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Kompendium: Addictive Technology

Werden Addictive Technologies in 50 Jahren Teil unseres Körpers sein? Als Chip im Gehirn? Und wie würden sich unsere täglichen Süchte dadurch ändern?

Kompendium

Heute gilt das Buch oft als Antidot – als Gegenprogramm zu Sozialen Medien und Videospielen. Doch einst galt auch das Buch als Suchtquelle – besonders für Frauen. Über die Jahre aber haben sich die Diskurse verschoben und es sind neue, stets immersivere Technologien hinzugekommen. Heute leben wir in einer Welt, in der Soziale Medien und Online-Games für viele den Alltag bestimmen. Und ein Blick in die Zukunft lässt erahnen, dass diese Technologien immer mehr Teil unseres Körpers werden.

Kompendium: Addictive Technology

Die Herstellung von Schriften, besonders das Buch, war die erste menschliche Technologie, die Diskussionen um Abhängigkeit und Sucht auslöste. Hier finden sich Diskurse, die auch heute noch Bestand haben.

Kompendium: Addictive Technology

Im 20. Jahrhundert nehmen die Technologien zu, die nicht mehr die Produktivität erhöhen wollen, sondern der Unterhaltung dienen. Damit nimmt auch das Sucht-Problem zu.

Kompendium: Addictive Technology

Moderne Addictive Technologies setzen auf ein Zugehörigkeitsgefühl und die Angst, etwas zu verpassen. Das sind bewusst eingesetzte Mechanismen, die vielen Sozialen Medien und Online-Games zugrunde liegen.

Kompendium: Addictive Technology

Dr. Daniel Illy ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie. Besonders beschäftigt er sich mit Abhängigkeit zu Videospielen und sozialen Medien. Er denkt, dass diese Technologien in den kommenden zehn Jahren noch weiter um sich greifen werden – und dass es zur Vorbeugung vor allem Aufklärung braucht.

Kompendium: Addictive Technology

Von wissenssüchtigen Mönchen und lesesüchtigen Frauen

Kompendium: Addictive Technology

Von wissenssüchtigen Mönchen und lesesüchtigen Frauen

Bild: Ivan Kramskoi, "Woman Reading. Portrait of Sofia Kramskaya", public domain, Wikimedia Commons.

Die Herstellung von Schriften, besonders das Buch, war die erste menschliche Technologie, die Diskussionen um Abhängigkeit und Sucht auslöste. Hier finden sich Diskurse, die auch heute noch Bestand haben.

Wer sich ein Bild von Gelehrsamkeit im Mittelalter machen möchte, kann bei dem Buch „Der Name der Rose“ anfangen, das 1327 in einer italienischen Benediktinerabtei spielt. Die Hauptfiguren sind Mönche in staubigen Bibliotheken, gebeugt über große Folianten, versunken in der Lektüre meist geistlicher Schriften. Bemüht darum, in der Bibel-Exegese Antworten auf die Fragen des Lebens zu finden. Genauso zeigt der Film aber auch die Kehrseite dieses Lesens: Zu viel wissen zu wollen. Sich in der Lektüre zu verlieren und somit nicht mehr rein im Dienste Gottes zu stehen. Und das wird – zumindest im Film – mit dem Tode durch vergiftete Buchseiten bestraft.

Die Methode, Schrift in Rollen, Kodexen und schließlich Büchern festzuhalten und somit Wissen greifbar und abrufbar zu machen, kann auch als erste Technik gesehen werden, die immer wieder im Kontext von Abhängigkeit und sogar Sucht stand. Hier beginnen viele noch heute virulente Ideen von exzessivem Konsum, Eskapismus und unproduktiver Zerstreuung.

Die Methode, Schrift in Rollen, Kodexen und schließlich Büchern festzuhalten und somit Wissen greifbar und abrufbar zu machen, kann auch als erste Technik gesehen werden, die immer wieder im Kontext von Abhängigkeit und sogar Sucht stand. Bild: La Lecture, Pierre-Antoine Baudouin, Wikimedia Commons, gemeinfrei.

Das Leserad als Multitasking-Maschine

Seit es Orte gab, an denen Schriften gesammelt und zugänglich gemacht wurden, gibt es auch Technik, die deren Konsum vereinfachen sollte. Die Brille etwa wurde um 1300 erfunden und diente vor allem dazu, weitsichtigen Menschen, besonders im höheren Alter, das Lesen zu erleichtern. Das Gemälde des „Brillenapostels“, das 1403 von Conrad von Soest erschaffen wurde, zeugt von dieser Errungenschaft. Der Lebensabschnitt, in dem das Lesen möglich ist, wurde dadurch verlängert.

Weniger bekannt ist das sogenannte Leserad, das im 16. Jahrhundert entstand. Agostino Ramelli gilt als Erfinder dieser Apparatur, die das Lesen vieler Texte erleichtern sollte: „Eine schöne und künstliche Maschine, die für jede Person, die die Wissenschaft liebt, äußerst nützlich und bequem ist. Ein Mann kann eine größere Anzahl Bücher lesen, ohne sich vom Platz zu bewegen“, beschrieb er seine eigene Erfindung. Das Rad erinnert an eine Wassermühle: Zwei Radscheiben sind durch eine Mittelachse verbunden. Innerhalb davon sind Pulte aufgehängt, auf denen Bücher platziert werden konnten. Der Lesende saß vor dem Rad, drehte es und konnte so zwischen verschiedenen aufgeschlagenen Büchern in Sekundenschnelle wechseln. Eine Idee, die wir heute noch kennen: Denn wer hat nicht ständig diverse Tabs in seinem Browser geöffnet?

Sucht ändert sich

Im Laufe des Mittelalters und der Renaissance entstanden also Erfindungen, die den Buchkonsum vereinfachten. Es waren keine Notwendigkeiten, sondern Technik, um die Bequemlichkeit der Lesenden zu erhöhen. Ein Leserad voller Bücher, davor ein geradezu besessener Lesender – würde man da heute von Sucht sprechen?

