Empowerment sieht im antiken Athen etwas anders aus als heute. Keine motivierenden Affirmationen, kein Zuspruch, der anspornen soll. Sokrates fragt einfach, hakt immer wieder bei seinen Gesprächspartner:innen nach. Zu einer Zeit, in der der Mensch in den Mittelpunkt rückt.
Sokrates (469 v. Chr. – 300 v. Chr.) ist einer der berühmtesten und wichtigsten Philosoph:innen der westlichen Geschichte – und Coach der ersten Stunde. Ja, tatsächlich hat er eine große Bedeutung im Business rund um die Selbstoptimierung und wird heutzutage von vielen Coaches in unterschiedlichsten Bereichen als Inspiration und Vorreiter angesehen. Um das zu verstehen, müssen wir nicht nur sein Schaffen, sondern auch die Zeit, in der er lebte, nachvollziehen. Eine Erkundung.
Sokrates schafft den Rahmen für die Coaching Culture
“Ich weiß, dass ich nicht weiß” ist wohl der legendärste Satz des Sokrates, der im vorchristlichen Athen als Sohn eines Steinmetzes und einer Amme auf die Welt kommt. Über seine Jugend ist nicht viel bekannt – man weiß aber durch Überlieferungen anderer, dass er eine umfassende Ausbildung erhält, unter anderem in den Bereichen Alphabetisierung, Literatur, Musik, Gymnastik, Geometrie und Astronomie. Zunächst arbeitet er als Steinmetz, dient dann aber als Fußsoldat im Peloponnesischen Krieg. Später zieht es ihn auf den belebten Marktplatz in Athen, wo der Denker von nun an den perfekten Ort für sein Wirken findet und Einfluss auf das gesellschaftliche Leben abseits der Institutionen ausübt.
Es ist noch früh am Morgen, um Sokrates herum tummeln sich immer mehr Menschen. Darunter sind Bürger:innen aller gesellschaftlichen Schichten, Männer und Frauen, die ihm zuhören, mit ihm sprechen und diskutieren, mit Begeisterung, Demut, Ablehnung oder Ärgernis reagieren. Vor und mit ihnen praktiziert Sokrates das, was uns heute als Mäeutik, sokratischer Dialog oder Hebammenkunst bekannt ist. Hebammenkunst, weil er sich hierfür von seiner Mutter inspirieren lässt. So wie sie den Frauen bei der Geburt ihrer Kinder hilft, so hilft er den Seelen bei der “Geburt” ihrer Einsichten. Aber wie kann man sich das vorstellen? Die zentrale Idee ist, das Gegenüber nicht zu lehren, belehren oder ihm Wissen einzutrichtern, sondern gezielte Fragen zu stellen, die zu einer Selbsterkenntnis führen. Die Kunst des Sokrates ist es also, das Wissen des Gesprächspartners immer weiter zu hinterfragen, bis er ins Zweifeln kommt und seine falschen Annahmen erkennt. Dieser Moment der Verwirrung, in dem man nicht weiterkommt, ist der entscheidende Part des sokratischen Dialogs, weil sich dann etwas bei der befragten Person ändert. Im Idealfall erkennt sie ihr Unwissen und beginnt, selbst eine Lösung für sich zu suchen. Und Sokrates leistet dafür die Vorarbeit.
Die Methode, die in Coaching-Kreisen noch heute aktuell ist, wird damals von manchen geschätzt und von anderen als merkwürdig wahrgenommen. Aus Gesprächen mit Athener Jungpolitikern entstehen deswegen sogar hitzige Wortgefechte. Viele Gesprächspartner lassen sich zwar auf Rededuelle ein, fühlen sich davon aber provoziert und erkennen nicht den Wert dahinter. Sokrates, der Unruhestifter? Schon irgendwie, aber eher ungewollt, denn ihm geht es im Kern nur darum, die Wahrheit zu finden. Er ist davon überzeugt, dass jeder Mensch diese selbst für sich erkennen könnte. Dafür braucht es aber einen Dialog. Deswegen sucht er immer wieder aktiv nach Gesprächen, in denen er sein Gegenüber dazu bringt, die eigenen Ansichten in Frage zu stellen. Das ist seine Mission.
Einmal volles Potenzial, bitte!
Im vorchristlichen Athen leben Sokrates und seine Mitbürger:innen in einer Demokratie. An dieser Stelle muss man erwähnen, dass daran damals nur freie Männer aktiv teilhaben dürfen. Sie bilden eine Gemeinschaft von Gleichen, die mittels Volksversammlungen über das Gemeinwohl beraten, bestimmen und sich an der Macht beteiligen. Während das bürgerliche Selbstbewusstsein wächst, herrscht in dieser politisierten Gesellschaft ein hoher Anspruch an den Einzelnen. Der Bürger wird als wichtiges Glied des Ganzen anerkannt. Er muss allerdings herausstechen, überzeugend im argumentativen Schlagabtausch sein und ein hohes Maß an Kenntnis sowie Urteilsvermögen erlangen, wenn er Erfolg haben und öffentliche Autorität gewinnen will.
Da kommt Sokrates ins Spiel, den das Orakel von Delphi einer Geschichte nach als den weisesten Mann in ganz Athen bezeichnet. Doch er ist nicht wie andere Philosophen, die ihr Wissen nur mit einem erlesenen Kreis teilen. Mit seinen bohrenden Fragen ist er Coach für alle, die möchten. Geld verlangt er nicht. Die Stütze, die er anderen sein kann, ist ihm Bezahlung genug. Mit geistiger Kraft zur Selbsterkenntnis zu kommen, pusht diejenigen, die sich darauf einlassen, enorm. Sie können ihr volles Potenzial ausschöpfen, von dem sie nicht einmal wussten, dass sie es hatten. Durch die Hebammenkunst erkennen sie erst ihre Unwissenheit, betrachten dann ihre Probleme auf neue Art und Weise, denken anders darüber nach, bilden sich eine eigene Meinung und ändern demnach ihr Handeln. Das ist Empowerment der sokratischen Art und ein wichtiger Baustein für die Demokratie. Unter der Jugend der Athener Elite findet die Arbeit von Sokrates großen Anklang, die sie als eine alternative Form politischen Handelns sehen. Hierbei steht immer im Vordergrund, dass sich der einzelne Mensch verbessert, denn nur dann könne Politik auch gut sein.
Das Coaching entwickelt sich mit der Individualisierung
Das Empowerment à la Sokrates fruchtet vor allem, weil das Selbst des Bürgers im antiken Athen besondere Aufmerksamkeit genießt. Auch beim berühmten Philosophen steht der Mensch im Mittelpunkt. Ein interessanter Fakt, denn dieses Szenario soll sich im Laufe der Geschichte noch zuspitzen, wenn Individualisierung zu einem zentralen Kulturprinzip in der westlichen Gesellschaft wird. Bedeutet das im Umkehrschluss, je weniger Kollektivismus, desto mehr Coaching? Und wie viel Platz für persönliches Glück bleibt eigentlich, wenn die Selbstoptimierung so gefragt ist, dass sie irgendwann zum Produkt des Kapitalismus wird? Diese Fragen sollen die Menschheit im Laufe der Zeit noch intensiv beschäftigen. Doch Sokrates, der erkannte schon damals die Verantwortung des Individuums für das Miteinander. Und so ist sein Zitat “Wer die Welt bewegen will, der sollte erst sich selbst bewegen” quasi ein Coaching-Ratschlag, den wir heute ganz genauso brauchen.