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Kompendium

Kann es eine Welt ohne Krieg und Gewalt geben, in der Menschen, unabhängig von Ethnie, Identität, Religion oder Ansichten friedlich zusammen leben? Einige Forscher:innen sagen: Friedliche Gesellschaften sind kein abstraktes Konzept – sie existier(t)en wirklich. Andere argumentieren, Krieg gehöre zum Wesen des Menschen einfach dazu. Aber stimmt das wirklich, oder kommt es darauf an, wie man Krieg und Frieden definiert? Und wie wird eine Gesellschaft in Zukunft friedlich? Wir haben einen Blick auf den Trend friedliche Gesellschaften geworfen.

Kompendium: Peaceful Societies

Friedliche Gesellschaften sind kein utopisches Zukunftskonzept – es gibt sie wirklich, und es hat sie immer gegeben. Doch um das zu verstehen, müssen wir zunächst die Ursprünge von Kriegen ergründen. Die Reise führt in das steinzeitliche Niltal. 

Kompendium: Peaceful Societies

Die Piaroa sind vielleicht das friedlichste Volk der Welt. Doch den Kern ihrer Mythologie bilden Kannibalismus und Rache. Wie passt das zusammen?

Kompendium: Peaceful Societies

In Europa herrscht seit 73 Jahren Frieden - damit prahlt die EU. Doch um wirklich ein gelungenes Friedensprojekt zu werden, müssen patriarchalische Strukturen in der EU überwunden werden und einem feministischen Frieden weichen. 

Kompendium: Peaceful Societies

Während sich die EU mit 73 Jahren Frieden brüstet, wüten auf dem afrikanischen Kontinent mehrere Konfliktherde. Immer wieder interveniert Europa – meist erfolglos, und wie der deutsche Afrofluencer Stève Hiobi sagt, nicht aufrichtig. Denn im Mittelpunkt steht meist die Gier nach Ressourcen. Für eine friedliche Zukunft müssen wir in Europa unser Konzept von Frieden erst einmal dekolonialisieren.

Kompendium: Peaceful Societies

Wir schreiben das Jahr 2123. Nachdem in Europa infolge der Klimakatastrophe ein erbitterter Krieg um Ressourcen ausgebrochen war, sah sich der kleine Kontinent dazu gezwungen, enger mit anderen Staaten zu kooperieren, um seine Existenz zu sichern. Aus Europa wurde so Eutopia, ein Ort, der ohne Gewalt auskommt – zumindest in der realen Welt.

Kompendium: Peaceful Societies

Ist Krieg Teil der menschlichen Natur?

Kompendium: Peaceful Societies

Ist Krieg Teil der menschlichen Natur?

Gehört Krieg einfach zur menschlichen Natur dazu? Bild: "Apotheose des Krieges" von Vasily Vereshchagin, 1871, public domain.

Friedliche Gesellschaften sind kein utopisches Zukunftskonzept – es gibt sie wirklich, und es hat sie immer gegeben. Doch um das zu verstehen, müssen wir zunächst die Ursprünge von Kriegen ergründen. Die Reise führt in das steinzeitliche Niltal. 

Wasser, so weit das Auge reicht: Der Nassersee, 1964 beim Bau des Assuan-Staudamms von der Regierung geflutet, erstreckt sich über eine Länge von 500 km, von Ägypten bis in den Sudan. Lange bevor dieser Stausee das Niltal unter sich verschwinden ließ, dachte man hier archäologische Hinweise auf den vielleicht ersten Krieg in der Geschichte der Menschheit gefunden zu haben: Das Gräberfeld Jebel Sahaba. 

1964 entdeckte ein Team von Archäolog:innen beim Bau des Staudamms im Niltal zufällig die Überreste von 61 Menschen. Bild: Wendorf Archive, British Museum, mit freundlicher Genehmigung von Isabelle Crevecoeur.

Ein Team von Archäolog:innen entdeckte hier beim Bau des Staudamms zufällig die Überreste von 61 Menschen. Die mindestens dreizehntausend Jahre alten Skelette – Frauen, Kinder und Männer – erzählen Geschichten von Traumata, Verletzungen und Gewalt: Ihre Körper wurden mit Speeren, Pfeilen und anderen spitzen Objekten verletzt. Ihren Gräbern lagen Steinspitzen und scharfe Klingen bei.

War es Krieg? 

Lange galt der Fund von Jebel Sahaba als der erste archäologische Beweis für prähistorische Kriegsführung unter nomadischen Jäger- und Sammlergesellschaften. Er wurde zum gefundenen Fressen für Pessimist:innen, die der Überzeugung sind, Krieg habe es schon immer gegeben. Doch 2021 nahmen Forscher:innen den Fund erneut unter die Lupe und kamen zu dem Ergebnis, dass es sich bei den gewaltvollen Geschehnissen nicht um einen Krieg, sondern eher um eine Serie von unorganisierten, sporadischen zwischenmenschlichen Konflikten gehandelt haben muss. Denn Krieg, so die Forscher:innen, ist ein organisiertes, singuläres und gewaltsames Ereignis von zwischenmenschlicher Auseinandersetzung. 

Laut dem Team um Archäologin Isabelle Crevecoeur sind die 61 Menschen von Jebel Sahaba zwar gewaltsam, jedoch nicht in einem einzelnen, organisierten Krieg ums Leben gekommen. Denn viele der zugefügten Verletzungen waren zum Zeitpunkt des Todes schon verheilt. Das lasse eher auf vereinzelte Hinterhalte und Überfälle als auf einen organisierten Krieg schließen. 

2021 nahm das Forscher:innenteam um Marie-Hélène Dias-Meirinho (links) und Isabelle Crevecoeur (rechts) den Fund von Jebel Sahaba erneut unter die Lupe unter kam zu dem Ergebnis, dass es sich bei den gewaltvollen Geschehnissen nicht um einen Krieg, sondern eher um eine Serie von kleineren, sporadischen zwischenmenschlichen Konflikten gehandelt haben muss. Bild: Marie-Hélène Dias-Meirinho, mit freundlicher Genehmigung von Isabelle Crevecoeur.

Wäre es ein organisierter Krieg gewesen, so die Forscher:innen, müssten die Menschen bei einem einzigen Kampf oder Massaker ums Leben gekommen sein. Auch die Anzahl der jungen, kampffähigen Männer müsste überwiegen. Da beides nicht der Fall ist, gehen die Forscher:innen davon aus, dass Jebel Sahaba zwar ein Zeugnis zwischenmenschlicher Gewalt, nicht aber Zeugnis eines organisierten, prähistorischen Krieges ist. 

Auslöser: Klimawandel und Ressourcenknappheit

Stattdessen vermuten die Forscher:innen, dass die Konflikte auf das Klima zurückzuführen sein könnten: „Der Klimawandel war höchstwahrscheinlich ein Auslöser für gewaltvolle Ressourcenkämpfe“, heißt es in der Studie. Denn während der letzten Eiszeit veränderte sich das Klima so stark, dass Ressourcen immer knapper wurden und es so zu gewaltsamen Überfällen zwischen den überlebenden Gruppen gekommen sein könnte. Kleine Jäger-Fischer-Sammler-Gruppen, die die extreme Dürre und Trockenheit überlebten, gerieten durch das Klima in lebensbedrohliche Konkurrenzverhältnisse – ein Szenario, das im Laufe der Geschichte häufiger zum Kriegsmotiv wurde.