Die Brille etwa wurde um 1300 erfunden und diente vor allem dazu, weitsichtigen Menschen, besonders im höheren Alter, das Lesen zu erleichtern. Bild: Conrad von Soest, Wikimedia Commons, gemeinfrei.

Die Sucht ist eine psychische Erkrankung. Die Abhängigkeit von einer Substanz, einer Tätigkeit oder einer Technologie wird erst im Kontext der Psychologie Ende des 19. Jahrhunderts zu einem untersuchbaren und dann behandelbaren Zustand. Zuvor war die Sucht zumeist ein Fehlverhalten – im religiösen Kontext eine Sünde. Exzessives Konsumieren von Alkohol, ein Übermaß im Anhäufen von Gegenständen oder die zeitverschwendende Beschäftigung mit Medien außerhalb der Bibel-Exegese waren Verfehlungen, die der gesellschaftlichen und göttlichen Ordnung zuwider standen.

Ein Beispiel für jemanden mit einer solchen Sucht ist Sir Thomas Phillipps, ein englischer Aristokrat, der von 1792 bis 1872 gelebt hat und im 19. Jahrhundert die größte Manuskript-Sammlung besaß. Durch die zunehmende Säkularisierung schwemmen Schriften aus Klöstern den Markt – und Phillipps kauft etliche davon auf. Jedoch nicht, um sie zu lesen. Es geht ihm ums Sammeln und darum, die rarsten und teuersten Schriften zu besitzen. Besucher seines Hauses in der Nähe von Broadway, Worcestershire beschreiben es als „elend und heruntergekommen“, Schriften und Bücher auf jeder Treppenstufe, unter jedem Bett. Bibliomanie nannte man die Kondition, unter der Sir Thomas Phillipps litt. Heute würde man diese Buchsucht wohl als Zwangsstörung klassifizieren.

Agostino Ramelli gilt als Erfinder des Leserads, welches das Lesen vieler Texte erleichtern sollte. Bild: Agostino Ramelli, gemeinfrei, Wikimedia Commons.

Die Lesesucht macht Sorgen

Je weiter der Buchdruck automatisiert wurde und Seiten nicht mehr einzeln gesetzt werden mussten, desto einfacher konnten Bücher erstanden werden. Und desto lukrativer wurde Literatur außerhalb religiöser Kontexte: Kunst, Unterhaltung oder politische Texte. 1740 wurden im deutschsprachigen Raum 755 Titel produziert, 1800 waren es schon 2569. Der Anteil religiöser Literatur sank dabei von knapp 40 auf knapp 25 Prozent. Das Publikum wuchs: Besonders Frauen fingen an, zu lesen. Mit der massenhaften Verbreitung von Literatur begann eine Diskussion um die verwerfliche Lesesucht bei Frauen. Der Schriftsteller Joachim Heinrich Campe veröffentlichte 1832 das Buch „Sämmtliche Kinder- und Jugendschriften. 36: Väterlicher Rath für meine Tochter”, in dem er fordert, dass Frauen „beglückende Gattinnen, bildende Mütter und weise Vorsteherinnen des inneren Hauswesens”, sein sollten – nicht zeitverschwendende Leserinnen.

Das übermäßige Lesen von (falscher, also unterhaltender) Literatur würde den Geist verderben. Besonders die Frau würde von ihren eigentlichen Pflichten abgehalten: Der Haushalt und die Erziehung der Kinder. Das ständige Lesen, so hieß es, mache den Körper schlaff; mache die Menschen seltsam. Diskurse also, die mit der Literatur begannen und sich mit der Einführung immer neuer Technologien aktualisierten. Auch heute kennen wir diese Argumente noch – nur nicht mehr, wenn wir von Büchern sprechen.

Weiterlesen Das Fernsehen: Technologie-Sucht für die Massen
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Das Fernsehen: Technologie-Sucht für die Massen

Kompendium: Addictive Technology

Das Fernsehen: Technologie-Sucht für die Massen

Bild: Evert F. Baumgardner - National Archives and Records Administration, gemeinfrei, Wikimedia Commons

Im 20. Jahrhundert nehmen die Technologien zu, die nicht mehr die Produktivität erhöhen wollen, sondern der Unterhaltung dienen. Damit nimmt auch das Sucht-Problem zu.

Auch Geschwindigkeit kann eine Sucht sein. Zum Beispiel bei einem Autorennen. „Das Geknatter von Motoren wanderte wie Maschinengewehrfeuer um die Bahn. Geruch nach verbranntem Öl, Benzin und Rizinus. Erregender, wunderbarer Geruch, erregender, wunderbarer Trommelwirbel der Motoren“, beschreibt es Erich Maria Remarque in seinem Roman „Drei Kameraden“, der Ende der 1920er-Jahre spielt. Darin gibt es immer wieder Szenen von Menschen, die in ihren Autos durch Berlin rasen und sich in diesem Rausch verlieren.

„Die Technologie übernimmt die Kontrolle, es gibt keine rationalen Entscheidungen mehr in diesem Rausch“, sagt Technikhistoriker Kurt Möser. Mit der massenhaften Fertigung von Automobilen, dem Ausbau von Bahnstrecken oder der größeren Zugänglichkeit zu Flugzeugen beginne ein Diskurs um den Rausch, der von diesen neuen Möglichkeiten ausgeht. Menschen suchen immer mehr den Kick. Für viele geht es nicht mehr um das bequeme Erreichen eines Ziels, sondern um die Geschwindigkeit auf dem Weg dahin.

