facebook-likehamburgerlupeoverview_iconoverviewplusslider-arrow-downslider-arrow-leftslider-arrow-righttwitter
Kompendium: Coaching Culture

Heute ist klar: Coaching ist gekommen, um zu bleiben. Während das Angebot weiter wächst und Unternehmen einen nachhaltigen Wert darin sehen, ist nicht alles Gold, was glänzt. Über Chancen und Herausforderungen.

Kompendium: Coaching Culture

In der nahen Zukunft ist es der Anspruch, näher zusammenzurücken und zueinander zu finden – auch durch das Coaching. Nur darf es nicht einfach gut gemeint sein. Nun erfordert es strukturelle Änderungen, um das neue Wir zu stärken.

Kompendium: Coaching Culture

Was, wenn Perfektion zum Greifen nah wäre? Würdet ihr nicht auch danach schnappen? In 2059 ist der Drang nach Optimierung zu einer Abhängigkeit geworden. In diesem Coaching-Szenario könnte der Mensch das Wichtigste verlieren: sich selbst. 

Kompendium

Coaching prägt Menschen und Menschen prägen Kultur. Die Gesellschaft hat das Business mit der Selbstoptimierung erst angenommen, später eingefordert und irgendwann vorausgesetzt. Doch wer durch Coaching und Empowerment wachsen will, muss achtsam sein.

Kompendium: Coaching Culture

Empowerment sieht im antiken Athen etwas anders aus als heute. Keine motivierenden Affirmationen, kein Zuspruch, der anspornen soll. Sokrates fragt einfach, hakt immer wieder bei seinen Gesprächspartner:innen nach. Zu einer Zeit, in der der Mensch in den Mittelpunkt rückt. 

Kompendium: Coaching Culture

In den 1970er Jahren entsteht auf einem kalifornischen Tenniscourt eine Coaching-Methode, die die Businesswelt revolutionieren soll. Besonders große Unternehmen erkunden, warum und wie man Coaching für sein Business nutzen kann.

Kompendium: Coaching Culture

Sokrates, der erste Coach der Antike

Kompendium: Coaching Culture

Sokrates, der erste Coach der Antike

Coach der ersten Stunde: Der antike Philosoph Sokrates suchte selbst auf seinem Todesbett noch nach Gesprächen. Bild: Der Tod des Sokrates, Jacques-Louis David, 1787, Catharine Lorillard Wolfe Collection

Empowerment sieht im antiken Athen etwas anders aus als heute. Keine motivierenden Affirmationen, kein Zuspruch, der anspornen soll. Sokrates fragt einfach, hakt immer wieder bei seinen Gesprächspartner:innen nach. Zu einer Zeit, in der der Mensch in den Mittelpunkt rückt. 

Sokrates (469 v. Chr. – 300 v. Chr.) ist einer der berühmtesten und wichtigsten Philosoph:innen der westlichen Geschichte – und Coach der ersten Stunde. Ja, tatsächlich hat er eine große Bedeutung im Business rund um die Selbstoptimierung und wird heutzutage von vielen Coaches in unterschiedlichsten Bereichen als Inspiration und Vorreiter angesehen. Um das zu verstehen, müssen wir nicht nur sein Schaffen, sondern auch die Zeit, in der er lebte, nachvollziehen. Eine Erkundung.

Sokrates schafft den Rahmen für die Coaching Culture

“Ich weiß, dass ich nicht weiß” ist wohl der legendärste Satz des Sokrates, der im vorchristlichen Athen als Sohn eines Steinmetzes und einer Amme auf die Welt kommt. Über seine Jugend ist nicht viel bekannt – man weiß aber durch Überlieferungen anderer, dass er eine umfassende Ausbildung erhält, unter anderem in den Bereichen Alphabetisierung, Literatur, Musik, Gymnastik, Geometrie und Astronomie. Zunächst arbeitet er als Steinmetz, dient dann aber als Fußsoldat im Peloponnesischen Krieg. Später zieht es ihn auf den belebten Marktplatz in Athen, wo der Denker von nun an den perfekten Ort für sein Wirken findet und Einfluss auf das gesellschaftliche Leben abseits der Institutionen ausübt. 

Keine motivierenden Affirmationen, kein Zuspruch, der anspornen soll: Die zentrale Idee von Sokrates’ Philosophie ist, das Gegenüber nicht zu lehren, belehren oder ihm Wissen einzutrichtern, sondern gezielte Fragen zu stellen, die zu einer Selbsterkenntnis führen. Bild: Skulptur von Sokrates, Leonidas Drosis, 1880, C messier (CC BY-SA 4.0)

Es ist noch früh am Morgen, um Sokrates herum tummeln sich immer mehr Menschen. Darunter sind Bürger:innen aller gesellschaftlichen Schichten, Männer und Frauen, die ihm zuhören, mit ihm sprechen und diskutieren, mit Begeisterung, Demut, Ablehnung oder Ärgernis reagieren. Vor und mit ihnen praktiziert Sokrates das, was uns heute als Mäeutik, sokratischer Dialog oder Hebammenkunst bekannt ist. Hebammenkunst, weil er sich hierfür von seiner Mutter inspirieren lässt. So wie sie den Frauen bei der Geburt ihrer Kinder hilft, so hilft er den Seelen bei der “Geburt” ihrer Einsichten. Aber wie kann man sich das vorstellen? Die zentrale Idee ist, das Gegenüber nicht zu lehren, belehren oder ihm Wissen einzutrichtern, sondern gezielte Fragen zu stellen, die zu einer Selbsterkenntnis führen. Die Kunst des Sokrates ist es also, das Wissen des Gesprächspartners immer weiter zu hinterfragen, bis er ins Zweifeln kommt und seine falschen Annahmen erkennt. Dieser Moment der Verwirrung, in dem man nicht weiterkommt, ist der entscheidende Part des sokratischen Dialogs, weil sich dann etwas bei der befragten Person ändert. Im Idealfall erkennt sie ihr Unwissen und beginnt, selbst eine Lösung für sich zu suchen. Und Sokrates leistet dafür die Vorarbeit. 