Wenn das Team um Isabelle Crevecoeur recht hat und es sich bei dem Fund von Jebel Sahaba nicht um den ersten prähistorischen Krieg handelt, würde das bedeuten, dass Kriege wohl doch erst später entstanden – etwa als Menschen vor etwa zehntausend Jahren sesshaft wurden und begannen, ihr Hab und Gut zu verteidigen. Davon geht der Friedensforscher Douglas Fry schon lange aus und fechtet dabei die Hobbes’sche These an, dass Krieg einfach Teil der menschlichen Natur sei. 

Die Forscher:innen vermuten, dass die Konflikte auf das Klima zurückzuführen sein könnten. Denn während der letzten Eiszeit veränderte sich das Klima so stark, dass Ressourcen immer knapper wurden und es so zu gewaltsamen Überfällen zwischen den überlebenden Gruppen gekommen sein könnte. Bild: Mauricio Antón, 2008 Public Library of Science.

Ein Krieg aller gegen alle?

Der berühmte britische Philosoph Thomas Hobbes stellte 1651 den Grundsatz auf, dass der Mensch von Natur aus böse sei und überwiegend nach seinem eigenen Vorteil, der Erhaltung seiner Existenz und dem Besitz möglichst vieler materieller Güter strebe. Daher herrscht laut Hobbes im Naturzustand ein Krieg aller gegen alle.

Friedensforscher und Anthropologe Douglas Fry hingegen ist sich sicher: „Menschen sind nicht von Natur aus kriegerisch.“ Das sei alleine schon dadurch belegt, dass es Kriege eben nicht immer gegeben habe, wie so oft behauptet. Die Auffassung, Krieg sei natürlich und unvermeidbar, sei viel mehr ein über Jahrhunderte im westlichen Denken verfestigtes Narrativ, das durch Denker wie Thomas Hobbes, Sigmund Freud oder William James geprägt wurde. 

Glaubt man dem britischen Philosophen Thomas Hobbes, ist die Natur des Menschen böse und muss gebändigt werden. Diese These stellte Hobbes 1651 in seinem staatstheoretischen Werk Leviathan auf. Auf dem Titelbild ist ein absolutistischer Herrscher zu sehen, der über sein Volk herrscht. Sein Körper besteht aus den Menschen, die in den Gesellschaftsvertrag eingewilligt haben. Bild: Thomas Hobbes, Leviathan, public domain.

Krieg ist eine relativ junge Entwicklung

Tatsächlich finden sich die ersten archäologischen Beweise für Kriege erst in den letzten zehntausend Jahren. Laut Anthropologen wie Fry und Raymond C. Kelly entwickelten sie sich an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten als Folge von Klimawandel, Ressourcenknappheit und ansteigender Bevölkerungsdichte. Demnach geht die Entwicklung von Kriegen Hand in Hand mit der ebenfalls vor etwa zehntausend Jahren stattfindenden landwirtschaftlichen Revolution, in der Menschen erstmals sesshaft wurden, und der Entwicklung von Zivilisationen vor etwa sechstausend Jahren. Mit der Sesshaftigkeit und der Ausbreitung von urbanen Netzwerken folgten also auch die territoriale Ausdehnung und die Notwendigkeit, das eigene Land, Hab und Gut zu verteidigen. 

Wann genau der erste Krieg der Menschheitsgeschichte tatsächlich stattfand, wissen wir nicht. Denn die dafür notwendigen eindeutigen archäologischen Beweise sind noch nicht gefunden worden. Ein frühes Beispiel eines archäologisch belegten Kriegs ist jedoch der Angriff auf San José Mogote, eine archäologische Stätte im heutigen Oaxaca, wo sich einst ein Zentrum der Zapotekischen Zivilisation befand. Vor etwa dreitausend Jahren entwickelten sich dort drei verschiedene Zentren, die einander bekriegten. Dabei wurde ein Großteil der Bevölkerung von San José Mogote, dem damals bevölkerungsreichsten Ort der Region, ausgelöscht. Überlebende siedelten nach Monte Albán über – später die Hauptstadt des Zapotekischen Staates —, wo Mauern und Festungen darauf hindeuten, dass die Stadt als Antwort auf eine militärische Bedrohung errichtet wurde. 

Millionen von Jahren herrschte Frieden

Groß angelegte, organisierte Kriege gibt es also noch nicht so lange. Tatsächlich gilt die Altsteinzeit (2,5 Millionen Jahre v. Chr. bis 10.000 v. Chr.) sogar als „eine Zeit des universellen Friedens“, schreibt der Anthropologe Raymond C. Kelly. Doch während nomadische Gruppen eher egalitäre soziale Strukturen mit flachen Hierarchien pflegten, entwickelten sich mit der Sesshaftigkeit und der Zivilisierung komplexere soziopolitische Realitäten, die einer Gemeinschaft in Anbetracht von Ressourcenknappheit gewisse Führungskompetenzen und Hierarchien abverlangten. 

Der Angriff auf San José Mogote im heutigen Oaxaca ist ein frühes Beispiel eines archäologisch belegten Krieges. Überlebende siedelten nach Monte Albán über, wo bis zu neun Meter hohe Mauern und Festungen darauf hindeuten, dass die Stadt als Antwort auf eine militärische Bedrohung errichtet wurde. Bild: Public Domain.

Kelly fasst zusammen: „Kriegsführung ist kein endemischer Zustand der menschlichen Existenz, sondern eine episodische Eigenschaft der Menschheitsgeschichte, die zu manchen Zeiten an manchen Orten beobachtet werden kann.“ Und wenn Krieg eben nicht immer zur Menschheitsgeschichte – und damit zur menschlichen Natur – dazu gehört hat, lohnt es sich umso mehr, einen Blick auf solche Gesellschaften zu werfen, die ganz oder fast ganz ohne Kriegsführung auskommen. In seiner Forschungsarbeit listet Fry ganze 74 sogenannte Peaceful Societies auf, also Völker, die keinen oder kaum Krieg führen. Im nächsten Kapitel widmen wir uns einem dieser Völker und der Frage, was Frieden für sie bedeutet. Denn letztlich richtet sich die Definition einer friedlichen Gesellschaft auch nach ihrer Definition von Krieg, Gewalt(freiheit) und Frieden. 

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Kompendium: Peaceful Societies

Frieden durch spirituellen Terror: Die Geschichte eines friedlichen Amazonas-Volkes

Kompendium: Peaceful Societies

Frieden durch spirituellen Terror: Die Geschichte eines friedlichen Amazonas-Volkes

Laut der Anthropologin Joana Overing ist Piaroaland ein Raum, „wo Kinder, Teenager und Erwachsene ihre Wut nie physisch ausdrücken, Kinder nie physisch gemaßregelt werden und Partner:innen niemals geschlagen werden“. Bild: Ronny Velâsquez und Nilo Ortiz, Copyleft license. Bild: Ronny Velâsquez und Nilo Ortiz, Copyleft license

Die Piaroa sind vielleicht das friedlichste Volk der Welt. Doch den Kern ihrer Mythologie bilden Kannibalismus und Rache. Wie passt das zusammen?

Im venezolanischen und kolumbianischen Amazonas verteilt lebt das indigene Volk der Piaroa in Frieden. Physische Gewalt und Kriege haben in ihrer Gemeinschaft keinen Platz. Friedensforscher Douglas Fry listet sie in seinem Buch als eines von 74 “friedlichen Völkern” auf, die fast gänzlich ohne Gewalt auskommen – je nachdem, wie man Gewalt(freiheit) definiert. 

