flugzeug als treibenden Mikrokosmos der Klassengesellschaft.