Die Methode, die in Coaching-Kreisen noch heute aktuell ist, wird damals von manchen geschätzt und von anderen als merkwürdig wahrgenommen. Aus Gesprächen mit Athener Jungpolitikern entstehen deswegen sogar hitzige Wortgefechte. Viele Gesprächspartner lassen sich zwar auf Rededuelle ein, fühlen sich davon aber provoziert und erkennen nicht den Wert dahinter. Sokrates, der Unruhestifter? Schon irgendwie, aber eher ungewollt, denn ihm geht es im Kern nur darum, die Wahrheit zu finden. Er ist davon überzeugt, dass jeder Mensch diese selbst für sich erkennen könnte. Dafür braucht es aber einen Dialog. Deswegen sucht er immer wieder aktiv nach Gesprächen, in denen er sein Gegenüber dazu bringt, die eigenen Ansichten in Frage zu stellen. Das ist seine Mission. 

Einmal volles Potenzial, bitte!

Im vorchristlichen Athen leben Sokrates und seine Mitbürger:innen in einer Demokratie. An dieser Stelle muss man erwähnen, dass daran damals nur freie Männer aktiv teilhaben dürfen. Sie bilden eine Gemeinschaft von Gleichen, die mittels Volksversammlungen über das Gemeinwohl beraten, bestimmen und sich an der Macht beteiligen. Während das bürgerliche Selbstbewusstsein wächst, herrscht in dieser politisierten Gesellschaft ein hoher Anspruch an den Einzelnen. Der Bürger wird als wichtiges Glied des Ganzen anerkannt. Er muss allerdings herausstechen, überzeugend im argumentativen Schlagabtausch sein und ein hohes Maß an Kenntnis sowie Urteilsvermögen erlangen, wenn er Erfolg haben und öffentliche Autorität gewinnen will. 

Während im antiken Athen das bürgerliche Selbstbewusstsein wächst, herrscht zugleich ein hoher Anspruch an den Einzelnen: Er muss herausstechen, überzeugend im argumentativen Schlagabtausch sein und ein hohes Maß an Kenntnis sowie Urteilsvermögen erlangen, wenn er Erfolg haben und öffentliche Autorität gewinnen will. Bild: Sokrates besucht Aspasia, Nicolas-André Monsiau, 1800, Public Domain

Da kommt Sokrates ins Spiel, den das Orakel von Delphi einer Geschichte nach als den weisesten Mann in ganz Athen bezeichnet. Doch er ist nicht wie andere Philosophen, die ihr Wissen nur mit einem erlesenen Kreis teilen. Mit seinen bohrenden Fragen ist er Coach für alle, die möchten. Geld verlangt er nicht. Die Stütze, die er anderen sein kann, ist ihm Bezahlung genug. Mit geistiger Kraft zur Selbsterkenntnis zu kommen, pusht diejenigen, die sich darauf einlassen, enorm. Sie können ihr volles Potenzial ausschöpfen, von dem sie nicht einmal wussten, dass sie es hatten. Durch die Hebammenkunst erkennen sie erst ihre Unwissenheit, betrachten dann ihre Probleme auf neue Art und Weise, denken anders darüber nach, bilden sich eine eigene Meinung und ändern demnach ihr Handeln. Das ist Empowerment der sokratischen Art und ein wichtiger Baustein für die Demokratie. Unter der Jugend der Athener Elite findet die Arbeit von Sokrates großen Anklang, die sie als eine alternative Form politischen Handelns sehen. Hierbei steht immer im Vordergrund, dass sich der einzelne Mensch verbessert, denn nur dann könne Politik auch gut sein. 

Das Coaching entwickelt sich mit der Individualisierung

Das Empowerment à la Sokrates fruchtet vor allem, weil das Selbst des Bürgers im antiken Athen besondere Aufmerksamkeit genießt. Auch beim berühmten Philosophen steht der Mensch im Mittelpunkt. Ein interessanter Fakt, denn dieses Szenario soll sich im Laufe der Geschichte noch zuspitzen, wenn Individualisierung zu einem zentralen Kulturprinzip in der westlichen Gesellschaft wird. Bedeutet das im Umkehrschluss, je weniger Kollektivismus, desto mehr Coaching? Und wie viel Platz für persönliches Glück bleibt eigentlich, wenn die Selbstoptimierung so gefragt ist, dass sie irgendwann zum Produkt des Kapitalismus wird? Diese Fragen sollen die Menschheit im Laufe der Zeit noch intensiv beschäftigen. Doch Sokrates, der erkannte schon damals die Verantwortung des Individuums für das Miteinander. Und so ist sein Zitat “Wer die Welt bewegen will, der sollte erst sich selbst bewegen” quasi ein Coaching-Ratschlag, den wir heute ganz genauso brauchen.

Weiterlesen In den 70ern wird Coaching auf dem Tennisplatz erfunden
Seite 1 | 2 | 3 | 4 | 5
Kompendium: Coaching Culture

In den 70ern wird Coaching auf dem Tennisplatz erfunden

Kompendium: Coaching Culture

In den 70ern wird Coaching auf dem Tennisplatz erfunden

Die Geschichte des modernen Coachings beginnt auf einem kalifornischen Tennisplatz. Bild: Moises Alex

In den 1970er Jahren entsteht auf einem kalifornischen Tenniscourt eine Coaching-Methode, die die Businesswelt revolutionieren soll. Besonders große Unternehmen erkunden, warum und wie man Coaching für sein Business nutzen kann.

Im Laufe des 20. Jahrhundert entwickelt sich der Arbeitsmarkt in eine entscheidende Richtung. Mitarbeiter:innen werden nicht mehr nur als reiner Kostenfaktor gesehen, sondern von der Führungsriege immer mehr als wertvolle Ressource geschätzt. Durch den Liberalismus rückt die Idee der Entfaltung des Einzelnen ins Rampenlicht. Dementsprechend wird es auch immer klarer, wie wertvoll es für den Firmenerfolg ist, wenn man die Leistung der Arbeiter:innen fördert. Damit war der Bedarf für das Empowerment da: Manege frei für das Business-Coaching, das sich für Unternehmen zwischen den 1970er und 1990ern ziemlich lukrativ entpuppt.

Ready, set, coaching!

Der Begriff Coach ist in den USA zunächst im Sport dominant. Coaches sind allerdings mehr als nur Trainer:innen und gehen auch auf die individuellen Probleme und Bedürfnisse der Sportler:innen ein. Sie beobachten, analysieren, lehren, motivieren, unterstützen, begleiten, beraten und greifen dabei auf Methoden aus der Psychologie zurück. Einer, der in dieser umfassenden Betreuung auch Potenzial für das Geschäftsleben sieht, ist Sportpädagoge, Business-Consultant und Bestsellerautor Timothy Gallwey. In der Welt des Coachings gilt er als absoluter Pionier und wird häufig als “Vater des modernen Coachings” bezeichnet. 

