Die Herstellung von Schriften, besonders das Buch, war die erste menschliche Technologie, die Diskussionen um Abhängigkeit und Sucht auslöste. Hier finden sich Diskurse, die auch heute noch Bestand haben.
Wer sich ein Bild von Gelehrsamkeit im Mittelalter machen möchte, kann bei dem Buch „Der Name der Rose“ anfangen, das 1327 in einer italienischen Benediktinerabtei spielt. Die Hauptfiguren sind Mönche in staubigen Bibliotheken, gebeugt über große Folianten, versunken in der Lektüre meist geistlicher Schriften. Bemüht darum, in der Bibel-Exegese Antworten auf die Fragen des Lebens zu finden. Genauso zeigt der Film aber auch die Kehrseite dieses Lesens: Zu viel wissen zu wollen. Sich in der Lektüre zu verlieren und somit nicht mehr rein im Dienste Gottes zu stehen. Und das wird – zumindest im Film – mit dem Tode durch vergiftete Buchseiten bestraft.
Die Methode, Schrift in Rollen, Kodexen und schließlich Büchern festzuhalten und somit Wissen greifbar und abrufbar zu machen, kann auch als erste Technik gesehen werden, die immer wieder im Kontext von Abhängigkeit und sogar Sucht stand. Hier beginnen viele noch heute virulente Ideen von exzessivem Konsum, Eskapismus und unproduktiver Zerstreuung.
Das Leserad als Multitasking-Maschine
Seit es Orte gab, an denen Schriften gesammelt und zugänglich gemacht wurden, gibt es auch Technik, die deren Konsum vereinfachen sollte. Die Brille etwa wurde um 1300 erfunden und diente vor allem dazu, weitsichtigen Menschen, besonders im höheren Alter, das Lesen zu erleichtern. Das Gemälde des „Brillenapostels“, das 1403 von Conrad von Soest erschaffen wurde, zeugt von dieser Errungenschaft. Der Lebensabschnitt, in dem das Lesen möglich ist, wurde dadurch verlängert.
Weniger bekannt ist das sogenannte Leserad, das im 16. Jahrhundert entstand. Agostino Ramelli gilt als Erfinder dieser Apparatur, die das Lesen vieler Texte erleichtern sollte: „Eine schöne und künstliche Maschine, die für jede Person, die die Wissenschaft liebt, äußerst nützlich und bequem ist. Ein Mann kann eine größere Anzahl Bücher lesen, ohne sich vom Platz zu bewegen“, beschrieb er seine eigene Erfindung. Das Rad erinnert an eine Wassermühle: Zwei Radscheiben sind durch eine Mittelachse verbunden. Innerhalb davon sind Pulte aufgehängt, auf denen Bücher platziert werden konnten. Der Lesende saß vor dem Rad, drehte es und konnte so zwischen verschiedenen aufgeschlagenen Büchern in Sekundenschnelle wechseln. Eine Idee, die wir heute noch kennen: Denn wer hat nicht ständig diverse Tabs in seinem Browser geöffnet?
Sucht ändert sich
Im Laufe des Mittelalters und der Renaissance entstanden also Erfindungen, die den Buchkonsum vereinfachten. Es waren keine Notwendigkeiten, sondern Technik, um die Bequemlichkeit der Lesenden zu erhöhen. Ein Leserad voller Bücher, davor ein geradezu besessener Lesender – würde man da heute von Sucht sprechen?
Die Sucht ist eine psychische Erkrankung. Die Abhängigkeit von einer Substanz, einer Tätigkeit oder einer Technologie wird erst im Kontext der Psychologie Ende des 19. Jahrhunderts zu einem untersuchbaren und dann behandelbaren Zustand. Zuvor war die Sucht zumeist ein Fehlverhalten – im religiösen Kontext eine Sünde. Exzessives Konsumieren von Alkohol, ein Übermaß im Anhäufen von Gegenständen oder die zeitverschwendende Beschäftigung mit Medien außerhalb der Bibel-Exegese waren Verfehlungen, die der gesellschaftlichen und göttlichen Ordnung zuwider standen.
Ein Beispiel für jemanden mit einer solchen Sucht ist Sir Thomas Phillipps, ein englischer Aristokrat, der von 1792 bis 1872 gelebt hat und im 19. Jahrhundert die größte Manuskript-Sammlung besaß. Durch die zunehmende Säkularisierung schwemmen Schriften aus Klöstern den Markt – und Phillipps kauft etliche davon auf. Jedoch nicht, um sie zu lesen. Es geht ihm ums Sammeln und darum, die rarsten und teuersten Schriften zu besitzen. Besucher seines Hauses in der Nähe von Broadway, Worcestershire beschreiben es als „elend und heruntergekommen“, Schriften und Bücher auf jeder Treppenstufe, unter jedem Bett. Bibliomanie nannte man die Kondition, unter der Sir Thomas Phillipps litt. Heute würde man diese Buchsucht wohl als Zwangsstörung klassifizieren.
Die Lesesucht macht Sorgen
Je weiter der Buchdruck automatisiert wurde und Seiten nicht mehr einzeln gesetzt werden mussten, desto einfacher konnten Bücher erstanden werden. Und desto lukrativer wurde Literatur außerhalb religiöser Kontexte: Kunst, Unterhaltung oder politische Texte. 1740 wurden im deutschsprachigen Raum 755 Titel produziert, 1800 waren es schon 2569. Der Anteil religiöser Literatur sank dabei von knapp 40 auf knapp 25 Prozent. Das Publikum wuchs: Besonders Frauen fingen an, zu lesen. Mit der massenhaften Verbreitung von Literatur begann eine Diskussion um die verwerfliche Lesesucht bei Frauen. Der Schriftsteller Joachim Heinrich Campe veröffentlichte 1832 das Buch „Sämmtliche Kinder- und Jugendschriften. 36: Väterlicher Rath für meine Tochter”, in dem er fordert, dass Frauen „beglückende Gattinnen, bildende Mütter und weise Vorsteherinnen des inneren Hauswesens”, sein sollten – nicht zeitverschwendende Leserinnen.
Das übermäßige Lesen von (falscher, also unterhaltender) Literatur würde den Geist verderben. Besonders die Frau würde von ihren eigentlichen Pflichten abgehalten: Der Haushalt und die Erziehung der Kinder. Das ständige Lesen, so hieß es, mache den Körper schlaff; mache die Menschen seltsam. Diskurse also, die mit der Literatur begannen und sich mit der Einführung immer neuer Technologien aktualisierten. Auch heute kennen wir diese Argumente noch – nur nicht mehr, wenn wir von Büchern sprechen.