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Biologisches Alter – Was ist dran an den teuren Tests?

Ob mithilfe eines Fragenkatalogs im Internet, eines Speicheltests oder von Blutergebnissen – das biologische Alter motiviert zum behutsameren Umgang mit dem eigenen Körper. Denn anders als das Lebensalter kann es jederzeit sinken oder steigen. Von der Hoffnung auf eine gesunde Zukunft.

Von Nahrungsergänzungsmitteln über Fitness-Uhren und Schlaf-Ringen bis hin zu Nahrungsunverträglichkeitstests – seit der Pandemie misst die Menschheit ihrer eigenen Gesundheit einen höheren Stellenwert bei. Das zeigen Verbrauchertrends der letzten Jahre, die sich zugunsten eines gesteigerten geistigen und körperlichen Wohlbefindens verlagert haben. Mittendrin: Das biologische Alter als Richtwert der persönlichen Erfolge. Es orientiert sich am durchschnittlichen Alterungsprozess der Menschheit und beziffert den körperlichen Verfall. Übersteigt das biologische Alter das chronologische Alter, so altert ein Mensch schneller als gewöhnlich. Seine Zellen ähneln denen einer älteren Person.

Dass manche Menschen schneller und andere langsamer altern, ist Forscher:innen schon lange bewusst. Denn Umwelteinflüsse, Lebensstil und genetische Veranlagung haben einen Einfluss auf die Alterungsprozesse des Menschen. So versuchten Forscher:innen zunächst, das biologische Alter anhand des Zustands der Telomere, also der Endstücke der Chromosomen, abzulesen. Diese Methode erwies sich schnell als fehlbar, denn die Telomere sind letztlich nur ein Biomarker unter vielen, die für das biologische Alter relevant sind. Neuere Tests wenden daher Algorithmen an, die gleich mehrere Biomarker betrachten. Und das scheint tatsächlich zu funktionieren. Anhand der Daten der über tausend Teilnehmenden der Dunedin Multidisciplinary Health and Development Study konnten Forscher:innen ihre Berechnungen kontrollieren. Seit ihrer Geburt 1972/73 werden die Proband:innen alle paar Jahre untersucht. Die Körperfunktionen jener Kandidat:innen, denen bereits in jungen Jahren ein höheres biologisches Alter diagnostiziert wurde, ließen demnach wirklich früher nach – sie alterten schneller.

Manche Menschen altern schneller, andere langsamer, da sind sich Forscher:innen einig. Denn Umwelteinflüsse, Lebensstil und genetische Veranlagung haben einen Einfluss auf die Alterungsprozesse des Menschen. Bild: Lucian Alexe

Selbsttests lassen in Windeseile um Jahre altern

In Deutschland avanciert das biologische Alter seit der Entwicklung des ersten Selbsttests 2018 zum gängigen Konzept. Heute haben Interessierte die Wahl zwischen DNA-Selbsttests von verschiedenen Anbietern. Für diese zahlen sie eine Menge Geld – und erfahren nicht wirklich viel Neues. Denn das eigene Gefühl des Wohlergehens und die Ergebnisse des Tests stimmen durchaus überein. „Wer sich gut, gesund und fit fühlt, der ist mit klarer Tendenz biologisch jünger als chronologisch“, so Carsten Claussen. Zusammen mit seinen Kolleg:innen vom Fraunhofer-Institut für Translationale Medizin und Pharmakologie ITMP in Hamburg hat er 2018 den cerascreen DNA-Test entwickelt. Dieser wird seither für 194 Euro als Selbsttest für zuhause angeboten. Das Versprechen: Innerhalb von vier bis sechs Wochen erfahren Nutzer:innen, wie es um ihr biologisches Alter bestellt ist.

Wer sich gut, gesund und fit fühlt, der ist mit klarer Tendenz biologisch jünger als chronologisch“, so Carsten Claussen. Zusammen mit seinen Kolleg:innen vom Fraunhofer-Institut für Translationale Medizin und Pharmakologie ITMP in Hamburg hat er 2018 den cerascreen DNA-Test entwickelt.