Wie hat er sich diesen Namen gemacht? Der Stein kommt 1971 ins Rollen, als der US-Amerikaner im sonnigen Seaside, Kalifornien, einen Job als Tennistrainer annimmt. In dieser Rolle setzt er sich intensiv mit dem Verstand seiner Schüler:innen während der Performance auseinander und erkennt die enorme Bedeutung der Psyche für Erfolg. Er entwickelt eine Art des Coachings, durch die Sportler:innen lernen, sich ganz auf Technik, Bewegung und Co. zu konzentrieren und Freude am Spiel zu haben. Gleichzeitig sollen sie es schaffen, Anspannung, Versagensängste, Selbstkritik und Zweifel  – eben alles, womit man sich selbst einschränkt – zu überwinden. 

Der Begriff Coach ist in den USA zunächst im Sport dominant. Coaches sind allerdings mehr als nur Trainer:innen und gehen auch auf die individuellen Probleme und Bedürfnisse der Sportler:innen ein. Bild: Chino Rocha

Der Sprung in die Business-Welt

1974 kommt von Timothy Gallwey dann das passende Buch dazu heraus: “The Inner Games of Tennis”. Das erfreut nicht nur Amateur:innen und professionelle Tennisspieler:innen, sondern wird auch unter Nicht-Athlet:innen populär. Letztere können die Methoden und Prinzipien nämlich auf ihr privates und berufliches Leben übertragen. Es dauert also nicht lange, bis auch die Geschäftswelt auf Timothy Gallwey aufmerksam wird und gemeinsam mit ihm zwischen Mitte der 1970er und Anfang der 1980er die Ära des Business-Coachings einläuten. Diese Zeit prägt unsere Unternehmenskultur bis heute. 

Durch Timothy Gallwey findet Coaching in der Geschäftswelt ein Zuhause. In den frühen 1980er Jahren gewinnt er den Telekommunikationskonzern AT&T als Langzeitkunden. Er soll der Firma helfen, ihr Mindset zu ändern, moderner und wettbewerbsorientiert zu werden. Kurze Zeit später wird Gallwey von dem IT- und Beratungsunternehmen IBM beauftragt, das ebenfalls an seinem Mindset arbeiten will: Weg von “Wir wissen alles”, hin zu einer Lern- und Coaching-Organisation. In den 1990ern wird auch der Coca-Cola-Konzern sein Kunde. Gallwey soll die Top-Manager:innen so coachen, dass sie anschließend ihre Mitarbeiter:innen selbst coachen können. 

Das “Inner Game”  –  Ein Modell um Ziele, Leistung, Lernen und Freude zu vereinen

Es sind große, bereits erfolgreiche und etablierte Firmen und Konzerne, mit denen Timothy Gallwey über die Jahre zusammenarbeitet, für die er in unterschiedlichen Abteilungen seine Coaching-Expertise einsetzt. Seine Arbeit beruht stets auf seinem selbst entwickelten “Inner Games”-Modell. Das Modell basiert auf folgender Formel: “Leistung = Potenzial – Störungen” – da so Gallwey ist der Weg zur persönlichen High Performance. Sie soll bei den Coachees in der Tiefe wirken und ihnen helfen, ihre Perspektiven auf ihr Potenzial zu verändern und ihre Schaffenskraft entfalten. 

Durch Timothy Gallwey findet Coaching in der Geschäftswelt ein Zuhause. Sein Erfolgsgeheimnis: Das selbst entwickelte “Inner Games”-Modell, das auf der Formel: “Leistung = Potenzial – Störungen” basiert. Bild: YouTube Screenshot “An Association for Coaching Interview – Tim Gallwey”, Association for Coaching

Ein bedeutender Aspekt beim “Inner Games”-Modell sind die Fähigkeiten, die ein Coach haben soll. Zu seinen Skills zählen ein inspirierendes Selbstvertrauen, ein Bewusstsein, das nicht wertend gegenüber Geschehnissen ist, und Klarheit über das Ziel. Dabei sollten Coaches immer beachten, dass es nicht um die eigenen, sondern um die Interessen der Coachees geht. Die Rolle des “Lehrenden” ist beim Konzept vom “Inner Game” also essentiell. Was auch heißt, dass nicht jede:r dem gewachsen oder eben die richtige Person dafür ist. Das ist spannend, weil es bis heute weder Qualitätsstandards für diesen Beruf noch eine anerkannte Ausbildung dafür gibt.

Ein wichtiger Punkt, um die Kultur, die sich zu dieser Zeit mit dem Coaching entwickelt, besser zu verstehen, ist: Bei diesem Ansatz dreht sich alles um die Stärkung der inneren Ressourcen. Coachees werden gelehrt, Vertrauen in ihre Kompetenzen entwickeln und von ihren Erfahrungen zu lernen. Und: Sie sollen sich nicht übermäßig anstrengen. Das sei nur ein Hindernis dabei, die eigenen Ziele zu erreichen. Am wichtigsten ist, dass sie dahin gecoacht werden, sich selbst zu helfen. Mit seinem Wirken rund um “Inner Games” macht sich der US-Amerikaner einen Namen, der noch heute in der Geschäftswelt bekannt ist. Der “Vater des modernen Coachings” gibt mit seiner Methode nämlich Impulse, den Sinn und die Definition von Arbeit zu überdenken – mit dem Ziel, Leistung, Lernen und Freude zu vereinen. Das inspiriert auch den ehemaligen Rennfahrer Sir John Whitmore, der das Programm “Inner Game” 1979 nach England und somit nach Europa holt.

Coaching Culture als Erfolgsstrategie

In der von Coaching geprägten Arbeitsatmosphäre soll jede:r Mitarbeiter:in den Raum bekommen, sich zu entwickeln. Das Handeln ändert sich dadurch genauso wie die Art und Weise, über sich, seine Kolleg:innen und das Unternehmen zu denken. Bild: Christina Morillo

Business-Coaching steckt Anfang der 1980er noch in den Kinderschuhen, als Firmen sich nun auf eine andere Art und Weise mit Erfolg auseinandersetzen. Schon jetzt lässt sich erkennen, wie bereichernd es ist, über einzelne Sessions hinauszugehen und eine richtige Coaching Culture im Unternehmen zu etablieren – eben weil sie sowohl auf organisatorischer als auch auf individueller Ebene wirkt. In dieser von Coaching geprägten Arbeitsatmosphäre soll jede:r Mitarbeiter:in den Raum bekommen, sich zu entwickeln. Das Handeln ändert sich dadurch genauso wie die Art und Weise, über sich, seine Kolleg:innen und das Unternehmen zu denken. Coaching hört aber nicht bei einem neuen Bewusstsein auf, es bedeutet auch eine aktive Form des Lernens, fördert Beziehungs- und Kommunikationsskills. 

