Die Journalistin, Autorin und Aktivistin Franka Frei will mit Tabus rund um Menstruation und Reproduktion brechen – und schlüpft dafür auch gerne mal in ein riesiges Tamponkostüm. Im Interview mit Qiio erklärt sie, was es für eine verhütungsgerechte Zukunft braucht.
Franka, im Vorwort deiner Bachelorarbeit, die 2018 viral ging, hast du damals geschrieben: “Das Ziel ist eine Welt, in der Menstruation nicht mit Scham, Entmutigung oder dem Verlust der Würde in Verbindung steht.” Wie nah sind wir diesem Ziel seitdem gekommen?
In den letzten Jahren hat sich sichtlich etwas getan: Das Thema Menstruation bekommt immer mehr Aufmerksamkeit, medial, gesellschaftlich, wirtschaftlich, politisch und medizinisch. Angefangen mit der soganannten “Tamponsteuer”, die 2019 gesenkt wurde, über Diskussionen zu menstruationsfreundlicheren Arbeitsplätzen, kostenfreien Periodenprodukten und mehr dringend benötigter Forschungsgelder für Endometriose und geschlechtergerechtere Verhütung, die von Seiten der neuen Bundesregierung versprochen wurden. Erst letztes Jahr veröffentlichte Plan International [ein unabhängiges Kinderhilfswerk, Anm. d. Redaktion] eine große Studie, die zeigt, wie sehr das Menstruationstabu immer noch Schaden anrichtet – für 97 % ist öffentliches Auslaufen immer noch das “Worst-Case-Szenario”, jede vierte Befragte hat finanzielle Probleme bei der Beschaffung von Menstruationsprodukten und fast die Hälfte hat schon mal die Schule oder Arbeit wegen der Periode verpasst, was natürlich nicht nur für Frauen, sondern für die ganze Gesellschaft schlecht ist. Wir befinden uns auf dem richtigen Weg, das Ziel haben wir jedoch noch nicht erreicht.
In Florida soll es Schulen verboten werden, vor der 6. Klasse über Menstruation zu sprechen. Das stigmatisiert das Thema weiter – und das zudem an einem Ort, der eigentlich darüber aufklären sollte. Welche Orte und Menschen siehst du konkret in der Verantwortung, einen sicheren und angenehmen Austausch darüber zu garantieren? Wo siehst du hier klare Verfehlungen?
Gesellschaftlicher Wandel und Enttabuisierung passieren nicht von heute auf Morgen, sondern sind langfristige Prozesse. Dabei muss sich auf vielen Ebenen etwas verändern, nicht nur in den Köpfen, sondern auch in den politischen und wirtschaftlichen Strukturen – und zwar gleichzeitig. Schulische Aufklärung ist neben medialen Informations- und Aufklärungsangeboten und medizinischer Forschung dabei ein Schlüsselfaktor. Auch Menschen, die selbst nicht menstruieren, müssen für das Thema sensibilisiert werden – denn klar, auch die Jungs, die heute in der Schule sitzen, sind die Väter, Politiker und Gesundheitsminister von morgen. Die Hälfte der Weltbevölkerung hat einen Zyklus, Milliarden von Menschen bluten ca. fünf Tage im Monat. Das auszublenden, zu ignorieren und unsichtbar zu machen, reproduziert Scham, gesellschaftlichen Ausschluss und allgemein ungerechte Verhältnisse.
Du thematisierst immer wieder auch den historischen Wandel, den Tabus durchlebt haben. Was können wir von früheren Sichtweisen auf Tabus lernen?
Tabus sind super vielschichtige, komplexe und teilweise auch paradoxe Phänomene. Vieles, was irgendwann mal für “tabu” erklärt wurde, entspricht nicht mehr zeitgenössischen Vorstellungen einer sich für aufgeklärt und gleichberechtigt verstehenden Gesellschaft. Zum Beispiel reden wir viel offener über Sexualität und mentale Gesundheit und können Ungerechtigkeiten thematisieren, für die es vorher noch keine Worte gab. Das Interessante an Tabuthemen ist, dass sie uns als solche oft nicht mal (mehr) bewusst sind – wir halten uns für wahnsinnig aufgeklärt und denken “Darüber müssen wir doch gar nicht mehr sprechen”, bis wir merken, dass wir eigentlich kaum Ahnung haben, zum Beispiel wie der Menstruationzyklus oder die Pille funktioniert. Tabus haben immer viel mit unbewusstem Unwissen zu tun – und weil wir nicht über bestimmte Dinge reden, fehlt uns oft die Möglichkeit, unsere Gesundheit zu verbessern, Krankheiten vorzubeugen und uns einfach auch wohler und selbstbestimmter zu fühlen. Aber nicht jedes Tabu ist schlecht. Sie können uns auch schützen, vor Gewalt und Diskriminierung. Am Ende geht es um die Möglichkeit, selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen, selbst zu sehen, was gut für mich ist. Wie möchte ich leben und wie kann ich selbst so handeln, aber auch sich zu fragen, wie kann ich handeln, damit es Menschen in meinem Umfeld gut geht. Es geht um Autonomie, Verantwortung und Solidarität.