Die Piaroa sind anarchistisch, egalitär und dezentral organisiert. Ihre soziale Ordnung kommt ohne physische Gewalt, Zwang, Konkurrenz und hierarchische Strukturen aus. Bis zum ersten Kontakt mit christlichen Missionaren im 18. Jahrhundert lebten die Piaroa frei von westlichen Einflüssen. Noch heute ist ihre Bevölkerung von ungefähr 14.500 Menschen auf mehrere selbstverwaltete Dörfer im Amazonas auf einer Fläche so groß wie Belgien verteilt. 

Eine Gesellschaft frei von Zwängen, Besitzansprüchen und physischer Gewalt 

Laut der Anthropologin Joana Overing, die die Piaroa ihr Leben lang studiert hat, ist Piaroaland ein Raum, „wo Kinder, Teenager und Erwachsene ihre Wut nie physisch ausdrücken, Kinder nie physisch gemaßregelt werden und Partner:innen niemals geschlagen werden“. 

Die Bevölkerung der Piaroa von ungefähr 14.500 Menschen ist noch heute auf mehrere selbstverwaltete Dörfer im Amazonas auf einer Fläche so groß wie Belgien verteilt. Bild: CIA world factbook, public domain.

Statt Gewalt predigen die Piaroa Mäßigung, Autonomie und Gleichberechtigung als Eigenschaften, die den Frieden bewahren. Zwang als soziale und politische Kraft haben sie aus ihrer Gesellschaftsordnung grundsätzlich verbannt: Niemand muss sich dem Willen anderer unterwerfen, nicht mal dem des ruwang, dem spirituellen Oberhaupt. Genauso darf niemand Ressourcen besitzen oder als die eigenen beanspruchen: Ein Piaroa kann nur das besitzen, das er oder sie selbst produziert, nicht aber das Land, auf dem die Ressourcen produziert werden. Ist das friedvolle Leben der Piaroa also Sinnbild eines Paradieses im Amazonas?

Magische Morde: Der Mythos von Gewalt

Hinter der egalitären sozialen Ordnung und dem gewaltfreien Lebensstil verbirgt sich ein kompliziertes Geflecht von Mythen und Traditionen, die das friedliche Gleichgewicht aufrechterhalten. Im Kern dieser Mythologie sind Rache und Kannibalismus. Denn für die Piaroa ist jeder Tod – egal ob natürlich oder nicht – immer ein durch Magie verursachter Mord, und Sterben ein Prozess des Gefressenwerdens. 

Wenn ein Piaroa stirbt – also ermordet bzw. gefressen wird – führt die Familie des Verstorbenen mithilfe des ruwang ein kompliziertes Ritual durch, das die Täter:innen bestraft und den Verstorbenen rächt. Joana Overing beschreibt dieses Ritual unter dem Begriff „Piaroa Bombe“.

Die Piaroa Bombe: Ein Ritual der Rache 

Um die Piaroa Bombe durchzuführen, bergen die Familienmitglieder den Zeigefinger, die Haut der Unterseite des rechten Fußes, Finger- und Zehennägel sowie Zähne des Ermordeten und bringen diese dem ruwang, der sich mit der Familie zusammenfindet. Auf dem Boden liegen scharfe Messer, Äxte, Macheten und alle möglichen Objekte, mit denen man jemanden umbringen könnte. Doch diese Objekte kommen nie zum Einsatz – zumindest nicht in der physischen Realität. 

Der ruwang bereitet anschließend mehrere Pakete mit den geborgenen menschlichen Überbleibseln und giftigen Substanzen vor. Während des Prozesses sind alle Anwesenden extrem vorsichtig, die Pakete nicht zu berühren – so tödlich sind die Gemische. Zwei Tage lang besingt der ruwang im Beisein der Familie die Pakete und erweckt so die Anakonda – die Piaroa Gottheit, in der die zerstörerische Kraft schlummert. 

Die Piaroa haben eine andere Definition von Gewalt als wir. Doch im Herzen der gewaltfreien Ideologie ist nicht nur guter Wille. Bild: Crevaux J. y E. Lejanne. 1882. A travers la Nouvelle-Grenade et le Vénézuéla. Le Tour du Monde 43, No. 1114: 289-304., Public domain, via Wikimedia Commons

Je mehr Pakete der ruwang packt, desto größer ist die Zerstörung. Die Pakete werden abschließend in Hohlräumen von Baumstämmen platziert und angezündet. Vom Wind getragen, gelangt der Rauch und mit ihm die Anakonda in das Dorf des Mörders, wo es zunächst seinen Körper und dann die aller anderen Dorfbewohner:innen frisst. Sobald der letzte brennende Baum in dem sich rächenden Dorf gefallen ist, wird das befeindete Dorf mit einem Erdbeben endgültig ausgelöscht.

Ein apokalyptisches Rache-Szenario, bei dem ein ganzes Dorf für den Tod einer einzigen Person büßen muss – das klingt nicht gerade friedlich. Wie real die Konsequenzen der Rache-Zeremonien wirklich sind, ist unklar. Doch ihre gefährlichen Zeremonien haben den Piaroa einen gefürchteten Ruf beschert.

Einen Mord mit den eigenen Händen zu begehen, wäre für eine:n Piaroa undenkbar. Denn das wäre ein kannibalistischer Akt, der sofort zum eigenen Tod durch suripu führen würde – eine Krankheit, bei der sich Magen und Innereien mit dem Gefressenen füllen und der Tod bei der nächsten Darmentleerung eintritt. 

Eine andere Definition von Gewalt

Im Herzen der sowohl gewaltvollen als auch gewaltfreien Ideologie ist nicht nur guter Wille, sondern auch Bedrohung. Schließlich würde ein:e Piaroa beim Einsatz von physischer Gewalt selbst umgehend sterben. Diese symbolische Bedrohung ist für die Piaroa real und dient somit auch der Einschränkung physischer Gewalt. Und das scheint zu funktionieren. Denn obwohl Konzepte wie Rache, Kannibalismus, Gewalt und Mord den Kern der Piaroa Mythologie und politischen Philosophie bilden, so leben die Bewohner:innen des Orinoco Flusses trotzdem ein friedliches Leben ohne physische Gewalt und ohne Kriege. 

Statt Gewalt als Teil des Menschen zu leugnen, fokussieren die Piaroa sich darauf, die Ursachen und Auslöser von Gewalt einzuschränken – durch eine egalitäre Gesellschaftsordnung und symbolische Bedrohungen, die durch die Mythologie real werden. Gewalttätig sind sie trotzdem, aber eben nur auf einer mythologischen Ebene. 

Symbolische Bedrohungen, die die Gewaltbereitschaft einschränken und eine egalitäre Gesellschaftsordnung – sind das also die Komponenten eines anhaltenden Friedens? So sehr dauerhafte Friedenskonzepte auch gewollt werden, ist ihre Umsetzung alles andere als einfach. Gerade gegenwärtige Gesellschaftssysteme und -ordnungen vergessen beim Streben nach Frieden oftmals, diverse Interessen zu berücksichtigen. 

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Kompendium: Peaceful Societies

Feministische Außenpolitik: Wie die EU ein gelungenes Friedensprojekt werden kann

Kompendium: Peaceful Societies

Feministische Außenpolitik: Wie die EU ein gelungenes Friedensprojekt werden kann

„Aus feministischer Perspektive bedeutet Frieden nicht ausschließlich die Abwesenheit von Konflikt oder Krieg, sondern der Zustand, in dem alle Menschen Sicherheit genießen können“, sagt Kristina Lunz, Feministin und Mitbegründerin des Centre for Feminist Foreign Policy (CFFP). Bild: Sapna Richter, CFFP Berlin.

In Europa herrscht seit 73 Jahren Frieden – damit prahlt die Europäische Union. Doch um wirklich ein gelungenes Friedensprojekt zu werden, müssen patriarchalische Strukturen in der EU überwunden werden und einem feministischen Frieden weichen. 