Vor allem ist es eine strategische Entscheidung, die natürlich im Endeffekt die Firma voranbringen kann oder soll – durch das höhere Engagement, die gesteigerte Produktivität und bessere Leistung des Einzelnen. Schließlich sind alle auf der Suche nach dem entscheidenden Wettbewerbsvorteil auf dem Markt. Und so entsteht ein Beratungsbedarf, der den Weg für eine rasante Entwicklung dieser Dienstleistung freilegt. Aufgrund des Potenzials, das große Unternehmen zu dieser Zeit in einer beständigen Coaching Culture entdecken, wird der Job des Coaches durch die lukrative Bezahlung umso attraktiver. Mitten in der Ökonomisierung des Coachings will bald jeder ein Stück vom Kuchen abhaben. In den nächsten Jahrzehnten müssen Kund:innen den Durchblick behalten wer ihnen was warum verkaufen will. 

Weiterlesen Braucht heutzutage jeder einen Coach? – Das grenzenlose Coaching
Seite 1 | 2 | 3 | 4 | 5
Kompendium: Coaching Culture

Braucht heutzutage jeder einen Coach? – Das grenzenlose Coaching

Kompendium: Coaching Culture

Braucht heutzutage jeder einen Coach? – Das grenzenlose Coaching

Im Jahr 2023 boomt der Markt der Selbstoptimierung und Coachings sind gefragter denn je. Bild: Tirachard Kumtanom

Heute ist klar: Coaching ist gekommen, um zu bleiben. Während das Angebot weiter wächst und Unternehmen einen nachhaltigen Wert darin sehen, ist nicht alles Gold, was glänzt. Über Chancen und Herausforderungen.

Coaching ist heute omnipräsent. Sei es rund um Ernährung, Persönlichkeitsentwicklung, Sport, Mental Health, Finanzen oder Business – 2023 befinden wir uns irgendwo zwischen Hoffnung, Erfolgsaussichten, Overload und Überforderung. Trotzdem lässt sich zweifelsfrei sagen, dass der Markt der Selbstoptimierung, boomt. Diese Entwicklung wirft Fragen auf: Was macht das Coaching-Versprechen, dass wir alles sein und schaffen können, mit uns? Und wo hört der Spaß auf?

“Ein guter Coach hat die Aufgabe, die Grenzen des Coachings im Blick zu haben, sie aufzuzeigen und transparent damit zu sein, was Coaching kann, was es nicht kann und wo es vielleicht aufhört.” Das sagt mir Hila Latifi im Interview. Sie ist ​​Gründerin und Leiterin des SII (Systemisches Intersektionales Instituts), sie berät, begleitet und coacht zu Diversitäts- und Inklusionsprozessen. Darauf will ich im nächsten Kapitel eingehen, aber erst einmal ist es dieser simple Satz, der hängen bleibt. Denn eigentlich scheint heute ja alles rund ums Coaching grenzenlos zu sein. Sowohl die Möglichkeiten, die wir dadurch bekommen, als auch die Auswahl an entsprechenden Expert:innen. Ein Blick hinter die Fassade lohnt sich.

Coaching-Boom: Die Zahlen sprechen für sich

Dass es sich beim Coaching um einen Wachstumsmarkt handelt, verdeutlicht die aktuelle “Global Coaching Study” der International Coaching Federation (ICF). 2022 üben weltweit etwa 109.000 Menschen den Beruf des Coaches aus, allein in Westeuropa sind es 30.800. Das bedeutet einen Anstieg von 54 Prozent seit 2019. Im selben Jahr liegt der geschätzte Gesamtumsatz der Coaches bei 4,564 Milliarden US-Dollar (umgerechnet 4,15 Milliarden Euro). Auch der ist seit 2019 enorm gestiegen, nämlich um 60 Prozent. 

Loading

Hast du schon einmal Coaching ausprobiert?

Danke für's Abstimmen!
Du kannst nur einmal abstimmen.
Bitte wähle eine der Optionen.

Spannend ist auch, dass viele dieser Coaches unterschiedliche Tätigkeitsbereiche wie Beratung, Mediation und Mentoring ausüben. Doch das Coaching an sich macht in Deutschland laut einer Coaching-Marktanalyse (2022) mit 45,16 Prozent den Großteil ihrer Jahresarbeitszeit aus. Auch hier lässt sich im Vergleich zu den Vorjahren ein starker Sprung nach oben erkennen. Demnach wächst die Nachfrage nach diesem Service weiter. Aus dem Report geht ebenfalls hervor, dass die Themen “Analyse sowie Entwicklung des Potenzials”, “Persönlichkeitsentwicklung”, “Konfliktmanagement” und “Reflexion sowie Entwicklung der Führungsrolle” im Coaching am meisten bearbeitet werden. Und obwohl mittlerweile immer mehr Einzelpersonen (33,28 Prozent) auf Coaching zurückgreifen, sind es immer noch überwiegend Unternehmen (50,58 Prozent), die dafür bezahlen. 

Das Individuum will sich weiterentwickeln

Heute ist die Coaching Culture nicht nur in Konzernen, sondern auch in mittelständischen Firmen und Start-ups mehr oder weniger verwurzelt. Coaching selbst ist dabei ein strategisches Instrument der Personalentwicklung, mit dem fachliche, methodische, soziale und persönliche Kompetenzen der Mitarbeiter:innen systematisch gestärkt werden. Besonders ist, dass der Coach ihnen in der Regel keine Lösungen, sondern Unterstützung dabei liefert, ihre eigenen Lösungen zu finden. Dadurch können die Coachees berufliche Herausforderungen selbstorganisiert und besser bewältigen. Das kann für Firmen von hohem ökonomischem Wert und ein Vorteil im Wettbewerb sein. 