Mit der gewonnenen DNA führt das Gesundheitsunternehmen cerascreen eine epigenetische Analyse durch. „Dafür haben wir von den 850.000 CpGs, die es gibt, gewisse altersrelevante CpPs identifiziert. Es geht dann darum, deren Zustand zu analysieren“, führt Claussen aus. Der entworfene Algorithmus berechnet mithilfe dieses Zustands dann ganz automatisch ein Plus oder Minus in Jahren gegenüber dem chronologischen Alter. „Das Ziel eines solchen Tests sollte sein, jünger älter zu werden. Das biologische Alter könnte dabei ein messbarer Indikator dafür sein, dass man seine Lebensumstände anpassen sollte“, sagt Claussen.

Interessierte drehen ihre biologische Uhr innerhalb kurzer Zeit zurück

Trotz des hohen Preises und der tendenziell überflüssigen Info greifen einige Interessierte aus eben diesem Grund zu den DNA-Tests. Immerhin erhalten Konsument:innen zusätzlich zum biologischen Alter auch eine Handvoll Tipps, wie sie sich jung halten können. Allerdings sind Health-Hacks wie abwechslungsreiche Ernährung mit wenig Zucker, Alkohol und Nikotin, viel Bewegung und wenig Stress wohl den meisten ohnehin geläufig. Eine Studie vom Institute for Functional Medicine in Washington hat sich das nochmal genauer angesehen und versucht, das biologische Alter der Teilnehmenden innerhalb von acht Wochen zu senken – mit Erfolg.

Die ausschließlich männlichen Kandidaten trieben über die Zeit der Studie jeden Tag mindestens dreißig Minuten Sport und führten entspannende Atemübungen durch. Zudem aßen sie möglichst wenig Kohlenhydrate, dafür umso mehr Gemüse und bemühten sich, zwischen 19 und sieben Uhr zu fasten. Nahrungsergänzungsmittel, ein probiotisches Präparat sowie mindestens sieben Stunden Schlaf rundeten das Programm ab. Die Kontrollgruppe lebte ihren Alltag derweil wie gewohnt weiter und alterte stetig, während das biologische Alter der Probanden mit Gesundheitskur um 1,96 Jahre sank. Sie konnten ihre biologische Uhr also innerhalb von acht Wochen um fast zwei Jahre senken.

Die Ärmeren bleiben immer weiter hinter den Reicheren zurück, wenn es um die Lebenserwartung geht. Die Zahl der durchschnittlich im Alter 65 noch zu erwartenden Lebensjahre nimmt für die Männer in der obersten Einkommensgruppe stärker zu als für die in der untersten. Daten: Deutsche Rentenversicherung. Quelle: Max-Planck-Institut für Demographische Forschung

Sozioökonomisch benachteiligte Menschen altern schneller

Das biologische Alter soll Menschen aufgrund seiner flexiblen Anpassung an den persönlichen Gesundheitsstatus motivieren. Die Verheißung: Auch wenn du schon auf die 50 zugehst, kannst du es mit wenigen Mühen auf ein biologisches Alter von 32 schaffen. Das kann allerdings auch für erhöhten Stress sorgen, gibt Biomathematiker Steve Horvath gegenüber The Guardian zu bedenken. Er selbst hat bereits 2013 eine epigenetische Uhr entwickelt, die die Ermittlung des biologischen Alters besonders leicht macht. Da es bisher keine Interventionsmöglichkeiten gibt, die das Altern verlässlich aufhalten oder verlangsamen, hält er den Wert für Durchschnittspersonen allerdings für überflüssig. Wenn Menschen dennoch neugierig sind, sollten sie ihr Testergebnis immerhin mit Vorsicht genießen, schließlich spielen viele Komponenten eine Rolle. „Ich kann sagen: Weißt du was, mein chronologisches Alter ist viel älter, aber eigentlich habe ich einen wirklich guten Blutdruck”, sagt Horvath.