„Die Technologie übernimmt die Kontrolle, es gibt keine rationalen Entscheidungen mehr in diesem Rausch“, sagt Technikhistoriker Kurt Möser. Bild: Kurt Möser

Die Sucht nach Eskapismus

Der Rausch existiert aber auch an anderen Orten. Dem Jahrmarkt etwa: „Die Achterbahn hat für körperliche Sensationen gesorgt – und viele wollten diese immer wieder aufs Neue erleben. Auch da hat es einen Suchteffekt gegeben“, sagt Möser. Bertolt Brecht hat in seiner Jugendzeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Plärrer, das Augsburger Volksfest besucht und hat sich immer wieder in ein Fahrgeschäft gesetzt, nämlich in die Schiffschaukel. In seinem Psalm „Vom Schiffschaukeln“ schreibt er später: „Man fliegt in den Himmel, man fliegt über die Erde, Schwester Luft, Schwester, Bruder Wind! Die Zeit vergeht und nie Musik. Nachts um 11 Uhr werden die Schaukeln geschlossen, damit der liebe Gott weiterschaukeln kann.“

Im 20. Jahrhundert mehren sich die Technologien, die nicht mehr der vermehrten Produktivität dienen. Immer häufiger geht es auch um Ablenkung – Eskapismus. „Im frühen Film etwa geht es um Sensationen: Schnell fahrende Lokomotiven. Die lustvolle Entgrenzung beim Lachen über Charlie Chaplin. Erst mit dem Ersten Weltkrieg ändert sich das“, sagt Möser. Und mit diesen zerstreuenden, unproduktiven Technologien wird auch der Diskurs um Abhängigkeit und Sucht weitergetragen. „Alfred Döblin war ein emsiger Radiobastler. Das war für viele verdächtig, – mit dem konnte doch was nicht stimmen“, sagt der Technikhistoriker Möser.

“Die Achterbahn hat für körperliche Sensationen gesorgt – und viele wollten diese immer wieder aufs Neue erleben. Auch da hat es einen Suchteffekt gegeben“, sagt Möser. Bild: private Kollektion von Wolfgang Sauber (Xenophon), Gemeinfrei, Wikimedia Commons.

Doch wo im Kinofilm oder auf dem Jahrmarkt noch ein gemeinsames Erleben möglich war, wird durch die zunehmende Massenproduktion und die Kommerzialisierung der Technik-Produkte immer mehr die einzelne Person angesprochen. Abhängigkeit wurde vor allem da konstatiert, wo der Mensch vereinzelte, sich von der Gemeinschaft abkapselte. Besonders anschaulich ist das am Beispiel des Fernsehers. 1935 ging der erste Fernsehsender in Deutschland an den Start. Massentauglich wurden Fernsehgeräte aber erst im Laufe der 1950er-Jahre. Anfänglich sollte diese Technologie der Information dienen – und der Propaganda.

Bewegungsmangel und Isolation

Im Laufe des 20. Jahrhunderts nahmen die Unterhaltungssendungen zu. Mit dem 3. Rundfunk-Urteil, das 1981 den Weg zur dualen Rundfunkordnung ermöglichte, begannen immer mehr Privatsender in Deutschland den Betrieb aufzunehmen. Wo die Öffentlich-Rechtlichen zuvor vor allem informieren wollten, setzten diese Sender voll auf die Unterhaltung. „Sucht-Diskurse sind vor allem da besonders laut, wo es um Technologie geht, die nicht rationalen Zwecken dient“, sagt Kurt Möser. Exzessiver Konsum von Fernsehen soll verdummen, Menschen isolieren, sie von einem aktiven und produktiven Leben abbringen. Wie nie zuvor befeuert das Fernsehen eine Suchtdebatte, die diesmal auch mit etlichen wissenschaftlichen Studien untersucht wird. Und es zeigten sich durchaus reale Suchtfaktoren beim Fernsehen: Die Passivität des Zuschauens, die nur wenig Mitdenken erfordert. Die mögliche Vereinzelung durch das Alleineschauen. Oder die Tatsache, dass Jugendkultur auch bedeutete, bestimmte Sendungen gesehen zu haben, um mitreden zu können.

Erhebungen zeigten, dass ein hoher Fernsehkonsum in der Kindheit den später erreichten Schulabschluss negativ beeinflusste. Außerdem wurde ein Zusammenhang zwischen exzessivem Fernsehen und Übergewicht hergestellt, Bewegungsmangel da konstatiert, wo Kinder lieber vor dem Fernseher sitzen als in der Natur zu spielen. Redewendungen wie die „eckigen Augen“, die man vom Fernsehschauen bekommt, fanden Eingang in das Vokabular vor allem von Eltern, die sich um ihre Kinder sorgten. Noch 2002 erscheint im Magazin Spektrum ein Artikel zum Fernsehen als Droge. In dem heißt es: „Fernsehen verschlingt erstaunlich viel Zeit. Die Menschen in den Industrieländern opfern dafür im Mittel drei Stunden täglich – die Hälfte ihrer Freizeit und mehr als für jede andere Einzelaktivität außer Arbeiten und Schlafen. Wer dies 75 Jahre lang durchhält, hat volle neun Jahre seines Lebens vor der Mattscheibe gesessen.“

Exzessiver Konsum von Fernsehen soll verdummen, Menschen isolieren, sie von einem aktiven und produktiven Leben abbringen. Wie nie zuvor befeuert das Fernsehen eine Suchtdebatte, die diesmal auch mit etlichen wissenschaftlichen Studien untersucht wird. Bild: Andreas Bohnenstengel, CC BY-SA 3.0 de, Wikimedia Commons.