Im Vergleich zu vergangenen Jahrzehnten kommt nun ein entscheidender Faktor hinzu, welcher der Coaching Culture einen breiteren Rahmen gibt: Der fortschreitende Wertewandel, der sich innerhalb der Gesellschaft vollzieht, schwappt auf die Arbeitswelt über. Mitarbeiter:innen haben steigende Erwartungen und Forderungen an ihre Arbeitgeber:innen, was ihre individuelle Entfaltung, Entwicklung und Mitwirkung betrifft. Eine Coaching Culture ist daher nach wie vor Mittel zum Zweck, aber nicht mehr nur auf den kollektiven Erfolg des Unternehmens, sondern auch auf den individuellen Erfolg der Arbeitnehmer:innen ausgelegt. Innerhalb so einer Kultur hat ihre Zufriedenheit eine Priorität, weil dann mehr von ihnen erwartet werden kann. Dementsprechend ändert sich in der Führungsriege der Umgang mit Krisen, Konflikten, Druck und Spannungen. 

Heute ist die Coaching Culture nicht nur in Konzernen, sondern auch in mittelständischen Firmen und Start-ups mehr oder weniger verwurzelt. Coaching selbst ist dabei ein strategisches Instrument der Personalentwicklung. Besonders ist, dass der Coach ihnen in der Regel keine Lösungen, sondern Unterstützung dabei liefert, ihre eigenen Lösungen zu finden. Bild: fauxels

Das Ego muss sich erst einmal zurechtfinden

Diese Individualisierungstendenzen, der Drang nach Selbstverwirklichung und die Bedürfnisse des Einzelnen, die in den Mittelpunkt rücken, kommen dem Coaching-Markt sicherlich gelegen. Aber woher stammen diese Tendenzen überhaupt? So einen ausgeprägten Individualismus kann man als Kern des Neoliberalismus verstehen. Im neoliberalen Weltbild hat das Individuum nicht nur eine zentrale Rolle, sondern auch ein umfangreiches Anforderungsprofil. Es wird ständig herausgefordert. Man erwartet, dass es seine Freiheit voll auskostet und sich eigenständig in Märkte und Wettbewerbe einbringt. Es entsteht eine Konkurrenzgesellschaft mit einer “Lebe deinen Traum”-Mentalität, die nicht nur Möglichkeiten schafft, sondern auch Druck und Stress verursacht. Aber genau das spielt Coaches letztendlich in die Karten. Versprechungen wie “Kreiere das Leben, was du dir wünscht” und “Finde endlich Klarheit und Erfüllung” wirken wie Balsam für die Seele. Wir wollen ankommen, aber trotzdem immer weiterkommen – die perfekte Voraussetzung für Coaching. Mit der Kultur, die sich daraus entwickelt hat, kritisieren und zelebrieren wir unser Ego zugleich. Da müssen wir aufpassen, dass wir nicht in ein rastloses Suchen nach Optimierung geraten, das unsere Authentizität, Einzigartigkeit und Unvollkommenheit erschöpft. 

In unserem Zeitalter leben wir in einer sogenannten VUKA-Welt (Volatilität, Unsicherheit, Komplexität, Ambiguität), die als Synonym für die zunehmende Dynamik in digitalen Märkten steht. Der Begriff ist bereits in den 1990ern am United States Army War College im Militärkontext entstanden, wird aber heute im Bereich der Unternehmensführung verwendet. Jedenfalls liegen in dieser Welt Risiken und Chancen nah aneinander. Coaching verspricht genau das Empowerment, um in diesem Surrounding bestehen und herausstechen zu können. Das Growth-Mindset, also eine wachstumsorientierte Denkweise, ist fest verankert. Das ist gut, weil wir dadurch flexibler werden und Fehler machen dürfen, um wiederum daraus zu lernen und voranzukommen. Aber gleichzeitig spielt immer eine gewisse Unersättlichkeit mit. Die hat sich sicherlich auch im neoliberalen Kapitalismus entwickelt, weil diese Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung ständig neue Begierden schafft. Und dann wäre da noch die Schuld, die wir in einer durchökonomisierten Gesellschaft empfinden. Zum Beispiel, wenn wir scheitern und nicht mehr die Leistung oder äußere Einflüsse, sondern die eigene Person dafür verantwortlich machen. 

Was kann Coaching? Wir müssen Klartext sprechen

Ich muss wieder an die Worte von Hila Latifi denken, an die Grenzen, von denen sie sprach. Auch ich glaube daran, dass solche in der Welt des Coachings essentiell sind, um wirklich dessen volles Potenzial auszuschöpfen. Das fängt schon mal bei den Versprechungen an. Nein, Coaching kann nicht alles, es ist auch kein Wundermittel gegen alle Beschwerden und schon gar kein Therapieansatz. Klar, Coaches sollten psychologische Kenntnisse haben und sich soziologisch auskennen. Trotzdem kann ihr Service nicht “ganzheitlich” sein, da jede:r unterschiedliche Kompetenzen, Schwerpunkte und professionelle Backgrounds hat. Es gibt keine Alleskönner:innen. Das macht leider manchmal den Eindruck, weil der Begriff “Coach” nicht rechtlich geschützt ist und keine gesetzlichen Anforderungen mit sich bringt. Wer will, darf sich so nennen und arbeiten – auch ohne Ausbildung.

Coaching kann nicht alles: Zwar Coaches sollten psychologische Kenntnisse haben und sich soziologisch auskennen, doch ihr Service kann nicht “ganzheitlich” sein, da jede:r unterschiedliche Kompetenzen, Schwerpunkte und professionelle Backgrounds hat. Bild: Christina Morillo

Es gibt durchaus Menschen, die das ausnutzen. Wenn wir von Coaching Culture sprechen, sollten wir also auch von den Akteur:innen sprechen, die sie gestalten. Nun, was macht denn einen guten Coach aus? “Insbesondere seine Fähigkeit zur Selbstreflexion”, sagt Anne Waldow vom Deutschen Bundesverband Coaching e.V der “WirtschaftsWoche”. “Da es ein grundsätzliches Merkmal des professionellen Coachings ist, die Wahrnehmung und die selbstgesteuerte Verbesserung der Möglichkeiten des Klienten zu erweitern.” Die coachende Person hat sich zuvor selbst intensiv mit sich auseinandergesetzt, ist sich ihren Grenzen bewusst und demnach zu einem Perspektivenwechsel in der Lage.  