Fast immer herrscht gerade irgendwo Krieg. Zumindest, seitdem die Menschheit sesshaft geworden ist, Zivilisationen, Königreiche und Staaten hervorgebracht hat und vor allem, seit Europa weite Teile der Welt unter ihre Kontrolle gebracht hat. Wirft man einen Blick auf die Karte des holländischen Datenprojekts Nodegoat, das versucht, alle Kriege der Menschheitsgeschichte zu visualisieren, wird schnell klar: Keine Region hat so viel Blut an den Händen wie Europa.  

Und trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – herrscht nach 2500 Jahren und weltweit Hunderten von Kriegen in Europa Frieden. Ausgerechnet hier, wo das Patriarchat, Kolonialismus, Faschismus und Nationalismus ihre Wurzeln haben, wo der kollektive Wohlstand in eben diesen Verbrechen seinen Ursprung hat.

Wirft man einen Blick auf die Karte des holländischen Datenprojekts Nodegoat, das versucht, alle Kriege der Menschheitsgeschichte zu visualisieren, wird schnell klar: Keine Region hat so viel Blut an den Händen wie Europa. Bild: Screenshot Nodegoat, battles.nodegoat.net

Frieden ist nicht nur die Abwesenheit von Kriegen

„Europa bedeutet Frieden“, so drückte es Jean-Claude Juncker 2016 im Europäischen Parlament aus. Folgt man dem ehemaligen Präsidenten der Europäischen Kommission, dann ist es „kein Zufall, dass die längste Zeit des Friedens in der Geschichtsschreibung Europas mit der Entstehung der europäischen Gemeinschaft begann“.

Juncker hat recht: In den EU-Mitgliedsstaaten herrscht seit 73 Jahren Frieden – zumindest, wenn man von einer negativen Friedensdefinition ausgeht. Der Politologe Paul Diehl definiert negativen Frieden als die Abwesenheit von Krieg, ein rein passives Konzept. Nach dieser Definition wäre beispielsweise das Verhältnis zwischen Süd- und Nordkorea „friedlich“, da es seit 1953 keinen Krieg gegeben hat. Und der Kalte Krieg wäre auch gar kein Krieg gewesen, da es nie zu einer militärischen Auseinandersetzung gekommen ist. 

Doch ganz so einfach ist es nicht. „Aus feministischer Perspektive bedeutet Frieden nicht ausschließlich die Abwesenheit von Konflikt oder Krieg, sondern der Zustand, in dem alle Menschen Sicherheit genießen können“, sagt Kristina Lunz, Feministin und Mitbegründerin des Centre for Feminist Foreign Policy (CFFP). „Menschliche Sicherheit bedeutet, ein Dach überm Kopf zu haben, Zugang zu Gesundheitssystemen und Bildung, sowie die Unversehrtheit des Körpers. Aber dieser Zustand ist eben nicht für alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen erreichbar“, so Lunz.

„Europa bedeutet Frieden“, so drückte es Jean-Claude Juncker 2016 im Europäischen Parlament aus. Bild: Andrej Klizan, public domain (CC0 1.0)

Wirtschaftliche Zusammenarbeit statt Krieg

Ginge es nach Juncker, begannen die „über 70 Jahre Frieden in Europa“ am 9. Mai 1950, als der französische Außenminister Robert Schuman erstmals die europäische Idee formulierte. An diesem Tag, den wir heute als „Europatag“ feiern, schlug Schuman vor, die Kohle- und Stahlindustrie westeuropäischer Länder zu vereinen. Durch die gegenseitige Abhängigkeit wollte Schuman einen erneuten Krieg zwischen den Erzrivalen Deutschland und Frankreich „nicht nur undenkbar, sondern materiell unmöglich“ machen. Zeitgleich führte Frankreich übrigens einen blutigen Kolonialkrieg in Indochina. 

Auf der Grundlage von Schumans Plan entstand am 18. April 1951 die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl mit den Gründungsmitgliedern Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und den Niederlanden. Sechs Jahre später weiteten die sechs Gründungsstaaten ihre Kooperation aus, indem sie die Europäische Atomgemeinschaft (Euroatom) und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) gründeten – zur selben Zeit, als Frankreich in Nordafrika und dem Pazifik Atomwaffen testete.

Wenig später teilte der eiserne Vorhang nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa. Erst nach dem Mauerfall materialisierte sich die Idee der Europäischen Union, wie wir sie heute kennen. 1992 beschlossen die Gründungsmitglieder, einen gemeinsamen Rahmen für einen Binnenmarkt, eine Außen- und Sicherheitspolitik und eine Währung zu formulieren. Mit der Unterzeichnung des Maastrichter Vertrags stand der Gründung der EU am 1. Januar 1993 nun nichts mehr im Weg. 

Friedensprojekt EU: Ein gelungenes Modell?

In den Folgejahren wurde die EU zum Modellprojekt für Frieden durch Zusammenarbeit und wuchs über ihre Gründungsidee, einfach nur Krieg in Europa zu verhindern, hinaus: Sie entwickelte sich zu einer überstaatlichen, politischen Institution mit 27 Mitgliedsstaaten, die gemeinsam Entscheidungen treffen. 
2012 erhielt die EU „für die Verbreitung von Frieden, Versöhnung, Demokratie und Menschenrechten“ sogar den Friedensnobelpreis. Die Entscheidung begründete das Nobelkomitee mit der „stabilisierenden Rolle der EU bei der Umwandlung Europas von einem Kontinent der Kriege zu einem Kontinent des Friedens.“ Das Friedensprojekt Europa wurde so zum Paradebeispiel dafür, wie auf einem Kontinent aus Krieg Frieden werden kann – ein Frieden, der wohlgemerkt aus rein strategischen Interessen geboren wurde.

Seit ihrer Gründung 1993 ist die EU zum Modell für Frieden durch Zusammenarbeit geworden. Ausgezeichnet mit dem Friedensnobelpreis wurde das Friedensprojekt Europa so zum Paradebeispiel dafür, wie auf einem Kontinent aus Krieg Frieden werden kann – obgleich dieser Frieden aus rein strategischen Interessen geboren wurde. Bild: Dušan Cvetanović (Pexels).

Denn was sind schon über 70 Jahre „Frieden“ gegen 500 Jahre Kolonialismus, Nationalismus und Faschismus? Sollten sich ein Kontinent, der für die Mehrheit aller Kriege in der Menschheitsgeschichte mitverantwortlich ist und sich über 80% der Landmasse kriegerisch unter den Nagel gerissen hat überhaupt mit 70 Jahren Frieden brüsten? Eigentlich müsste Europa sich noch eine Weile beweisen, ehe sie einen auf „Klassenbeste im Weltfrieden“ machen darf.

„Je mehr patriarchale Strukturen, desto wahrscheinlicher sind Kriege und Konflikte“

Krisen wie der Brexit, die zunehmende innereuropäische Spaltung, politische Radikalisierung und Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine haben deutlich gemacht, dass der Frieden in Europa trotz starker Handelsbeziehungen kein gegebenes Gut ist, sondern in einem sich ständig wandelnden Umfeld erarbeitet werden muss. Das zeigt sich in all den offensichtlichen Widersprüchen des Friedensprojekts Europa.