In deinem neuen Buch “Überfällig: Warum Verhütung auch Männersache ist.” geht es um ein anderes Tabu: die männliche Verantwortung beim Thema Verhütung während des Geschlechtsverkehrs. Was hast du herausgefunden: Wie steht es um männliche Verhütung (in Deutschland und weltweit)?
Schon Anfang der 50er – bereits vor der Entwicklung der ersten Antibabypille – gab es klinische Studien mit hormonfreien Substanzen und Warmwasserbädern für die Hoden mit vielversprechenden Ergebnissen. Dass Verhütung bei spermienproduzierenden Menschen sowohl hormonell als auch nicht-hormonell quasi genauso gut funktionieren kann wie bei Menschen mit Eizellen, ist also keine Neuerkenntnis. Heute gibt es unzählige Studien mit möglichen Mitteln für eine längerfristige, reversible Verhütungsmethode „für den Mann“. Der Wissenschaft sind mehr als 150 Ansätze bekannt! Doch seit dem Contergan-Skandal haben sich die Zulassungskriterien für Medikamente enorm verschärft. Auch Geschlechterrollenklischees und verrostete Vorstellungen von Männlichkeit verhindern Innovationen. Studien an Männern wurden immer wieder aufgrund von Nebenwirkungen abgebrochen, die für hunderte Millionen von Frauen gang und gäbe sind. Schuld daran sind jedoch nicht die oft als „weinerlich“ dargestellten Studienprobanden. Nebenwirkungen von Kontrazeptionsmitteln werden bei Männern in der Medizin anders bewertet, weil es heißt, dass sie am eigenen Leib keine Schwangerschaft samt all den gesundheitlichen Risiken befürchten müssen. Schon seit mehr als 40 Jahren heißt es, wir stünden in mit einer Art Pille für den Mann kurz vorm Durchbuch. Tatsächlich droht die Forschung dazu aber zum Erliegen zu kommen – auch wenn der immer wieder aufkommende Medienhype darum einen anderen Eindruck vermitteln mag. Der Grund dafür: Die Pharmaindustrie beteiligt sich nicht und ich kenne kein Medikament, das es ohne ihre Unterstützung auf den Markt geschafft hat. Beim Thema Verhütung geht es um weit mehr als nur Verantwortung beim Sex. Es geht allgemein um mehr Rücksicht und um ein gesamtgesellschaftliches Umdenken, weg von eigenem Profitdenken hin zu einem neuen Bewusstsein von sozialer Verantwortung. Übrigens auch nicht nur auf Geschlechterrollen bezogen.
Wer sind die Männer, die bereits eigenständig ihre Verhütung in die Hand nehmen, und was hat dich während deiner Gespräche mit ihnen am meisten überrascht?
In Frankreich wurde in den letzten Jahren eine regelrechte Welle losgetreten. Dort nutzen bereits tausende Männer einen hormonfreien Silikonring zur Verhütung, Tendenz steigend. Daran zeigt sich deutlich, dass Männer nicht nur hypothetisch dazu bereit wären, eines Tages eine Art Pille für den Mann zu nehmen, sondern es bereits tun. Und teilweise nehmen sie dafür sogar recht große Unannehmlichkeiten auf sich. Dem Erfinder des Verhütungsrings wurde z.B. mit Geld- und Gefängnisstrafen gedroht, wenn er das Mittel weiter als Verhütungsmethode verkauft (dazu braucht es sehr teure Studien und eine EU-Zulassung als Medizinprodukt). Dazu kommen gesellschaftliche Stigmatisierung (“Ein Mann, der sich die Hoden per Ring zurechtrückt? Pff!”) und die Ignoranz der Behörden (“Wir haben andere Sorgen!”). Und dennoch blieben die Aktivist:innen bis heute am Ball – und zwar aus purer Überzeugung. Mittlerweile wurde erreicht, dass Forschungsgelder aus den USA für klinische Studien locker gemacht werden. Zeitgleich haben vier Ingenieure aus Hessen jahrelang in ihrer Freizeit ein Gerät entwickelt, das durch den speziellen Einsatz von Wärme Spermien unfruchtbar macht. Die Prozedur haben sie an sich selbst erprobt, sie sei komplett schmerzfrei – und ausreichend, um für die nächsten sechs Wochen unfruchtbar zu sein. Zur Überprüfung wurde sogar eine App entwickelt, mit der sich von zu Hause ganz einfach ein eigenes Spermiogramm erstellen lässt. Damit zeigen sie, dass Verhütung für den Mann super einfach anzuwenden sein könnte – schmerz- und hormonfrei und dazu auch noch umweltschonend – die Pille hat nämlich nicht nur viele gesundheitliche Nebenwirkungen, sondern ist auch noch ein richtiger Umweltkiller. Sie trägt nachweislich mit ihrer hohen Hormondosis, die ins Grundwasser gelangt, zum Artensterben bei. In Kanada ist Forschenden zufolge bereits eine ganze Fischspezies ausgestorben, weil es durch den hohen Östrogenspiegel in den Flüssen kaum noch männliche Fische gibt. Und das ist für uns Menschen enorm gefährlich, denn mit jeder von dieser Welt verschwindenden Spezies nähern wir uns weiter einem Kollaps der Ökosysteme.