Die Verantwortung liegt aber auch bei uns als Kund:innen. In einer undurchsichtigen Branche, die noch mitten in der Professionalisierung steckt, müssen wir gründlich filtern. Während Expert:innen über eine Regulierung des Marktes diskutieren, sollten wir uns als Kund:innen wohl auch darüber Gedanken machen, wie wir uns in diesem Umfeld selbst regulieren. Ich meine, dass wir uns bewusst damit auseinandersetzen, nicht in eine Abhängigkeit der Optimierung zu geraten. Dann kann Coaching Culture gesund und effektiv sein. 

Weiterlesen Intersektionales Coaching – Eine Strategie für ein besseres Miteinander
Seite 1 | 2 | 3 | 4 | 5
Kompendium: Coaching Culture

Intersektionales Coaching – Eine Strategie für ein besseres Miteinander

Kompendium: Coaching Culture

Intersektionales Coaching – Eine Strategie für ein besseres Miteinander

"Diversität in Unternehmen bedeutet, bestimmte Räume zu öffnen und Strukturen zu verändern", sagt Hila Latifi, Leiterin des Systemischen Intersektionalen Instituts. Bild: Ricardo Bolaños González

In der nahen Zukunft ist es der Anspruch, näher zusammenzurücken und zueinander zu finden – auch durch das Coaching. Nur darf es nicht einfach gut gemeint sein. Nun erfordert es strukturelle Änderungen, um das neue Wir zu stärken.

Es war ein langer Weg hin zur Individualisierung, die sich sowohl auf gesellschaftlicher Ebene als auch in der Arbeitswelt zu einem der wichtigsten Veränderungsprozesse entwickelt hat. Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung sind zur Selbstverständlichkeit geworden. Das sind eigentlich gute Aussichten, auch für den Coaching-Markt, sofern das Ego in diesem Szenario des überoptimierten Individuums nicht überhandnimmt und die Bewegung in eine selbstausbeuterische Richtung lenkt. Da kommt eine neue Strömung genau richtig, die in den nächsten zehn Jahren das Verhältnis von Ich und Wir nicht nur in der Coaching Culture noch einmal neu definiert.

In diesem Szenario macht das autonome Ich Platz für die Verortung des Individuums in Gemeinschaften, während die kollaborative Wir-Kultur neu entdeckt wird. So heißt es im Zukunftsreport 2023 des Zukunftsinstituts. Da fällt der Fokus also wieder auf die Individualisierung, die uns als Einzelpersonen dazu bringt, furchtloser Forderungen zu stellen und mehr vom Gegenüber, speziell von den Arbeitgeber:innen zu erwarten. In der nahen Zukunft tun wir das auch oder vor allem für das Miteinander, wenn man nach aktuellen Trendthesen geht. Das Empowerment des Einzelnen war also nur der erste Schritt, künftig wird der Rahmen weiter gespannt. Für Coaches bedeutet das eine Strukturreform. 

Eine starke kollaborative Wir-Kultur geht nur divers, intersektional und inklusiv. Doch strukturell verankert sind diese Aspekte in Unternehmenskulturen nicht. Bild: Christina @ wocintechchat.com

Coaching Culture: Eine Momentaufnahme

Eine starke kollaborative Wir-Kultur geht nur divers, intersektional und inklusiv. Deswegen müssen wir an dieser Stelle kurz einhaken und nochmal ins Heute schauen. Da sprechen wir vielleicht mehr über Diversität und Intersektionalität, achten vermehrt darauf, aber strukturell verankert sind diese Aspekte in Unternehmenskulturen nicht. Und mal abgesehen davon wird bei den Debatten und Strategien nicht jede:r mitgedacht. „Wenn von Diversität die Rede ist, dann sind nicht selten weiße Frauen damit gemeint“, macht Hila Latifi, Leiterin des Sii – Systemisches Intersektionales Institut, deutlich. Aber Diversität bedeutet mehr als nur weiße Männer und Frauen – und es geht auch um mehr als nur Repräsentanz. „Deshalb ist das Diversity-Konzept meiner Meinung nach gescheitert, weil es darin die Machtkomponente nicht gibt“, fügt sie hinzu.

In ihrer Arbeit hat Hila Latifi schon häufig beobachtet, dass dieses Thema von der Führungsriege nur oberflächlich behandelt und nicht auf struktureller Ebene betrachtet wird. Nach dem Motto: Ein einmaliges Coaching wird schon reichen, um ein antidiskriminierendes Verhalten im Unternehmen zu etablieren. „Meiner Ansicht nach brauchen Teams aber Prozesse und viel Zeit für diese Themen. Da reicht es nicht, allein auf die individuelle Ebene zu schauen“, sagt Hila Latifi. „Die Chefpositionen hoffen, es ist damit getan, wenn die Mitarbeiter:innen einen sensibilisierten Umgang miteinander pflegen. Da fehlt mir die Einsicht darüber, dass Diskriminierung nicht allein im Umgang miteinander stattfindet, sondern auch fest in unseren Arbeitsstrukturen verankert sein kann. Diversität in Unternehmen bedeutet, bestimmte Räume zu öffnen und Strukturen zu verändern.“

In ihrer Arbeit hat Hila Latifi schon häufig beobachtet, dass Diversität von der Führungsriege nur oberflächlich behandelt und nicht auf struktureller Ebene betrachtet wird. Nach dem Motto: Ein einmaliges Coaching wird schon reichen, um ein antidiskriminierendes Verhalten im Unternehmen zu etablieren. „Meiner Ansicht nach brauchen Teams aber Prozesse und viel Zeit für diese Themen. Da reicht es nicht, allein auf die individuelle Ebene zu schauen“, sagt Hila Latifi. Bild: Sierra Koder

Damit setzt sich Hila Latifi intensiv auseinander. Sie ist unter anderem als systemischer Coach, Bildungsreferentin für Diversität und Antirassismus sowie als Empowerment-Trainerin tätig. Sie bietet schon jetzt an, was zukunftsweisend ist. Denn das SII setzt auf Angebote des Coachings, der Beratung und Weiterbildung, die das Wissen über Diskriminierungsformen, ihre historische Entwicklung und ihre Erscheinungsweisen bereits mit einbeziehen. In ihrer systemischen Arbeit, bei der es um eine ganzheitliche Betrachtung und um die Berücksichtigung von Werten geht, verwendet sie das Label „intersektional“ ganz bewusst. Mit der Hoffnung, Personen anzusprechen, denen es wichtig ist oder die zumindest ein Interesse haben, mehr darüber zu erfahren. „Intersektionalität sollte eine große Rolle in der Coaching Culture spielen“, findet sie. „Unsere Gesellschaft befindet sich in Veränderungsprozessen. Daraus folgt eine logische Konsequenz, in der wir nicht nur unsere Konzepte verändern und weiterentwickeln, sondern auch immer einen Blick auf uns selbst und unsere eigenen Verfechtungen im Blick nehmen und reflektieren.“

Unternehmen streben Veränderung an – aber warum?