Für Kristina Lunz kann es Frieden ohne Feminismus deshalb nicht geben. Denn solange patriarchale Strukturen strukturelle Gewalt fördern und Bevölkerungsgruppen unterdrücken, werden Krieg und Gewalt immer die Konsequenz sein – egal ob auf nationaler oder internationaler Ebene. Feminismus hingegen ist historisch die erfolgreichste soziale Bewegung hin zu mehr Gerechtigkeit. „Das Statement von Juncker ist eine wichtige Vision, aber in der Realität gibt es zu viele Baustellen, um von einem Zustand feministischen Friedens zu sprechen“, so Lunz. 

Laut Lunz ist besonders die Gleichberechtigung innerhalb einer Gesellschaft ein entscheidender Faktor für die Gewaltbereitschaft von Staaten, das sei durch empirische Studien belegt. „Die patriarchale Gewalt im Kleinen ist die Unterdrückung von Frauen, People of Color und der queeren Community. Und die Akzeptanz dieser Unterdrückung innerhalb patriarchaler Gesellschaften übersetzt sich direkt in staatliche Gewalt. Je mehr patriarchale Strukturen es gibt, desto wahrscheinlicher sind Kriege und Konflikte“, sagt Lunz im Gespräch mit Qiio. 

Kein Frieden ohne Feminismus: Solange patriarchale Strukturen strukturelle Gewalt fördern und Bevölkerungsgruppen unterdrücken, werden Krieg und Gewalt immer die Konsequenz sein – egal ob auf nationaler oder internationaler Ebene. Um ein gelungenes Friedensprojekt zu werden, muss die EU also einen feministischen friedenspolitischen Ansatz umsetzen. Bild: © European Union 2019/EP (CC-BY-4.0).

Der gescheiterte Frieden und wie er gerettet werden kann

Solange diese Strukturen nicht überwunden sind, könne man bei der EU nicht von einem „gelungenen“ Friedensprojekt sprechen. Am deutlichsten scheitert das Friedensprojekt EU überall dort, wo antidemokratische und inhumane Verhältnisse toleriert werden: am Mittelmeer, wo jährlich tausende Flüchtende dem Tod durch Ertrinken überlassen werden; in EU-Mitgliedsstaaten, in denen rechtspopulistische Parteien die demokratische Ordnung bedrohen; oder auch im Export von Waffen in Kriegsgebiete, an dem Deutschland sich beteiligt

Gleichzeitig wächst die Schere zwischen Arm und Reich sowie die Anzahl von internationalen Konflikten und fliehenden Menschen, und marginalisierte Bevölkerungsgruppen werden weiterhin unterdrückt. „Das sind politische Entscheidungen, die nicht viel mit Frieden zu tun haben“, so Lunz. 

Um ein gelungenes Friedensprojekt zu werden, muss die EU also einen feministischen friedenspolitischen Ansatz umsetzen. Im Kern dieses Ansatzes sind internationale Zusammenarbeit, Demilitarisierung und der Schutz von Menschenrechten. Erst, wenn patriarchale Strukturen durch feministische ersetzt worden sind, haben Junckers Statement und das Friedensprojekt EU Rückgrat.

Kristina Lunz ist Gründerin und Direktorin des Centre for Feminist Foreign Policy (CFFP) in Deutschland und stand 2019 auf der Forbes-Liste der 30 unter 30. Mit ihrer Organisation engagiert sie sich für mehr intersektionale Gender-Gerechtigkeit (nicht nur) in politischen Positionen. Mehr darüber, wieso eine feministische Außenpolitik die beste Antwort auf die größten Herausforderungen unserer Zeit ist, lest ihr auch in diesem Interview mit Lunz. 

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‘Ich bin, weil wir alle sind’ – was Europa von Afrikas Friedensideen lernen kann

Kompendium: Peaceful Societies

‘Ich bin, weil wir alle sind’ – was Europa von Afrikas Friedensideen lernen kann

"Frieden ist, wenn man sich in seiner Umgebung sicher fühlt. Wenn man selbst entscheiden kann, wo und wie man lebt, und dabei sicher und physisch unversehrt ist, dann lebt man in einem friedlichen Land", definiert der deutsche Afrofluencer Stève Hiobi. Bild: privat.

Während sich die EU mit 73 Jahren Frieden brüstet, wüten auf dem afrikanischen Kontinent mehrere Konfliktherde. Immer wieder interveniert Europa – meist erfolglos, und wie der deutsche Afrofluencer Stève Hiobi sagt, nicht aufrichtig. Denn im Mittelpunkt steht meist die Gier nach Ressourcen. Für eine friedliche Zukunft müssen wir in Europa unser Konzept von Frieden erst einmal dekolonialisieren. 

Stève Hiobi, wie würdest du Frieden definieren?

Das ist eine philosophische Frage. Frieden hat für mich ganz viel mit Sicherheit zu tun. Frieden ist, wenn man sich in seiner Umgebung sicher fühlt. Wenn man selbst entscheiden kann, wo und wie man lebt, und dabei sicher und physisch unversehrt ist, dann lebt man in einem friedlichen Land. 

In der Wissenschaft wird Frieden oft lediglich als die Abwesenheit von Krieg definiert. 

Das sehe ich nicht so. Man kann in einem Land leben, wo gerade kein Krieg herrscht und trotzdem nicht in Frieden leben. Zum Beispiel wegen Kriminalität, Korruption oder aus wirtschaftlicher Not. Das ist dann kein Krieg, aber eben auch kein Frieden. Genauso lebt man nicht in Frieden, wenn man nicht selbst entscheiden kann, das eigene Umfeld zu verlassen, oder wenn man sein Umfeld verlassen muss, obwohl man das gar nicht will. Einfach nur zu sagen, Frieden bedeutet die Abwesenheit von Krieg – das funktioniert meiner Meinung nach nicht. 

Ist Frieden in Afrika auch für Europa wichtig?

Frieden in Afrika ist erstmal wichtig für Afrika, ohne dass Europa irgendwelche Aktien da drin hat. Man kann diese Frage stellen, aber die Perspektiven dürfen dabei nicht verdreht werden. Auch bei allem, was zurzeit auf dem afrikanischen Kontinent passiert: In der Berichterstattung wird oft von den Auswirkungen auf Europa gesprochen, dabei ist doch viel wichtiger, welche Auswirkungen es für die Menschen hat, die dort leben. Für Europa ist Afrika trotzdem wichtig: Man denke zum Beispiel an die Themen Rohstoffhandel oder Migration. Die Stabilität Afrikas ist auch in Europas Interesse. 

Der afrikanische Kontinent gewinnt zurzeit immer mehr an Bedeutung. Die Wirtschaft und Bevölkerung keines anderen Kontinents wächst so schnell wie die Afrikas. Wird Afrika in Zukunft auch eine wichtigere Rolle im Konfliktmanagement einnehmen?

Gerade erst hat eine Delegation aus afrikanischen Ländern versucht, im Ukraine-Krieg zwischen Russland und der Ukraine zu vermitteln. Afrikanische Konfliktresolution sollte also jetzt schon wichtig sein, nicht nur in der Zukunft. Und afrikanische Länder sind krisenerprobt, deshalb ist es gut, wenn sie sich einmischen. Leider wurde mit der Delegation insgesamt eher abfällig umgegangen, so nach dem Motto: ‘Was haben die da mitzureden?’ Das fand ich nicht in Ordnung. Außerdem gab es einen Vorfall in Polen, bei dem der südafrikanische Präsident am Flughafen aufgehalten wurde und plötzlich einfach ohne Security dastand. Vorfälle dieser Art würden bei einer europäischen oder amerikanischen Delegation nie passieren. Ich kann verstehen, dass afrikanische Staaten mitreden wollen, weil sie einfach selbst stark von diesem Krieg betroffen sind. Auch sie haben ein Recht darauf, mitzudiskutieren und Forderungen zu äußern, damit der Krieg so schnell wie möglich beendet wird. Deshalb fand ich es nicht in Ordnung, wie die europäische Presse auf die afrikanische Friedensinitiative reagiert hat. 