 Inzwischen ist von diesem Diskurs nicht mehr viel übrig. Selbst als das „Binge-watching“, das exzessive Schauen vor allem von Netflix-Serien, virulent wurde, gab es bei Weitem keine so sorgenreiche gesellschaftliche Debatte wie um die Fernsehsucht Ende des 20. Jahrhunderts. „Die Diskurse um Sucht sind generationell. Wenn eine neue Technologie übernimmt, sind es vor allem diejenigen, die keine Berührungspunkte haben, die sich die größten Sorgen machen“, sagt Kurt Möser. Er selbst habe das bei seinem Großvater erlebt, der sich darüber beschwerte, dass seine Frau telefonsüchtig sei, da sie stundenlang mit ihren Freundinnen spräche. In seiner Kindheit seien es Comics gewesen, die seine Mutter verbieten wollte. Und er selbst habe lange Zeit nicht nachvollziehen können, wieso seine Kinder so fasziniert von Videospielen sind. Dennoch sieht er aktuelle Technologien in Bezug auf Abhängigkeit doch nochmal anders als beispielsweise das Fernsehen. Denn heute gehe es darum, sich in Welten zu verlieren, die neben, jenseits und über unserer Realität stehen.

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Endloses Scrollen – die Sucht nach Zugehörigkeit

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Endloses Scrollen – die Sucht nach Zugehörigkeit

Foto: Florian Schmetz

Moderne Addictive Technologies setzen auf ein Zugehörigkeitsgefühl und die Angst, etwas zu verpassen. Das sind bewusst eingesetzte Mechanismen, die vielen Sozialen Medien und Online-Games zugrunde liegen.

Keine Konsole war je so begehrt wie die Playstation 5. Monate nach der Veröffentlichung der PS5 helfen Twitter-Bots, Push-Benachrichtigungen oder Live-Ticker als Meldungen dafür, wann und wo eine der begehrten Spielekonsolen wieder zu kaufen ist. Es ist ein Run auf ein Technologie-Produkt, das nicht nur durch den Chipmangel kaum in einem Geschäft zu finden ist, sondern auch, weil es zu einem der begehrtesten Gamer-Produkte geworden ist. Wer die Konsole nicht hat, kann die neuesten Playstation-Spiele nicht in bester Grafik erleben. Er oder sie gehört einfach nicht mehr dazu. Steckt schon bereits in dieser Begehrlichkeit die Suchtgefahr?

Aber so einfach ist es nicht. Addictive Technologies sind nicht einfach nur die Hardware Spielekonsolen. Es sind auch nicht Smartphones oder Smartwatches. All diese Geräte können unterhalten und informieren, sie können Gemeinschaft herstellen und ein soziales Miteinander sichern. Es sind vielmehr bestimmte Apps und Spiele, die auf diesen Technologien genutzt werden – und die gleichen sich in ihren potenziell abhängig machenden Konzepten immer mehr. Es sind vor allem Soziale Medien und sogenannte Service-Games, also Online-Games, die über Monate und Jahre laufen und mit immer neuem Content versorgt werden, die ein Suchtpotential bergen.

Keine Konsole war je so begehrt wie die Playstation 5. Heute sind es vor allem soziale Medien und sogenannte Service-Games, also Online-Games, die über Monate und Jahre laufen und mit immer neuem Content versorgt werden, die ein Suchtpotential bergen. Bild: PhotoEnduro

2023 wird Gaming Disorder als Krankheit klassifiziert
Sucht nach sozialen Medien oder Online-Games ist noch kein fest umrissenes Krankheitsbild. In der ICD 11 (International Classification of Diseases), die voraussichtlich 2023 veröffentlicht wird, soll aber zumindest Gaming Disorder aufgenommen werden. Anzeichen für diese Abhängigkeit können sein: Unruhegefühl bei Nichtnutzung, Isolation, um mehr Zeit mit der Technologie zu verbringen, Schlafentzug, Vernachlässigung von sozialen Beziehungen oder von Verpflichtungen wie Hausaufgaben oder der Arbeit. Eine Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf aus dem Jahr 2021 hat ergeben, dass in Deutschland 4,1 Prozent aller 10 bis 17-jährigen Computerspiele und 4,6 Prozent soziale Medien krankhaft nutzen.

Technologie spielt in immer mehr Bereichen unseres Lebens eine immer größere Rolle. Auch dadurch entsteht eine Abhängigkeit: Wer den Zugang oder die Mittel nicht hat, wird deutliche Nachteile in seinem Alltag spüren. Darüber hinaus setzen aber große Firmen wie Meta, Google oder Electronic Arts auf Algorithmen und Spielmechaniken, die darauf ausgelegt sind, User möglichst lange und möglichst involviert an eine Plattform oder an ein Spiel zu binden. Da, wo der Fernseher vorher die Schauenden in eine passive und womöglich isolierte Position brachte, sind moderne Addictive Technologies genau gegenteilig angelegt: Sie wollen eine Teilhabe ermöglichen – oder sie zumindest vorgaukeln und genau dadurch Abhängigkeit schaffen.

Eine Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf aus dem Jahr 2021 hat ergeben, dass in Deutschland 4,1 Prozent aller 10 bis 17-jährigen Computerspiele und 4,6 Prozent soziale Medien krankhaft nutzen. Bild: Plann

Die meisten dieser Apps basieren auf folgende Sucht-Mechanismen:

Der fehlende Absprungpunkt

Der Twitter-Feed oder die Recommended Page auf Tiktok, die ständigen Updates im Online-Game „Genshin Impact“ oder das schier endlose Aufleveln in „Diablo Immortal“: Moderne Addictive Technologies haben gemein, dass sie kein Ende mehr haben. In den Anfängen des Internets endete ein Thread in einem Fan-Forum irgendwann. Ebenso hatte ein Videospiel einen Endpunkt, dann war das Abenteuer bestanden. Diese Enden konnten Absprungpunkte sein, um die jeweilige Technologie zur Seite zu legen. Soziale Medien und Service-Games haben diese Punkte nicht mehr. Mit einer Fingerbewegung wird weitergescrollt oder das nächste Ziel im Spiel angegangen. Dadurch kann Fomo (Fear of missing out, also die Angst, etwas zu verpassen) entstehen. Denn der nächste Swipe könnte ja das Leben verändern.

