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Hinduistische Sadhus leben asketisch und bestreiten ihren Unterhalt mit Spenden. Bild: Fares Nimri

Besser arm und religiös, als arm und atheistisch

Eine Studie der Universität Mannheim zeigt, dass arme Menschen in armen Ländern besser dran sind, als in reichen Ländern. Woran liegt das und wie kann Abhilfe geschaffen werden? 

Wie viel Geld man zur Verfügung hat, ist ausschlaggebend dafür, wie zufrieden man ist. In den Sozialwissenschaften galt bisher die Annahme, dass die psychologische Last der Armut in Entwicklungsländern schwerwiegender ist, als in reichen Industrienationen. Diese Annahme wurde nun durch eine großangelegte Studie mit mehr als 3,3 Millionen Menschen aus über 150 verschiedenen Ländern widerlegt. 

Es ist einfacher, arm in einem armen Land zu sein, als in einem reichen Land, das zeigt die Studie. Bisher wurde angenommen, dass dieser Effekt sich mit wirtschaftlichem Aufschwung verringern würde, doch das ist nicht der Fall. Der Grund: Religion.

Es ist einfacher, arm in einem armen Land zu sein, als in einem reichen Land, das zeigt die Studie. Bisher wurde angenommen, dass dieser Effekt sich mit wirtschaftlichem Aufschwung verringern würde, doch das ist nicht der Fall. Der Grund: Religion. Bild: Ruth Gledhill

Religion auf dem Rückzug?

In Entwicklungsländern ist Religiosität weiter verbreitet als im Westen. Seit einigen Jahren befindet sich Religion in Industrienationen wie Deutschland oder den USA auf der Talfahrt. In Europa ist bereits vom „Rückzug der Religion“ und einerzunehmenden Säkularisierung“ die Rede. Gehörten 1965 laut der Bundeszentrale für politische Bildung noch über 95 Prozent der Bevölkerung in Deutschland entweder der katholischen oder evangelischen Kirche an, sind es 2019 nur noch knapp 52 Prozent.

Doch der globale Vergleich zeichnet ein ganz anderes Bild: 84 Prozent der Weltbevölkerung gehört einer Religion an; gerade einmal 16 Prozent ist nicht religiös. Wägt man diese Zahlen mit dem Bevölkerungswachstum der religiösen Weltbevölkerung und dem Bevölkerungsrückgang des Westens ab, wird deutlich: Während der Westen vom Glauben abfällt, wird die Welt tendenziell immer religiöser. 

Gerade deshalb ist die Studie für den Westen alarmierend, unterstreicht sie doch die Verletzlichkeit und das niedrige Wohlbefinden von armen Menschen in der Abwesenheit von Religion. Sie zeigt, dass der wirtschaftliche Aufschwung eines Landes entgegen aller Vermutungen keine Heilung für die psychologische Last von Armut ist. Religionen hingegen, ihre Normen und Gemeinschaften steigern das mentale Wohlbefinden im Angesicht der Armut und schaffen Abhilfe.

„Der Glaube federt die Auswirkungen von Armut ab, indem er den betroffenen Menschen Trost und Zuversicht spendet“, sagt Psychologin Berkessel der Universität Mannheim, die an der Studie beteiligt war. „Gleichzeitig wird in religiöseren Ländern monetärem Reichtum ein geringerer gesellschaftlicher Wert zugemessen.“

Während der Westen vom Glauben abfällt, wird die Welt immer religiöser. Im Islam ist die obligatorische Almostensteuer Zakat eine der fünf Säulen der Religion. Bild: Ekrem Osmanoglu

Hat der Kapitalismus im Westen den Glauben ersetzt?

Reichtum und Erfolg haben im Westen einen höheren Stellenwert, als in Entwicklungsländern, wird in der Studie vermutet. Die These, dass Geld die Religion des Westens ist, deutet der Soziologe Max Weber bereits Anfang des 20. Jahrhunderts an. 

Weber beschrieb, dass die Menschen im Westen vom Geist des Kapitalismus durchdrungen seien und das Streben nach möglichst hohem Geldgewinn nichts mit dem Kapitalismus zu tun habe, sondern mit Religion. Religion selbst, so Weber, sei eine Voraussetzung für die Entstehung für den modernen, westlichen Kapitalismus gewesen. Seine These scheint in der Studie der Mannheimer Universität erneute Relevanz zu finden, da im reichen Deutschland die Leistungsgesellschaft und das Streben nach Erfolg den Glauben vollkommen ersetzt zu haben scheinen. 

Das Problem ist, dass diejenigen, denen Reichtum und Erfolg verwehrt bleiben, doppelt leer ausgehen: Ohne Geld und ohne Religion, ohne wirtschaftlichen und psychologischen Rückhalt. Deutschland ist zwar reich, doch der Reichtum ist in Deutschland sehr ungleich verteilt, wie die Deutsche Welle berichtet. Zehn Prozent der Bevölkerung besitzen 60 Prozent der Vermögenswerte, während die unteren 50 Prozent gerade einmal 2,4 Prozent der Vermögenswerte besitzen. Die Kluft zwischen Armen und Reichen geht auch in Deutschland immer weiter auseinander. Dieser Trend hat sich während der Pandemie nur verstärkt.

Was passiert mit denjenigen, die nicht privilegiert sind, nicht dieselben Chancen hatten oder aus anderen Gründen arm sind? Laut Statistischem Bundesamt war 2018 fast jede*r Sechste (15,8 Prozent) in Deutschland arm. Über 860.000 Menschen in der Bundesrepublik sind wohnungslos, Tendenz steigend. Zum Vergleich: Ende der 1990er-Jahre lebten knapp 11 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. 

Wer einmal arm ist, bleibt arm

Wer einmal unter die Armutsgrenze rutscht, verbleibt dort immer länger, so das Statistische Bundesamt. Von den Personen, die im Jahr 2018 unter die Armutsrisikoschwelle fielen, waren 88 Prozent bereits in den vier Jahren zuvor dort. Gleichzeitig hat sich der Anteil der dauerhaft von Armut bedrohten Personen an allen Armen in den vergangenen zwanzig Jahren mehr als verdoppelt: 1998 betrug er noch 20 Prozent, 2018 waren es 44 Prozent. Das Risiko, in Armut zu leben, ist besonders hoch für Alleinerziehende (41 Prozent), Menschen mit Hauptschulabschluss und ohne Berufsabschluss (35 Prozent) und Menschen mit Migrationshintergrund (29 Prozent). 

Fast jeder sechste in Deutschland ist arm, über 860.000 Menschen in der Bundesrepublik sind wohnungslos. Bild: Nick Fewings

Wie sollen politische Entscheidungsträger*innen und Wissenschaftler*innen nun mit dieser Information umgehen? Eine ganze Weltregion fällt vom Glauben ab und ein signifikanter Teil ihrer Bevölkerung leidet darunter. Menschen strömen in Scharen ins reiche Europa, in Hoffnung auf ein besseres Leben, doch viele von ihnen finden keinen Halt. Das Land wird reicher, aber die Armen ärmer. Wie kann die Politik angesichts steigender Armut und sinkender Religiosität Abhilfe und Strukturen schaffen, die die psychische Last der Armut mindern? Glaubt nicht an Gott, sondern an Geld, würde Weber vielleicht spekulieren. Doch das macht nur diejenigen glücklich, die Geld haben. Brauchen wir ein modernes Comeback des Glaubens?