Friedliche Gesellschaften sind kein utopisches Zukunftskonzept – es gibt sie wirklich, und es hat sie immer gegeben. Doch um das zu verstehen, müssen wir zunächst die Ursprünge von Kriegen ergründen. Die Reise führt in das steinzeitliche Niltal.
Wasser, so weit das Auge reicht: Der Nassersee, 1964 beim Bau des Assuan-Staudamms von der Regierung geflutet, erstreckt sich über eine Länge von 500 km, von Ägypten bis in den Sudan. Lange bevor dieser Stausee das Niltal unter sich verschwinden ließ, dachte man hier archäologische Hinweise auf den vielleicht ersten Krieg in der Geschichte der Menschheit gefunden zu haben: Das Gräberfeld Jebel Sahaba.
Ein Team von Archäolog:innen entdeckte hier beim Bau des Staudamms zufällig die Überreste von 61 Menschen. Die mindestens dreizehntausend Jahre alten Skelette – Frauen, Kinder und Männer – erzählen Geschichten von Traumata, Verletzungen und Gewalt: Ihre Körper wurden mit Speeren, Pfeilen und anderen spitzen Objekten verletzt. Ihren Gräbern lagen Steinspitzen und scharfe Klingen bei.
War es Krieg?
Lange galt der Fund von Jebel Sahaba als der erste archäologische Beweis für prähistorische Kriegsführung unter nomadischen Jäger- und Sammlergesellschaften. Er wurde zum gefundenen Fressen für Pessimist:innen, die der Überzeugung sind, Krieg habe es schon immer gegeben. Doch 2021 nahmen Forscher:innen den Fund erneut unter die Lupe und kamen zu dem Ergebnis, dass es sich bei den gewaltvollen Geschehnissen nicht um einen Krieg, sondern eher um eine Serie von unorganisierten, sporadischen zwischenmenschlichen Konflikten gehandelt haben muss. Denn Krieg, so die Forscher:innen, ist ein organisiertes, singuläres und gewaltsames Ereignis von zwischenmenschlicher Auseinandersetzung.
Laut dem Team um Archäologin Isabelle Crevecoeur sind die 61 Menschen von Jebel Sahaba zwar gewaltsam, jedoch nicht in einem einzelnen, organisierten Krieg ums Leben gekommen. Denn viele der zugefügten Verletzungen waren zum Zeitpunkt des Todes schon verheilt. Das lasse eher auf vereinzelte Hinterhalte und Überfälle als auf einen organisierten Krieg schließen.
Wäre es ein organisierter Krieg gewesen, so die Forscher:innen, müssten die Menschen bei einem einzigen Kampf oder Massaker ums Leben gekommen sein. Auch die Anzahl der jungen, kampffähigen Männer müsste überwiegen. Da beides nicht der Fall ist, gehen die Forscher:innen davon aus, dass Jebel Sahaba zwar ein Zeugnis zwischenmenschlicher Gewalt, nicht aber Zeugnis eines organisierten, prähistorischen Krieges ist.
Auslöser: Klimawandel und Ressourcenknappheit
Stattdessen vermuten die Forscher:innen, dass die Konflikte auf das Klima zurückzuführen sein könnten: „Der Klimawandel war höchstwahrscheinlich ein Auslöser für gewaltvolle Ressourcenkämpfe“, heißt es in der Studie. Denn während der letzten Eiszeit veränderte sich das Klima so stark, dass Ressourcen immer knapper wurden und es so zu gewaltsamen Überfällen zwischen den überlebenden Gruppen gekommen sein könnte. Kleine Jäger-Fischer-Sammler-Gruppen, die die extreme Dürre und Trockenheit überlebten, gerieten durch das Klima in lebensbedrohliche Konkurrenzverhältnisse – ein Szenario, das im Laufe der Geschichte häufiger zum Kriegsmotiv wurde.
Wenn das Team um Isabelle Crevecoeur recht hat und es sich bei dem Fund von Jebel Sahaba nicht um den ersten prähistorischen Krieg handelt, würde das bedeuten, dass Kriege wohl doch erst später entstanden – etwa als Menschen vor etwa zehntausend Jahren sesshaft wurden und begannen, ihr Hab und Gut zu verteidigen. Davon geht der Friedensforscher Douglas Fry schon lange aus und fechtet dabei die Hobbes’sche These an, dass Krieg einfach Teil der menschlichen Natur sei.
Ein Krieg aller gegen alle?