Deutschland wiederum ist an mehreren “Friedensmissionen” in afrikanischen Ländern beteiligt. Die Bundeswehr ist seit 2013 mit der UN-Mission MINUSMA in Mali, um die malische Regierung bei der Umsetzung des Friedensabkommens zu unterstützen. Darauf machst du auch in einem deiner Videos aufmerksam. Wie bewertest du solche ausländische “Friedensmissionen” in Afrika? 

Grundsätzlich sind Friedensmissionen ja etwas Gutes. Aber im Fall der MINUSMA-Mission hat es auf jeden Fall nicht funktioniert. Ich bin nicht so weit, zu sagen, man sollte so etwas nie wieder machen. Aber ich denke, so etwas muss vor allen Dingen aufrichtig sein – also nicht nur aus eigenen Interessen. Momentan entsteht der Eindruck, Friedensmissionen werden nicht in afrikanische Staaten geschickt, um Dinge zu verändern, sondern um den Status quo beizubehalten, damit die Vorteile für die alten Kolonialmächte erhalten bleiben. Solange das koloniale Mindset und das kapitalistische Denken in Friedensmissionen vorherrscht, funktioniert die Friedensmission auch nicht. 

Westliche Friedensmission im Ausland scheitern immer wieder: Seit über 20 Jahren läuft im Kongo die UN-Friedensmission MONUSCO – erfolglos und von der Bevölkerung unerwünscht. Bild: MONUSCO/Abel Kavanagh (CC BY-SA 2.0).

Es ist ja auch nicht das erste Mal, dass eine westliche Friedensmission im Ausland scheitert. Im Kongo läuft seit über 20 Jahren die UN-Friedensmission MONUSCO – erfolglos und von der Bevölkerung unerwünscht. Sollte Europa eher die Rahmenbedingungen des Rohstoffhandels mit afrikanischen Staaten überdenken, als im Nachhinein Friedensmissionen zu senden?

Das ist das, was ich mit ‘Aufrichtigkeit’ meine. Ich habe mich manchmal gefragt, warum europäische Staaten nicht einfach ehrlich sagen: ‘Wir kommen mit unserer Friedensmission, aber dafür wollen wir Rohstoffe’. Ich habe das Gefühl – und ich glaube, dieses Gefühl haben viele afrikanische Menschen –, dass es in diesen Friedensmissionen am Ende nicht um Frieden und Demokratie geht, sondern um Rohstoffe. Und das ist nicht aufrichtig, denn im Endeffekt funktionieren die Friedensmissionen nicht, aber Rohstoffe werden trotzdem genommen. 

Schießt sich Europa damit langfristig selbst ins Bein? 

Natürlich. Man sieht ja jetzt schon, dass es Konkurrenz gibt. China ist auf dem Markt stärker geworden. Russland will mehr Einfluss bekommen. Gerade in Westafrika sehen wir durch die letzten Umstürze und Putschversuche das Misstrauen dieser Staaten in den Westen. Sie sagen: ‘Wir haben unsere Erfahrungen mit Europa und dem Westen gemacht, jetzt probieren wir etwas anderes aus.’ Das Vertrauen wieder aufzubauen, wird harte Arbeit. Oft habe ich das Gefühl, viele Leute sind überrascht, dass afrikanische Staaten Europa den Rücken zukehren und stattdessen mit Russland oder China kooperieren. 

Müssen wir das Konzept von Frieden in Europa also erstmal dekolonialisieren, bevor wir Friedensmissionen in afrikanische Staaten schicken?

Es kommt mir so vor, als ob afrikanischen Ländern mit diesen Friedensmissionen auch ein europäischer Mantel auferlegt wird – und dadurch koloniale Kontinuitäten bestehen bleiben. Die afrikanischen Staaten wollen das nicht. Sie wollen zum Beispiel Terrorismus und Kriminalität in den Griff kriegen. Demokratie ist auch wichtig, aber erstmal geht es um Frieden und Sicherheit. Deshalb müssen wir unbedingt unsere Idee von Frieden und Friedensmissionen überdenken. Denn die Art und Weise, wie Europa Frieden verkaufen möchte, funktioniert in Afrika nicht. Und die Frustration darüber, dass immer wieder das Gleiche probiert wird, ist groß. Das sieht man zum Beispiel gerade in Niger, wo nach wie vor Terroristen den Menschen Sorgen bereiten, trotz europäischer Intervention. 

Nicht erst seit gestern Freunde: Dass die Beziehungen zwischen afrikanischen Staaten und Russland oder China enger werden, erklärt sich Stève Hiobi damit, dass diese Länder in erster Linie Alternativen zu den Ländern des globalen Nordens sind. “Ob Russland und China nun gute Alternativen sind, das wird sich zeigen. Putin ist schließlich auch keiner, der Frieden bringt.” Bild: Screenshot YouTube/DW Nachrichten.

Du hast gerade schon den Einfluss Chinas und Russlands in Afrika angesprochen. Was könnten diese engeren Beziehungen zwischen afrikanischen Staaten und Russland bzw. China für Afrika in Zukunft bedeuten?

Auf den ersten Blick eröffnen diese neuen Kooperationen erstmal mehr Alternativen. Und ich glaube, für den afrikanischen Kontinent ist es wichtig, Alternativen zu haben. Es ist aber auch für Europa wichtig, zu wissen, dass Afrika Alternativen hat, damit Europa einfach mal merkt, dass sich etwas verändern muss. Schließlich haben afrikanische Länder es jetzt über 500 Jahre lang mit Europa “probiert”, und das ist für Afrika nicht gut ausgegangen. Deswegen ist es verständlich, dass sie jetzt auch mal etwas anderes probieren wollen. Ob Russland und China nun gute Alternativen sind, das wird sich zeigen. Putin ist schließlich auch keiner, der Frieden bringt. 

Afrikas Rohstoffreichtum macht den Handel mit afrikanischen Staaten besonders attraktiv, hat aber auch zu vielen Konflikten geführt. Welche Rolle werden Rohstoffe in Afrika in der Zukunft spielen?

Viele afrikanische Staaten haben lange von Rohstoffen gelebt, und sind trotzdem arm. Deshalb fangen sie jetzt an, ihre Wirtschaft zu diversifizieren, um nicht nur von Rohstoffen abhängig zu sein. In Kenia blüht beispielsweise die Tech-Branche auf. In Botswana – ein Land, das seit langem vom Diamantenhandel lebt – wird viel in die Dienstleistungsbranche investiert. Afrikanische Staaten haben längst erkannt, dass sie aufhören müssen, nur Rohstofflieferanten zu sein. Sie haben die Rohstoffe und können diese natürlich weiterhin exportieren, aber sie wollen auch mit ihren eigenen Produkten auf dem Markt konkurrieren. 

Wie meinst du das?