In der nahen Zukunft werden Führungskräfte voraussichtlich dafür sorgen, dass mehr Raum für intersektionales und interkulturelles Coaching in Firmenkulturen geschaffen wird. Eine Art des Coachings, welche die unterschiedlichen Erfahrungen und Realitäten von Menschen anerkennt und Teil einer diskriminierungskritischen Haltung von Unternehmen wird. Aber ist diese Entwicklung wirklich realistisch? In ihrer persönlichen Prognose sieht Hila Latifi zwar die Akzeptanz für diese Themen, doch der Grund dafür ist fraglich. Solche Ansätze werden nämlich oft nicht unbedingt aus einer moralischen Überzeugung, sondern aufgrund ihrer kapitalistischen Verwendbarkeit und ihrer Lukrativität angenommen. 

„Am Ende profitieren Arbeitgeber:innen davon, dass ein Team möglichst gut arbeiten kann, dass es Räume gibt, die das Potenzial von verschiedenen Perspektiven einholen“, so die Expertin. Weiter sagt sie: „Es gibt ja diverse Studien dazu, die zeigen, wie wichtig es ist, dass möglichst viele Perspektiven an einem Projekt beteiligt sind. Je diverser das Projektteam, desto besser die Ergebnisse. Das ist eine Wissenschaft, der man gar nicht widersprechen kann.“ Und genau dieser Punkt sei für Unternehmen eine Motivation, künftig Veränderung herbeizurufen. Aber: „Das bedeutet nicht, dass Unternehmen sich auf allen Ebenen diversifizieren werden. Die Machtverhältnisse werden überwiegend erhalten bleiben. Aber ich glaube schon, dass in den Positionen nach unten noch viel Entwicklungspotenzial da ist, was von Unternehmen gesehen wird.“

“Je diverser das Projektteam, desto besser die Ergebnisse. Das ist eine Wissenschaft, der man gar nicht widersprechen kann”, sagt Hila Latifi. Bild: Christina @ wocintechchat.com

Die steigende Bedeutung der interkulturellen Kompetenz

Grund genug, sich die „Positionen nach unten“ genauer anzuschauen. Denn schließlich haben auch die Mitarbeiter:innen selbst Einfluss auf die Coaching Culture – und womöglich eine ganz andere Motivation. Da kommen wir wieder zurück zur kollaborativen Wir-Kultur und dem Platz, den das Individuum in ihr einnimmt. Es übernimmt eine verantwortende Rolle und erkennt, welchen Einfluss das eigene Handeln auf das große Ganze haben kann. Heißt in dem Fall, dass Arbeiter:innen die hohen Ansprüche, die sie an sich selbst haben, auch oder vor allem an die Arbeitgeber:innen haben. Der Pluralismus, der hier entsteht, fordert Haltung von der Wirtschaft und den einzelnen Unternehmen. Letztere werden nicht daran vorbeikommen, Verantwortung zu übernehmen und Werte zu zeigen – dann nicht mehr nur aus ökonomischen Gründen. So wird die Problemlösung zu einem strukturellen, gemeinsamen Anliegen. 

Dafür wird es flexible Coaches brauchen, die noch spezifischer und sensibilisierter arbeiten und verstehen, dass der Umgang mit ihren Klient:innen nicht nach vorhersehbaren Mustern verläuft. Sie erkennen die Komplexität und den inneren Konflikt der Individuen, bei denen Kulturen, Traditionen, Denkweisen, neue Werte, Selbstbestimmung und Einzigartigkeit miteinander kollidieren. Sie gestalten ihre Sessions je nach Erfahrungen, Herausforderungen und Lebensrealitäten ganz unterschiedlich. Aktuellen Schätzungen zufolge wird der Coaching-Bedarf auch in den nächsten Jahren wachsen, das Interesse nach standardisierten Methoden allerdings sinken. Sie können ja auch von einer KI gemacht werden und bilden kein nachhaltiges Geschäftsmodell mehr. Dafür wird interkulturelles Wissen ein wesentlicher Faktor. Vielleicht wird es sogar eine Voraussetzung für Coaches sein, die noch personenorientiertere und individuellere Anfragen erwarten müssen. Eine Coaching Culture bleibt demnach in Unternehmen künftig bestehen. Vielleicht ist sie nun sogar wichtiger als je zuvor. Weil es jetzt damit gilt, mehr als nur erfolgsorientiert zu denken. 

Weiterlesen Führt uns eine KI-gecoachte Welt zur Perfektion?
Seite 1 | 2 | 3 | 4 | 5
Kompendium: Coaching Culture

Führt uns eine KI-gecoachte Welt zur Perfektion?

Kompendium: Coaching Culture

Führt uns eine KI-gecoachte Welt zur Perfektion?

Bild: Googe Deepmind

Was, wenn Perfektion zum Greifen nah wäre? Würdet ihr nicht auch danach schnappen? Im Jahr 2059 ist der Drang nach Optimierung zur Abhängigkeit geworden. In diesem Coaching-Szenario könnte der Mensch das Wichtigste verlieren: sich selbst. 

Luna trommelt mit ihren Fingern sanft auf die Stuhllehne. Sie spürt, wie sich die Nervosität in ihrem Körper immer stärker bemerkbar macht. Das ärgert sie, schließlich war Stressmanagement in ihrem Coaching lange ein Thema. Sie müsste doch eigentlich viel souveräner sein. Egal, Konzentration. Gleich steht ein wichtiges Meeting mit einem potenziellen Kunden an. Als Sales Account Managerin einer Softwarefirma hofft sie auf einen Deal. Noch fünf Minuten. Kurz bevor es losgeht, checkt Luna ihre Smartwatch und entdeckt eine Nachricht von Marta: „Wofür bist du genau jetzt dankbar?“ Luna schmunzelt, atmet tief durch und kommt mit einem Lächeln im Moment an.