Der berühmte britische Philosoph Thomas Hobbes stellte 1651 den Grundsatz auf, dass der Mensch von Natur aus böse sei und überwiegend nach seinem eigenen Vorteil, der Erhaltung seiner Existenz und dem Besitz möglichst vieler materieller Güter strebe. Daher herrscht laut Hobbes im Naturzustand ein Krieg aller gegen alle.
Friedensforscher und Anthropologe Douglas Fry hingegen ist sich sicher: „Menschen sind nicht von Natur aus kriegerisch.“ Das sei alleine schon dadurch belegt, dass es Kriege eben nicht immer gegeben habe, wie so oft behauptet. Die Auffassung, Krieg sei natürlich und unvermeidbar, sei viel mehr ein über Jahrhunderte im westlichen Denken verfestigtes Narrativ, das durch Denker wie Thomas Hobbes, Sigmund Freud oder William James geprägt wurde.
Krieg ist eine relativ junge Entwicklung
Tatsächlich finden sich die ersten archäologischen Beweise für Kriege erst in den letzten zehntausend Jahren. Laut Anthropologen wie Fry und Raymond C. Kelly entwickelten sie sich an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten als Folge von Klimawandel, Ressourcenknappheit und ansteigender Bevölkerungsdichte. Demnach geht die Entwicklung von Kriegen Hand in Hand mit der ebenfalls vor etwa zehntausend Jahren stattfindenden landwirtschaftlichen Revolution, in der Menschen erstmals sesshaft wurden, und der Entwicklung von Zivilisationen vor etwa sechstausend Jahren. Mit der Sesshaftigkeit und der Ausbreitung von urbanen Netzwerken folgten also auch die territoriale Ausdehnung und die Notwendigkeit, das eigene Land, Hab und Gut zu verteidigen.
Wann genau der erste Krieg der Menschheitsgeschichte tatsächlich stattfand, wissen wir nicht. Denn die dafür notwendigen eindeutigen archäologischen Beweise sind noch nicht gefunden worden. Ein frühes Beispiel eines archäologisch belegten Kriegs ist jedoch der Angriff auf San José Mogote, eine archäologische Stätte im heutigen Oaxaca, wo sich einst ein Zentrum der Zapotekischen Zivilisation befand. Vor etwa dreitausend Jahren entwickelten sich dort drei verschiedene Zentren, die einander bekriegten. Dabei wurde ein Großteil der Bevölkerung von San José Mogote, dem damals bevölkerungsreichsten Ort der Region, ausgelöscht. Überlebende siedelten nach Monte Albán über – später die Hauptstadt des Zapotekischen Staates —, wo Mauern und Festungen darauf hindeuten, dass die Stadt als Antwort auf eine militärische Bedrohung errichtet wurde.
Millionen von Jahren herrschte Frieden
Groß angelegte, organisierte Kriege gibt es also noch nicht so lange. Tatsächlich gilt die Altsteinzeit (2,5 Millionen Jahre v. Chr. bis 10.000 v. Chr.) sogar als „eine Zeit des universellen Friedens“, schreibt der Anthropologe Raymond C. Kelly. Doch während nomadische Gruppen eher egalitäre soziale Strukturen mit flachen Hierarchien pflegten, entwickelten sich mit der Sesshaftigkeit und der Zivilisierung komplexere soziopolitische Realitäten, die einer Gemeinschaft in Anbetracht von Ressourcenknappheit gewisse Führungskompetenzen und Hierarchien abverlangten.
Kelly fasst zusammen: „Kriegsführung ist kein endemischer Zustand der menschlichen Existenz, sondern eine episodische Eigenschaft der Menschheitsgeschichte, die zu manchen Zeiten an manchen Orten beobachtet werden kann.“ Und wenn Krieg eben nicht immer zur Menschheitsgeschichte – und damit zur menschlichen Natur – dazu gehört hat, lohnt es sich umso mehr, einen Blick auf solche Gesellschaften zu werfen, die ganz oder fast ganz ohne Kriegsführung auskommen. In seiner Forschungsarbeit listet Fry ganze 74 sogenannte Peaceful Societies auf, also Völker, die keinen oder kaum Krieg führen. Im nächsten Kapitel widmen wir uns einem dieser Völker und der Frage, was Frieden für sie bedeutet. Denn letztlich richtet sich die Definition einer friedlichen Gesellschaft auch nach ihrer Definition von Krieg, Gewalt(freiheit) und Frieden.