Ghana produziert zum Beispiel Kakao und Schokolade. Im Einzelhandel gibt es aber keine Schokolade aus Ghana zu kaufen, sondern nur die von europäischen Marken. Dabei wird Kakao in afrikanischen Ländern produziert. Genauso ist es mit Coltan im Kongo. Coltan dürfte nicht einfach als Rohstoff verkauft werden, sondern müsste im Kongo selbst weiterverarbeitet und dann exportiert werden. Da müssen afrikanische Länder hinkommen: Dass sie ihre eigenen Rohstoffe verarbeiten und mit den verarbeiteten Produkten auf dem internationalen Markt konkurrieren. Denn durch die billigen Produkte wie Schokolade oder Kaffee, die europäische und amerikanische Konzerne zurück in Länder wie Ghana verkaufen, haben lokale Produzenten keine Chance – obwohl sie die Rohstoffe selbst produzieren. Von diesen kolonialen Abhängigkeitsverhältnissen müssen wir wegkommen. Das ist natürlich ein langer Weg, aber zumindest ist die Bereitschaft afrikanischer Staaten, das zu verändern, bereits in vollem Gange. Ich bin sehr gespannt, was sich da noch entwickelt.

“Ubuntu betont die Gemeinschaft: ‘Ich bin, weil wir alle sind. Wir wachsen zusammen.’ Das gemeinsame Denken und Wachsen als Gesellschaft im Gegensatz zum Einzelkämpfertum.” Bild via africasocialwork.net.

Schon Nelson Mandela und Desmond Tutu machten im Kampf gegen die Apartheid auf die friedensfördernden Prinzipien der Ubuntu Philosophie aufmerksam. Ist Ubuntu ein wichtiger Bestandteil einer afrikanischen Zukunfts-Utopie?

Für Afrika sowieso, aber von Ubuntu kann auch Europa viel lernen. Denn die in Europa vorherrschende, kartesische Denkweise ‘Ich denke, also bin ich’ ist sehr Ego-zentriert. Es geht dabei vor allem um mich und mein Sein, mein Wohlbefinden, was ich möchte, wie ich mein Umfeld wahrnehme und wie ich vorankomme. Meine Entwicklung, meine Zeit, mein Geld, mein Haus, mein Auto. Ubuntu hingegen betont die Gemeinschaft: ‘Ich bin, weil wir alle sind. Wir wachsen zusammen.’ Und das ist ein schöner Gedanke, der vor allem in Deutschland verloren gegangen ist. Das gemeinsame Denken und Wachsen als Gesellschaft im Gegensatz zum Einzelkämpfertum. Das können wir uns vielleicht schwer vorstellen, weil uns einfach nie gesagt wurde, dass so etwas funktionieren kann. Ubuntu hat deshalb auf jeden Fall etwas Utopisches. Es funktioniert auch in Afrika nicht überall, das muss man ehrlicherweise sagen. Aber Ubuntu auf dem ganzen afrikanischen Kontinent zu implementieren, ist glaube ich etwas, was sich viele Menschen in Afrika wünschen. Und es wäre schön, das irgendwann zu sehen. 

Kannst du dir denn ein friedliches Afrika vorstellen?

Ich muss sagen, ich habe es mir lange nicht mehr vorgestellt. Da müsste ich mal machen: Mich hinsetzen und so richtig träumen, weg von der Realität. Aber was ich letztens gedacht habe: Wie cool wäre es, wenn man auf dem afrikanischen Kontinent einfach so reisen könnte, als Afrikaner:in. Denn momentan ist das gar nicht so leicht. Ich komme mit meinem deutschen Pass leichter durch den afrikanischen Kontinent als zum Beispiel jemand aus Togo, Ghana oder Kamerun. Ich kann als Deutscher ohne Visum nach Südafrika, als Kameruner müsste ich ein Visum beantragen. 

Woran liegt es, dass die Bewegungsfreiheit innerhalb des afrikanischen Kontinents für Afrikaner:innen so eingeschränkt ist?

Das hat auch etwas mit den kolonialen Strukturen zu tun. Denn auch nach den Unabhängigkeitsbewegungen gab es immer noch strategische Interessen, wer mit wem zusammenarbeitet. Das Konzept der afrikanischen Einheit, des Panafrikanismus, gibt es noch nicht so lange. Dieser Gedanke muss sich noch entwickeln. Wenn ich an afrikanische Utopien denke, ist die Bewegungsfreiheit das erste, woran ich denke, denn das wäre auch leicht umsetzbar. Mit Visafreiheit könnten sich afrikanische Staaten auch über die kolonialen Landesgrenzen hinweg setzen. Vor kurzem hat Kenia zum Beispiel seinen Nachbarstaaten erlaubt, visumfrei einzureisen. Von einem vereinten Afrika sind wir zwar noch weit weg, aber das ist ein guter Anfang. Meine Hoffnung ist, dass es das irgendwann geben wird.

“Für mich ist [Wangari Maathai] ein Symbol des Friedens”, sagt Stève Hiobi. Die kenianische Friedensnobelpreisträgerin und Umweltschützerin wurde 2009, zwei Jahre vor ihrem Tod, noch zur UN-Friedensbotschafterin mit dem Schwerpunkt Umwelt und Klimawandel ernannt. Bild: UN Photo/Mark Garten (CC BY-NC-ND 2.0).

Kennst du weitere Beispiele inspirierender Friedenskonzepte oder Persönlichkeiten aus der afrikanischen Kultur und Geschichte?

Spontan fällt mir die kenianische Politikerin, Frauenrechtlerin, Friedens- und Umweltaktivistin Wangari Maathai ein. Diese Frau hat auf so vielen Ebenen für Frieden gekämpft, sich mit unangenehmen Menschen auseinandergesetzt und wirklich etwas bewirkt. Es ging ihr nicht nur um Frieden oder die Umwelt, sondern darum, dass die Menschen ein gutes Leben leben können. Für mich ist sie ein Symbol des Friedens. Sie ist außerdem die erste afrikanische Frau, die mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. 

Wo siehst du Afrika in 50 Jahren? Was würdest du dir wünschen?

In 50 Jahren sehe ich den afrikanischen Kontinent näher an seiner Souveränität. Näher daran, dass er den Menschen das geben kann, was sie wollen, sodass sie selbst entscheiden können, ob sie gehen oder bleiben. Außerdem wünsche ich mir, dass afrikanische Länder wirtschaftlich stark sind, stabile Regierungen haben und Regierungschefs, die gute Entscheidungen treffen. Ich wünsche mir, dass die Menschen in ihrer Umgebung, in ihren Gesellschaften und Ländern in Sicherheit und Wohlstand leben können. 

Stève Hiobi – aka Bruder Stève – erreicht mit seinen Videos über afrikanische Kulturen und Geschichte in Deutschland Millionen von Usern. Dieses Jahr wurde er dafür mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Neben TikTok ist Stève in der IT-Branche tätig und lebt in Heidelberg.

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Ein guter Ort? Willkommen in Eutopia

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Ein guter Ort? Willkommen in Eutopia

Ein Blick in die Zukunft? Eutopia ist eine radikal friedliche Gesellschaft, die ohne Krieg und physische Gewalt auskommt. Dass sie überhaupt existiert, hat sie der feministischen Bewegung und der Erfindung eines Apparats, der die Welt verändert hat, zu verdanken. Bild: Google Deepmind (Pexels).

Wir schreiben das Jahr 2123. Nachdem in Europa infolge der Klimakatastrophe ein erbitterter Krieg um Ressourcen ausgebrochen war, sah sich der kleine Kontinent dazu gezwungen, enger mit anderen Staaten zu kooperieren, um seine Existenz zu sichern. Aus Europa wurde so Eutopia, ein Ort, der ohne Gewalt auskommt – zumindest in der realen Welt. 

Eine Utopie ist ein Ort, den es nicht gibt. Denn das griechische Wort Utopia bedeutet übersetzt so viel wie “kein Ort”. Der Name ist kein Versehen. Sir Thomas More, englischer Staatsmann und Autor, war sich der Bedeutung des Wortes bewusst, als er das Konzept der Utopie in seinem Buch Utopia 1516 ins Leben rief. Er machte sogar ausdrücklich auf die Ähnlichkeit mit dem griechischen Wort Eutopia aufmerksam, was übersetzt “ein guter Ort” bedeutet. 