 Die ständigen Erinnerungen

Inzwischen erinnert so gut wie jede App auf dem Smartphone die User in regelmäßigen Abständen daran, dass sie existieren, – solange man diese Funktion nicht konsequent deaktiviert. In den sozialen Medien sind diese Notifications jedoch besonders wirkmächtig, denn sie erinnern daran, dass hinter jedem grünen Punkt ein erreichbarer Mensch steckt, dass jede Zahl neben dem eigenen Usernamen eine noch nicht abgerufene Nachricht oder ein nicht gesehener Like ist. Die kleinen Icons treiben viele dazu, ihre Apps immer wieder zu checken, sie niemals aus dem Sinn zu verlieren.

In Online-Games sind inzwischen immer öfter ähnliche Mechanismen verbaut. Es gibt tägliche Herausforderungen, Gegenstände, die nur zu einer bestimmten Zeit ergattert werden können. Diese Spiele sind so aufgebaut, dass ein tägliches Einloggen diverse Boni bringt. Sie wollen die Spieler und Spielerinnen an sich binden. Auch hier ist die Devise: Vergiss mich nicht.

Vergiss mich nicht: In den sozialen Medien Notifications besonders wirkmächtig, denn sie erinnern daran, dass hinter jedem grünen Punkt ein erreichbarer Mensch steckt, dass jede Zahl neben dem eigenen Usernamen eine noch nicht abgerufene Nachricht oder ein nicht gesehener Like ist. Bild: Lobo Studio Hamburg

 Die sozialen Belohnungssysteme

Jede abgesetzte Botschaft in den sozialen Medien wird mit der jeweiligen sozialen Währung bezahlt: Likes, Shares, Follows und mehr. Alle sozialen Plattformen animieren dazu, möglichst viel dieser Währung zu ergattern. Es sind Belohnungssysteme für Aktivitäten, die zu einer höheren Dopaminausschüttung führen – und davon will man dann immer mehr. Gleichzeitig zeigen sie aber auch, wie erfolgreich die anderen User sind. Das Urlaubsbild des Freundes hat auf Instagram mehr Likes bekommen als das eigene. Die Kollegin hat mehr Twitter-Follower als man selbst. Durch diese Vergleichbarkeit kann Druck entstehen, oder das Gefühl, weniger wertig als eine andere Person zu sein und der Ansporn, diese Lücke zu schließen – durch noch mehr Posts, noch mehr verbrachte Zeit auf den Plattformen.

In Online-Games können es hingegen Ranglisten oder besonders rare Waffen sein, die diesen Druck erzeugen. Bestimmte Gegenstände sind nur für User erreichbar, die besonders viel Zeit in einem Spiel verbracht haben. Ranglisten führen nur die an, die besonders lange trainieren. Auch hier kann eine Vergleichbarkeit der eigenen Leistung mit denen anderer entstehen, und der daraus resultierende Druck, besser zu werden.

Glücksspiel

Bisher größtenteils exklusiv in Online-Games sind die Glücksspiel-Mechaniken. In „FIFA“ sind es sogenannte FUT-Packs (FIFA Ultimate Team), in „Genshin Impact“ wird die Mechanik „Beten“ genannt, in „Diablo Immortal“ sind es „Elder Rifts“. Verharmlosende Namen für Glücksspiel-Mechaniken, die alle nach einem ähnlichen Prinzip funktionieren: Mit Echtgeld wird sogenannte Ingame-Währung gekauft. Mit dieser Währung kann wiederum der Zugang zu beispielsweise Lootboxen erkauft werden. Das sind Kisten, die randomisierte Items bereithalten. Vor dem Kauf ist jedoch nicht einsehbar, welches Item das ist.

Wie bei einem Spielautomaten kaufen die User also unter Umständen eine Lootbox nach der anderen, um ein möglichst rares Item zu erhalten, – das den User oder die Userin dann herausstellt und somit den Druck für andere erhöht, dieses Item auch zu besitzen.

Wie bei einem Spielautomaten kaufen die User unter Umständen eine Lootbox nach der anderen, um ein möglichst rares Item zu erhalten. Bild: Activision Blizzard, Spiel: Overwatch.

Gefährliche Mechanismen für die geistige Gesundheit

All diese Mechanismen sind in den verschiedenen Sozialen Medien und Online-Games unterschiedlich ausgeprägt. Auch werden sie inzwischen von vielen anderen Apps benutzt: Von Meditation über Finanzen oder Dating – überall geht es darum, mit Notifications und Belohnungssystemen Bindung herzustellen, die besonders für anfällige Menschen so leicht nicht mehr zu unterbrechen sind. Es kann eine Abhängigkeit nach Technologien entstehen, die vorgeben, dazu da zu sein, soziale Kontakte herzustellen oder Spielspaß zu bieten. Deshalb ist die potenzielle Gefahr hinter diesen Addictive Technolgies vielen nicht bekannt. Die Folgen können gravierend sein. Studien deuten darauf hin, dass eine häufige Nutzung von Sozialen Medien die Wahrscheinlichkeit erhöht, an Depressionen zu erkranken. Die Abhängigkeit zu erkennen, ist nicht einfach, da besonders die Sozialen Medien zum Alltag der meisten Menschen gehören. Ein gesunder Umgang mit diesen Medien kann jedoch in einer Verhaltenstherapie erlernt werden.

Bist du dir nicht sicher, ob du unter einer Tech-Addiction leidest? Eine erste Anlaufstelle kann der Fachverband Medienabhängigkeit sein.

Weiterlesen Aufmerksamkeits-Algorithmen – Die Zukunft der Sucht
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Aufmerksamkeits-Algorithmen – Die Zukunft der Sucht

Kompendium: Addictive Technology

Aufmerksamkeits-Algorithmen – Die Zukunft der Sucht

Bild: Todd McCann, (CC BY 2.0)

Dr. Daniel Illy ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie. Besonders beschäftigt er sich mit Abhängigkeit zu Videospielen und sozialen Medien. Er denkt, dass diese Technologien in den kommenden zehn Jahren noch weiter um sich greifen werden – und dass es zur Vorbeugung vor allem Aufklärung braucht.