24/Maia: Hotter than Instagram

Marta ist kein Mensch, sondern eine KI. Genauer gesagt handelt es sich um einen Avatar der Coaching-App 24/Maia, die sich aus dem ChatGPT-Boom in den 2020ern entwickelt hat. Marta hat von den besten Coaches, Berater:innen, Philosoph:innen, Therapeut:innen und Soziologie:innen gelernt. Sie kann daher einen nachhaltigen Service anbieten. Das Hintergrundwissen hilft ihr, die Empfindungen, Probleme und Herausforderungen von Luna besser zu begreifen. Marta wurde hinsichtlich ihrer Stimme, ihres Auftretens und ihres Aussehens auf Lunas unbewusste Präferenzen für eine Mentor-Persona konfiguriert. Sie hat ein faltiges Gesicht, gräuliche, lange Haare und eine warme Ausstrahlung. Ähnlich wie Lunas verstorbene Tante. 

2059: Marta ist kein Mensch, sondern eine KI. Genauer gesagt handelt es sich um einen Avatar der Coaching-App 24/Maia, die sich aus dem ChatGPT-Boom in den 2020ern entwickelt hat. Bild: Dall-E

Es ist keine Übertreibung, dass die KI zu einer Vertrauten geworden ist, die jeden Tag ununterbrochen für Luna da ist – je nach Bedarf. Der ist groß, nicht nur bei Sales Account Managerin. So wie man 2023 ständig und automatisiert Instagram checkte, so tut man es 2059 mit seinem 24/Mai Avatar. 24/7 Coaching ist eine Selbstverständlichkeit geworden, eine Unverzichtbarkeit und für manche auch eine Sucht. Das kollektivistische Mindset der neuen Netzwerkgesellschaft hat die Menschen näher zusammen gebracht, aber auch vor Herausforderungen gestellt. Während die Vielfalt von Identitäten zwar als Chance wahrgenommen wird, erfordert das progressive Miteinander einen neuen Umgang untereinander. Man muss auf alles vorbereitet und dahin gecoacht sein, in der Interaktion und im Dialog problemlos funktionieren.

Im Widerspruch zur gemeinschaftsorientierten Gesellschaft steht die persönliche Identitätsfindung nicht. Sie hat nach wie vor eine große Bedeutung für Einzelpersonen, die sich stets mit der Wechselwirkung zwischen Individuum und Umwelt auseinandersetzen müssen und wollen. Der Anspruch ist hoch, an sich selbst, das Gegenüber und das Wir. Die Gesellschaft wird von einem neuen Streben nach Perfektionismus getrieben. Mit dem Unterschied, dass es jetzt wirklich realistisch sein soll, Perfektion zu erreichen. 24/Maia macht’s möglich. 

Wenn Perfektion der Antrieb ist

User:innen wie Luna sind überzeugt davon, sich nicht nur optimieren, sondern perfektionieren zu können und müssen. Dabei nehmen sie gar nicht wahr, dass sie eigentlich eine konstante Baustelle sind. Das ständige Hinterfragen hat eine kontinuierliche Unruhe zur Folge. Aber kein Problem, denn diese Zerrissenheit coacht Marta einfach wieder weg. In einer Endlosschleife des Coachings entwickeln die Coachees eine wahre Sucht, die die KI selbst nicht sehen und verstehen kann. Sonst würde sie Alarm schlagen. Aber Marta hat Luna jedenfalls ständig im Blick, misst mehrmals täglich ihre Körpertemperatur, checkt ihren Blutdruck und wertet sowieso ständig diverse Gesundheitswerte aus. Sie kann zu 98,7 Prozent errechnen, wann sich ihr Coachee bei ihr melden und in welchem Zusammenhang die Anfrage stehen wird. Dabei geht es mal um Berufliches, mal um Privates, Mental Health oder Sinnfragen. Doch an diesem Abend bahnt sich eine ungefragte Session an, welche die KI ohne Aufforderung selbst initiiert. An dieser Stelle wird es schwierig. Dass Coaching auch Grenzen, Leichtigkeit und eigenständige Selbstreflexion braucht, geht mit dem KI-Umschwung immer mehr verloren. Das macht sich auch an der Coaching Culture bemerkbar, die nun von einer gewissen Anstrengung erdrückt wird. Das Ich und Wir funktioniert zwar auf der Oberfläche einwandfrei, doch im Inneren herrscht eine ständige Anspannung. Genau das, was man mit vergangenen Coaching-Ansätzen doch auflockern wollte.

Es ist keine Übertreibung, dass die KI zu einer Vertrauten geworden ist, die jeden Tag ununterbrochen für Luna da ist – je nach Bedarf. Bild: Midjourney/Claudio Rimmele

Auch die Coaching-KI braucht Coaching

Nach ihrem Meeting zeichnet sich Lunas Enttäuschung deutlich auf ihrem Gesicht ab. Der Deal ist geplatzt – das Zwischenmenschliche hat einfach nicht gepasst. Autsch. Luna will jetzt nur schmollen, nicht reden. Ein Schaumbad soll helfen. Die Sales Account Managerin kommt zu Hause an, geht in ihr Badezimmer und macht im Vorbeigehen das Licht an. Marta erscheint ungebeten auf dem Spiegel über der Spüle, in dem sie lebensgroß projiziert wird. “Was war dein Ziel für den heutigen Tag? Was kannst du ändern, um es beim nächsten Mal zu erreichen?”, fragt die KI. Luna antwortet wie aus der Pistole geschossen, wenn auch mit leiser und einer weniger energischen Stimme. Sie hinterfragt zwar sich, aber nicht die Coaching-Session. Schließlich lebt sie in einer Zeit, in der nicht nur die Coachees, sondern auch die Coaches Erwartungen haben, die es zu erfüllen gilt. Marta wird schon am besten wissen, was Luna braucht. In früheren Jahrzehnten hatten Coachies ihre Klient:innen noch dahin geführt, das selbst für sich herauszufinden. 

Das schreit nach einem Upgrade. In einer KI-gecoachten Welt wird man nicht daran vorbeikommen, auch die KI coachen zu müssen. Aber von echten Menschen, die eine fundierte Coaching-Ausbildung haben und als Supervisor fungieren. Sie werden von renommierten Anbieter:innen angeheuert, die Daten, welche die virtuellen Coaches von ihren Klient:innen sammeln, zu analysieren und demnach ihre regelmäßigen Coaching-Sessions mit der KI zu gestalten. Dabei verfolgen sie stets das Ziel, dass eine gesunde Coaching Culture den Mensch immer noch Mensch sein lässt. Ein Hyper-Perfektionismus schließt sich damit selbst aus. 

Zum Anfang Sokrates, der erste Coach der Antike
Seite 1 | 2 | 3 | 4 | 5