Ein näherer Blick auf die gesundheitlichen Maßnahmen der Verjüngungs-Studie vom Institute for Functional Medicine offenbart außerdem den klassistischen Aspekt des Alterns – denn gesunde Ernährung, Urlaub in der Natur, Nahrungsergänzungsmittel sowie probiotische Präparate muss man sich erstmal leisten können. Zudem sorgt Armut für erhöhten Stress, was Betroffene demnach mit noch mehr Atemübungen und Bewegung ausgleichen müssten. Auch bei negativen Umwelteinflüssen ziehen ärmere Menschen oft den Kürzeren. Günstiger Wohnraum ist häufig mit mehr Lärm und Abgasen verbunden. Und für eben diese Menschen ist ein Selbsttest wie von cerascreen, der das biologische Alter zusammen mit Ratschlägen für ein gesünderes Leben verkündet, ebenso unbezahlbar wie unbrauchbar.

Der Traum vom ewigen Leben

Die privaten Tests jetzt mal beiseitegelegt, wird die Messung des biologischen Alters eigentlich für die Forschung gebraucht. „Wenn Altersforscher:innen Vorbeugestrategien gegen die typischen Alterserkrankungen entwickeln möchten, brauchen sie ein Instrument, um den Erfolg entsprechender Interventionen zu messen“, so Ludger Jansen. Er ist Philosoph und lehrt als Privatdozent an der Universität Rostock. Dort widmete er sich unter anderem der Wissenschaftsphilosophie der Alterungs- und Gesundheitsforschung. Mit Blick auf die alternde Bevölkerung handelt es sich dabei um ganz besonders relevante Themen. Schließlich soll sich die globale Bevölkerung von 80 Jahren und älter bis 2050 mehr als verdreifachen. Die Weltgesundheitsorganisation hat aufgrund dieser Prognose bereits vor einer Überlastung der Gesundheitssysteme gewarnt.

Der britische Altersforscher Aubrey de Grey ist sich derweil sicher: Der erste Mensch, der 1.000 Jahre alt wird, wurde bereits geboren. De Grey empfindet das Altern als Krankheit, die es zu heilen und stoppen gilt. Mit seiner Stiftung SENS Research Foundation verpflichtet er sich diesem Kampf. Und damit ist er nicht allein – auch der britische Biogerontologe David Gems, der am UCL Institute of Healthy Ageing als Forschungsdirektor arbeitet, geht davon aus, dass es in Zukunft Medikamente geben wird, die das Altern verlangsamen und die Gesundheit alter Menschen nachhaltig verbessern. Mithilfe des biologischen Alters können die beiden Wissenschaftler in Zukunft ganz einfach und unkompliziert den Fortschritt ihrer Bemühungen untersuchen.

Mehr Qualität für sozioökonomisch Benachteiligte statt Quantität für Reiche

Philosoph Jansen ist der festen Überzeugung, dass der Umgang mit dem biologischen Alter und die gesundheitliche Selbstoptimierung in naher Zukunft ganz selbstverständlich sein werden. „So, wie wir irgendwann gelernt haben, prophylaktisch die Zähne zu putzen, um auch im hohen Alter noch kraftvoll zubeißen zu können, so werden wir in Zukunft eben entsprechende Maßnahmen haben und kommunizieren, die die breite Bevölkerung gegen Herzinfarkt oder Schlaganfall schützen“, prognostiziert der Philosoph. Bleibt zu hoffen, dass jene Prophylaxe-Maßnahmen für Menschen jeder Einkommensklasse anwendbar sind. Sonst tummeln sich in de Greys Zukunftsvision einer Menschheit mit 1.000-Jährigen womöglich lediglich reiche Leute.

Denn es braucht keinen Selbsttest, um uns diese traurige Wahrheit zu spiegeln: Arme Menschen altern schneller und sterben früher. Daran ändern (aktuell) auch überteuerte Messverfahren und Versprechen von Altersforscher:innen nichts. Das Konzept des biologischen Alters und insbesondere der Verlangsamung dessen ist und bleibt ein Survival of the Richest. Bevor wir uns an Menschen über 1.000 Jahre wagen, gilt es daher, ärmeren Personen die gleichen Möglichkeiten zu bieten. Statt also auf die Empfehlungen von Biogerontolog:innen zu warten, um das Altern der Menschheit aufzuhalten, sollten sich Staaten so schnell wie möglich dem vorzeitigen Altern und der Gesundheit ihrer verletzlichsten Bürger:innen annehmen.