Früher waren es Bücher oder Fernsehen, heute sind es soziale Medien und Online-Games, die im Zentrum der Sucht-Debatte stehen. Ist das ein ähnlich aufgeblasenes Phänomen?

Da ich mich beruflich mit der Abhängigkeit zu diesen Technologien beschäftige, ist mein Blick darauf etwas verzerrt. Natürlich ist es auch OK, phasenweise viel zu spielen oder sich in den sozialen Medien aufzuhalten. Wie die Geschichte ja zeigt, sind diese Süchte auch immer Kinder ihrer Zeit. Ein neues Medium macht erst einmal Angst, besonders dann, wenn es sehr populär wird. Darum war die Idee, süchtig nach Büchern zu sein, vor Hunderten Jahren eben auch nicht abwegig. Der Unterschied aber ist, dass diese neuen Technologien psychologisch so designt sind, dass sie Menschen hineinziehen und nicht mehr loslassen sollen. Das gesamte Geschäftsmodell der großen Unternehmen beruht darauf, dass die Nutzer viel Zeit auf den Plattformen verbringen – am besten gar nicht merken, wie lange sie schon dabei sind. Ständig gibt es neue Content-Vorschläge oder Belohnungen fürs Dranbleiben. Die Timeline ist endlos. Und die Algorithmen, die dahinter stecken, sind nicht einsehbar und kaum kontrolliert.

Zehn Jahre in die Zukunft geblickt: Wie denken Sie, werden Addictive Technologies dann aussehen?

Der Trend, den wir aktuell schon sehr stark erleben, wird weiter zunehmen. Vielleicht laufen wir dann alle mit VR- oder AR-Devices herum und sehen über dem Kopf eines Users, wie viele Twitter- oder Instagram-Follower er hat. Besonders die Idee des Metaverse macht mir da Angst: Blockchain-betriebene Parallelwelten, auf die die Gesetze eines Staates kaum noch einwirken können. Schon heute ist ein Messenger wie z. B. WhatsApp eine unkontrollierte Plattform. Obwohl sie erst ab 16 ist, nutzen sie sehr viele Kinder, weil die Eltern es gar nicht wissen. Diese Technologien werden in der Zukunft aber sicher noch viel mehr in unserem Leben integriert sein. Es braucht also viel Aufklärung, um das Suchtpotenzial dieser Plattformen offenzulegen.

“Der Trend, den wir aktuell schon sehr stark erleben, wird weiter zunehmen. Vielleicht laufen wir dann alle mit VR- oder AR-Devices herum und sehen über dem Kopf eines Users, wie viele Twitter- oder Instagram-Follower er hat”, sagt Dr. Daniel Illy. Bild: Daniel IIly.

Denken Sie, dass die Plattformanbieter in Zukunft selbst diese Verantwortung übernehmen werden?

Das bezweifle ich. Es gibt leider auch heute, kurz vor Etablierung der Diagnose Gaming Disorder, noch einige Vertreter:innen der Gaming-Industrie, die das Abhängigkeitspotenzial von Videospielen leugnen. Damit erinnern sie an die Tabak-Industrie, die erst nach staatlichem Einschreiten entsprechende Warnungen auf ihre Verpackungen gedruckt haben. Sicherlich gibt es Spiele, die nach einer Stunde mal nachfragen, ob man nicht eine kurze Pause einlegen möchte. Auch auf Plattformen wie Instagram erscheinen inzwischen Warnungen, wenn man etwa nach Depressionen sucht. Dann werden Anlaufstellen angezeigt, an die man sich wenden kann. Aber das sind Maßnahmen, die nichts an den grundlegenden Mechaniken ändern. Denn mit denen machen die Unternehmen ihr Geld. Jede Einschränkung würde Umsatzverlust bedeuten, solang verbrachte Zeit und getätigte Interaktionen die wichtigsten Maßstäbe bleiben.

Was würde es für das Suchtpotenzial dieser Technologien bedeuten, wenn sie mit VR und AR intensiver werden, sich an den Abhängigkeitsmechaniken aber nichts ändert?

Es fehlt dann der reale Abgleich. Die Technik ist dann sinnvoll, wenn sie sich verzahnen lässt: Eine AR-App, mit der man sehen kann, wie ein bestimmtes Sofa in meinem Wohnzimmer aussehen würde. Da ist der Fokus auf der Realität. Wenn ich aber nur noch in VR rumhänge und nur da Kontakte habe, dann merke ich ja gar nicht mehr, dass ich ein Problem habe. Das lässt sich auf viele Bereiche unseres Lebens ausweiten. Exzessiver Pornokonsum etwa wird immer drastischer, je immersiver die Technologien werden. Oder auch die Werbung. Auf Plakaten ist es verboten, sich direkt an Kinder zu wenden: Sag deinen Eltern, dass du den Schokoriegel haben willst. In einem unkontrollierten Metaverse ist das aber möglich. In 200 Jahren wird sich die Werbeindustrie kaputtlachen, dass wir so lange nur zwei Sinne angesprochen haben. Haptik, Geruch, vielleicht sogar Chips im Gehirn – die Addictive Technologies werden, wenn sie nicht eingeschränkt werden, unser Verhalten stark verändern.

Ähnlich wie zunächst die Tabak-Industrie, die erst nach staatlichem Einschreiten entsprechende Warnungen auf ihre Verpackungen druckte, leugnet die Gaming- und Social Media Industrie das Abhängigkeitspotenzial ihrer Produkte. Bild: Ingo Doerrie.

Im ICD 11 (International Classification of Diseases) soll Gaming Disorder erstmals als psychische Erkrankung aufgeführt werden. Denken Sie, dass Gaming und auch Internet Disorder in zehn Jahren zu den häufigsten Diagnosen gehören wird?