In seinem Buch beschrieb More tatsächlich einen guten Ort: eine ideale, egalitäre Gemeinschaft auf einer Insel, in der niemand leiden muss: “Niemand hat Besitz, aber alle sind reich – denn welcher Reichtum ist größer als Frohsinn, Seelenfrieden und Freiheit von Ängsten?”, heißt es dort. Mores Problem: Diesen Ort hat es – wie der Titel schon sagt – eben nie gegeben. Ob das Wortspiel auf die ungerechten Zustände während der europäischen Renaissance anspielen sollte, oder wirklich Mores Traum von einer besseren Welt war, kann niemand mit Gewissheit sagen.

In seinem Buch Utopia beschrieb More tatsächlich einen guten Ort: eine ideale, egalitäre Gemeinschaft auf einer Insel, in der niemand leiden muss: Mores Problem: Diesen Ort hat es – wie der Titel schon sagt – eben nie gegeben. Jedenfalls nicht bis zur Gründung von Eutopia im Jahr 2100. Bild: NTB (CC BY-NC 4.0).

Heute allerdings, im Jahr 2123, ist Eutopia endlich wahr geworden. Und das ist der feministischen Bewegung und der Erfindung eines Apparats, der die Welt verändert hat, zu verdanken. 

Willkommen in Eutopia

Elara ist genauso alt wie Eutopia selbst. Vor 23 Jahren, an ihrem Geburtstag, wurde um Mitternacht die Verfassungsänderung vollzogen, die das vereinigte Eutopia ermöglichte. Eutopia ist eine radikal friedliche Gesellschaft, die ohne Krieg und physische Gewalt auskommt. Auch soziale Ungleichheit ist passé, denn diese Form der wirtschaftlichen Gewalt wird von der heutigen Gesellschaft als einer der größten Kriegstreiber eingestuft. 

Die alte Welt von Krieg und Gewalt ist jedoch nicht in Vergessenheit geraten. Sie existiert weiterhin, in den Schilderungen und Fantasien von Büchern und Filmen. Diese Medien spielen auch bei der Friedenserhaltung in Eutopia eine wichtige Rolle. Dank des Apparats, einem Virtual Computing Device, den die meisten Menschen bei sich tragen, kann man in die Fantasien der Bücher und Filme eintauchen und ihre Geschichten am eigenen Leib erleben. So lernen die Menschen in Eutopia von der Vergangenheit. 

Die Bibliothek ist Elaras Lieblingsort in Eutopia. Dort befinden sich die meisten Medien, die mit dem Apparat geöffnet werden können. Die Geschichten von Krieg und Gewalt faszinieren Elara, auch wenn es ihr vollkommen absurd erscheint, dass Menschen sich früher aufgrund von Religion oder Edelmetallen umgebracht haben. Der Apparat hat aber nicht nur ermöglicht, diese fremden Zeiten nachzuerleben. Er hat auch den Krieg obsolet werden lassen. Denn durch die Geschichten, die durch die immersive Technologie des Apparates erfahrbar werden, erinnert sich die Gesellschaft in Eutopia ständig an den Zustand von Krieg – ein Zustand, in den man lieber nicht zurückkehren möchte. 

Vor der Erfindung des Apparats war in Europa ein erbitterter Ressourcenkampf ausgebrochen. Hätte es damals nicht die Bemühungen unzähliger Feminist:innen gegeben, die Länder der Welt zu demilitarisieren und das Patriarchat zu stürzen, gäbe es vielleicht heute noch Krieg in der realen Welt.

Vor der Erfindung des Apparats war in Europa als Folge der Klimakatastrophe ein erbitterter Ressourcenkampf ausgebrochen. Hätte es damals nicht die Bemühungen unzähliger Feminist:innen gegeben, die Länder der Welt zu demilitarisieren und das Patriarchat zu stürzen, gäbe es vielleicht heute noch Krieg in der realen Welt. Bild: Google Deepmind (Pexels).

Ein guter Ort?

Doch der Apparat hat auch eine dunkle Seite. Denn er ist nicht nur ein Werkzeug, das Geschichten erlebbar macht. Er hat auch ein … gewisses Eigenleben. Denn wenn jemand in Eutopia tatsächlich Gebrauch von physischer Gewalt machen sollte, oder gar plant, Krieg zu führen, schickt der Apparat einen zur Strafe zurück in eine kriegerische Vergangenheit – für immer. 

Passiert ist das zwar zu Elaras Lebzeiten nicht, aber die Bedrohung ist real. Immer wieder wird in den Medien die Geschichte von Orin erzählt, dem Mann, der die feministische Herrschaft in Eutopia stürzen wollte und nun für immer in Kurt Vonneguts Schlachthof 5 festsitzt. Die Luftangriffe auf Dresden im Zweiten Weltkrieg erlebt er seitdem als amerikanischer Soldat in einer täglichen Endlosschleife – eine angsteinflößende Vorstellung. 

Rache gibt es trotzdem

Gewaltfrei ist Eutopia aber trotzdem nicht. Denn obwohl in Eutopia eine utilitaristische Weltanschauung herrscht, angelehnt an die afrikanische Ubuntu-Philosophie, sind auch dort zwischenmenschliche Konflikte nicht vermeidbar. Und diese zu unterdrücken, wäre auch nicht die Lösung, denkt Elara. Heute ist sie wütend und eifersüchtig, denn ihre Partnerin verbringt den Abend mit jemand anderem. 

So friedvoll Eutopia auch scheint: Gewaltfrei ist es trotzdem nicht. Denn obwohl in Eutopia eine utilitaristische Weltanschauung herrscht, angelehnt an die afrikanische Ubuntu-Philosophie, sind auch dort zwischenmenschliche Konflikte nicht vermeidbar. Bild: Google Deepmind (Pexels).

Auch wenn sie dieses Gefühl gerne einfach herunterschlucken würde, brodelt es in ihr. Das Gefühl muss raus. Gerade in solchen Momenten flüchtet sich Elara in die Bibliothek, um sich in Büchern und Filmen der Vergangenheit zu verlieren und ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Wohin soll es heute gehen?, fragt sie sich, während ihre Finger behutsam über die Buchrücken in den unzähligen Regalen der Bibliothek streichen. 

Ein funkelndes, gelbes Cover im rechten Regal erregt besonders ihre Aufmerksamkeit: Kill Bill, Vol. 1. Sie berührt den Apparat, lädt den Film hoch und schließt ihre Augen. Keine Sekunde später erwacht Elara mit blutverschmiertem Gesicht in einem Brautkleid auf einem kalten Fliesenboden. Im nächsten Moment befindet sie sich mitten in einem Schwertkampf. Alles fühlt sich real an, aber gleichzeitig wie ein furchtbarer Alptraum, aus dem es kein Entkommen gibt. Aber Halt, den gibt es ja! Jedenfalls für Elara und die anderen Menschen aus Eutopia. Für sie ist es schließlich nur eine Illusion, wenn auch eine sehr intensive. 

Als Elara schweißgebadet wieder ihr Bewusstsein erlangt, braucht sie eine Weile, um sich wieder zu fangen. Vielleicht versucht sie, den Konflikt mit ihrer Partnerin doch lieber als Gespräch zu lösen, denkt Elara erschöpft, als sie zittrig die Bibliothek und damit den brutalen Alltag der Vergangenheit hinter sich lässt.

Zum Anfang Ist Krieg Teil der menschlichen Natur?
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