Aktuell gibt es etwa zwei bis drei Millionen Betroffene in Deutschland, aber viel zu wenig Therapeuten und Therapeutinnen, Ärzte und Ärztinnen, die sich damit auskennen. Wenn wir nicht in die zunehmende Unterversorgung steuern wollen, ist jetzt die Zeit zu handeln. Denn die Zahlen werden erst einmal nach oben gehen – das zeigen erste Daten aus den Lockdowns der Covid-19-Pandemie. Wenn Haus- und Kinderärzte bald die Diagnose „Computerspielstörung“ vergeben werden, ist das zunächst positiv. Meine Hoffnung ist, dass die Diagnose dafür sorgen wird, dass mehr Menschen hinschauen. Das Perfide an Addictive Technologies ist, dass sie keinen direkten Hangover erzeugen. Wer zu viel Alkohol trinkt, wird das am nächsten Tag spüren. Es gibt eine direkte körperliche Reaktion. Die bleibt hier aber aus. Heute wissen die meisten Menschen, dass es nicht gut ist, zu viel zu trinken. Natürlich konsumieren immer noch viele Alkohol, aber sie kennen dann zumindest die Risiken. Es ist aber ein langer Prozess, um da hinzukommen.

Aktuell gibt es etwa zwei bis drei Millionen von Gaming Disorder betroffene Menschen in Deutschland, aber viel zu wenig Therapeuten und Therapeutinnen, Ärzte und Ärztinnen, die sich damit auskennen. Bild: Ella Don.

Ich mache mir eher Sorgen. Aber gleichzeitig: Je mehr Aufmerksamkeit es gibt, desto mehr können wir tun. Man kann es ja behandeln, muss nicht abhängig bleiben. Spätestens wenn wir ein Metaverse haben, muss es Einschränkungen für die Unternehmen geben. Keine Glücksspiel-Mechaniken mehr, keine endlosen Timelines, die immer drastischere Inhalte hervorbringen. Da ist dann auch der Staat gefragt, entsprechende Gesetze zu verabschieden. Bei Online-Games etwa sollten diese Mechaniken dafür sorgen, dass die Spiele erst ab 18 sind. Als Videospiele bei übermäßiger Brutalität noch indiziert wurden, hat das immerhin dafür gesorgt, dass die Hersteller angepasste Versionen auf dem deutschen Markt veröffentlicht haben. Auch wenn ich die „Killerspieldebatte“ schon damals als selbst von Pauschalität und Stigmatisierung betroffener Jugendlicher überzogen fand. Genauso sind aber auch die User gefragt. Es gilt, die Plattformen abzustrafen, die uns nicht guttun. Und das geht nur, wenn alle wissen, wie eine Abhängigkeit zu diesen Technologien aussieht.

Dr. Daniel Illy ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Als erfahrener Videospieler beschäftigt er sich besonders mit den Abhängigkeiten von Online-Games. In „Behandlungsmanual Videospiel- und Internetabhängigkeit” legt er mit Co-Autor Jakob Florack konkrete Handlungsempfehlungen dar, mit denen Jugendliche und junge Erwachsene eine Teilabstinenz erreichen können.

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Chip im Hirn statt Ecstasy – wenn der Rausch Teil des Körpers wird

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Chip im Hirn statt Ecstasy – wenn der Rausch Teil des Körpers wird

Bild: Mo

Werden Addictive Technologies in 50 Jahren Teil unseres Körpers sein? Als Chip im Gehirn? Und wie würden sich unsere täglichen Süchte dadurch ändern?

50 Jahre in der Zukunft: Spritzen auf Spielplätzen und unter den Brücken sind verschwunden. Koks-Taxis sind kaum noch gefragt. Denn in den Gehirnen vieler Menschen sind Chips verbaut, die für den direkten Rausch sorgen. Keine synthetischen Drogen sind mehr nötig. Die sozialen Medien sind immer mehr Teil unseres Körpers geworden und jederzeit abrufbar. Und wenn wir krank werden, sorgen kleine Bots in unseren Blutbahnen direkt für Gesundung. Ist das Utopie oder Dystopie – und ist das überhaupt realistisch? Wir haben Dr. Gabriele Werner-Felmayer vom Biozentrum der Medizinischen Universität Innsbruck dazu befragt.

Addictive Technologies werden immer handlicher und mobiler – wir können sie schon jetzt überall mit hinnehmen. Ist es da unvermeidlich, dass sie immer mehr Teil unseres Körpers werden?

Das ist natürlich schwer vorhersehbar – so wie die jetzige Situation vor 20 Jahren auch noch total unvorhersehbar war. Aus biomedizinischer Sicht ist es aber interessant, wie die Technologien uns beeinflussen und bestimmte Fähigkeiten fördern und abschwächen. Denn das bedingt wiederum, welche Technik wir in Zukunft als normal empfinden und welche nicht. Als Beispiel: Für meinen Großvater war es noch aufregend, sich in ein Auto zu setzen. Für mich aber schon nicht mehr. Generationen, die mit bestimmten Addictive Technologies aufwachsen, empfinden diese also als selbstverständlich. Dann fühlt sich der nächste Schritt, wie zum Beispiel Chips im oder Prothesen am Körper zu haben, nicht mehr so radikal an.

Wie könnte sich unser Umgang mit Sucht verändern, wenn wir in 50 Jahren beispielsweise die Sozialen Medien durch einen Chip abrufen können und dafür kein Smartphone mehr brauchen?

Die Anfänge davon sehen wir heute schon. Das Sprichwort, dass viele mit ihrem Smartphone verwachsen sind, ist ja sehr geläufig. Aber je näher Addictive Technologies an unsere Körper rücken, desto wichtiger wird es wohl, Sucht neu zu definieren. Denn sobald etwas zum Erfordernis wird, ist auch eine Abhängigkeit da. Es ist heute schon fast unmöglich, kein Smartphone zu haben, wenn man nicht auf eine gewisse Teilhabe verzichten möchte. Allein das Reisen wird dadurch so viel einfacher: Tickets kaufen und vorzeigen, Anschluss-Züge prüfen, die Hotel-Verfügbarkeit checken und vieles mehr. Dass unsere Körper immer mehr mit Maschinen, konkret elektronischen Bauteilen, verschmelzen, ist ja auch eine Idee des Transhumanismus, die es ja nun schon länger gibt. Ich halte es aber für eine ziemlich elitäre Bewegung, denn es werden große Gruppen ausgeschlossen: Wer in 50 Jahren keine Chips im Körper will oder sie sich nicht leisten kann, der wird wahrscheinlich auf gewisse Weise ausgeschlossen werden. Es ist dann also nicht mehr unbedingt eine Sucht nach Likes oder Ablenkung wie heute, sondern eine noch größere Abhängigkeit von den Technologien.

“Wie die Technologien uns beeinflussen und bestimmte Fähigkeiten fördern und abschwächen, bedingt, welche Technik wir in Zukunft als normal empfinden und welche nicht”, sagt Dr. Gabriele Werner-Felmayer vom Biozentrum der Medizinischen Universität Innsbruck. Bild: D. Bullock/MUI.

Wäre es denkbar, dass wir irgendwann Computerchips im Hirn haben, die einen Rausch auslösen können und somit synthetische Drogen ersetzen?

Das halte ich durchaus für technisch möglich. Es gibt heute bereits Implantate für Menschen mit Parkinson, da kann der Tremor auf Knopfdruck ausgeschaltet werden. Bestimmte Zentren im Hirn können also so stimuliert werden. So ließe sich sicher auch ein Rausch erzeugen, wenn wir die neuronalen Hintergründe im Detail verstehen. Damit nicht mehr auf synthetische Drogen angewiesen zu sein, liegt also durchaus nah. Die interessantere Frage ist aber: Was passiert, wenn wir diesem Reiz dann ständig ausgesetzt sind? Ich könnte mir vorstellen, dass sich für Menschen, die das ständig nutzen würden, eine Notwendigkeit einstellt, – also wieder eine Sucht. Dann ginge es nur noch darum, das Lustempfinden zu sättigen. Weitergedacht würden wir irgendwann nur noch still dasitzen und uns die Reize der Welt in den Kopf holen. Scheinbar die absolute Autonomie. Aber das wäre ein Missverständnis. Denn dann vertrauen wir nur noch der Technologie und verlieren das Gespür für uns selbst.

Wir tragen heute Wearables und überwachen ständig unsere Körperfunktionen. Das kann auch zu einer Abhängigkeit werden. Wie kann das in 50 Jahren aussehen?

Vielleicht werden wir uns mit Technologie zukünftig selbst das Blutbild erstellen. Oder haben winzige Bots, die durch unsere Adern schwirren und zum Beispiel essentielle Fettsäuren absondern, wenn der Körper das braucht. Das sind Gedankenspiele, wie Technologie zukünftig unsere Gesundheit beeinflussen könnte. Aber auch da können Süchte entstehen. Zum Beispiel danach, keinen Schmerz mehr zu empfinden. Es sich so bequem wie möglich zu machen. Das sehen wir ja auch heute schon: Ich war kürzlich wandern und auf einer Wanderkarte war Werbung für ein Mittel gegen Knieschmerzen. Geh auf den Berg, aber spür dein Knie nicht mehr! Technologie kann da zukünftig einen gut vorbereiteten Platz einnehmen – und zu neuen Abhängigkeiten führen.

Besser, schneller, größer: Dass wir in Zukunft den Rausch durch einen Chip im Gehirn ersetzen können, hält Expertin Dr. Gabriele Werner-Felmayer für durchaus möglich. Bild: John Cameron.

Wenn wir den Addictive Technologies entkommen wollen, wäre es legitim, schon auf genetischer Basis die entsprechenden Rezeptoren und Botenstoffe zu beeinflussen?

Man könnte Sucht wahrscheinlich relativ gut auf genetischer Basis einschränken. Durch Bio-Engineering lässt sich heute schon in Theorie und auch Praxis recht viel verändern. Stichwort Gentherapie, die zur Behandlung einiger Erkrankungen sehr aussichtsreich erscheint. Es wurden bereits Genvarianten entdeckt, die einige Menschen anfälliger für Süchte machen könnten. Wieso die also nicht einfach verändern und dann zukünftig eine suchtfreie Menschheit haben? Technologie also, die dann die Addictive Technology zähmt. Das bringt natürlich viele ethische Probleme mit sich, abgesehen davon, dass die Ursachen für Sucht nicht allein in Genvarianten liegen. Aber ich sehe da auch ein anderes Hindernis. Für so ein Vorgehen würde wahrscheinlich die Lobby fehlen. Ein potenziell süchtiges Subjekt ist ja Voraussetzung für den Absatz bestimmter Produkte. Wenn also das, was heute Soziale Medien oder Online-Gaming ist, gar keinen anziehenden Reiz mehr hätten, würden sie verschwinden. Das halte ich für unwahrscheinlich.

Wie lautet also Ihr Fazit?

Die Idee, genetischer bzw. technologischer Optimierung verweist auf eine andere Sucht: Es geht um Ermächtigung und Kontrolle des vom Verfall bedrohten Körpers. Eine Form von Drang und Trieb, sich selbst als Spezies zu erhalten und dabei den Zumutungen des Lebens zu entkommen. Der Mensch nimmt das einfach selbst in die Hand. Das ist eine Überlebens-Sucht und ein alter Traum der Menschheit. Ich bezweifle aber, dass er zu verwirklichen ist oder auch nur ein erstrebenswertes Ziel darstellt.

Dr. Gabriele Werner-Felmayer forscht an der Schnittstelle von Biomedizin und Gesellschaft. In verschiedenen Publikationen hat die gelernte Mikrobiologin sich den wechselseitigen Beziehungen zwischen Genetik, Märkten, Gesellschaften und Identitäten in Genetik und Genomik genähert.

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