Du bringst immer wieder das Konzept der Verhütungsgerechtigkeit ins Spiel. Was meinst du damit genau?
Verhütung beruht traditionell nicht nur auf sexistischen, sondern auch auf rassistischen, klassistischen und ableistischen Strukturen. Verhütungsgerechtigkeit bedeutet demnach geschlechtergerechte, antirassistische und auch umweltgerechte Kontrazeption. Neben den ganzen feministischen Lobeshymnen auf die Pille sind die dunklen Hintergründe moderner Verhütung kaum bekannt. Viele Wegbereiter:innen moderner Verhütung waren bekennende Eugeniker:innen. Ihnen ging es darum, durch gezielte Geburtenkontrolle die menschliche „Rasse“ zu verbessern. Menschen, deren Erbgut als weniger gewünscht galt (darunter People of Color, rassifizierte und behinderte Menschen), sollten keine Nachkommen haben. Erste Forschungsversuche mit Hormonen fanden an inhaftierten Frauen in Ausschwitz statt. Die klinischen Studien für die erste Antibabypille führte man in Puerto Rico durch. Die meisten Probandinnen wurden damals nicht darüber aufgeklärt, dass sie Teil eines Experiments waren und auch bei sehr starken Nebenwirkungen nicht ernst genommen. Bis heute bleibt die Pille für viele Frauen im globalen Süden zu teuer oder nicht zugänglich. Stattdessen werden sie nicht selten mit minderwertigen Präparaten versorgt, die in Deutschland teilweise vom Markt genommen wurden oder nicht mal zugelassen sind. Immer noch haben nicht alle Menschen gleichermaßen Zugang zu Verhütungsmitteln, die entsprechend ihrer Lebensrealität am besten sind, Männer werden ganz ausgeschlossen.
Woran liegt es, dass Verhütungsgerechtigkeit nicht gegeben ist? Und welche Konsequenzen hat eine fehlende Verhütungsgerechtigkeit weltweit?
Verhütungsalternativen, besonders geschlechterübergreifende, sind oft medizintechnologisches Neuland und kosten enorm viele Forschungsgelder, die niemand bereitstellen will. Die Pharmaindustrie profitiert immer noch von der teils sehr menschenverachtenden Forschung aus den 30ern bis 50er Jahren. Und das Geschäft mit der Verhütung wächst immer weiter – quasi von selbst. Der globale Kontrazeptionsmarkt ist im Jahr 2020 mehr als 26 Milliarden US-Dollar schwer und soll sich bis 2030 auf rund 50 Milliarden US-Dollar vergrößern. Das liegt auch daran, dass internationale Organisationen und Stiftungen Verhütungsmittel in gigantischen Summen von Pharmakonzernen wie Bayer abkaufen, um sie im Rahmen der »Entwicklungszusammenarbeit« an Frauen aus nicht westlichen Ländern billig oder kostenlos zu verteilen. Doch nicht selten handelt es sich dabei um Präparate, die besonders häufig mit Nebenwirkungen in Verbindung gebracht werden und in ähnlicher Zusammensetzung vom europäischen Markt genommen wurden. Es sind Mittel, die in Deutschland kaum verschrieben werden und teils nicht mal zugelassen sind. Vielen wird keine Alternative gegeben und voll umfassende Aufklärung verwehrt. Das ist nicht gerecht.
Wie sieht in deinen Augen eine “Verhütungsgerechtigkeit” aus und was würde sie konkret verändern in Zukunft?
Jedem Menschen sollte es frei zustehen, ob er:sie Kinder haben möchte oder nicht. Streng genommen ist das Fehlen einer Art Pille für den Mann auch ein Einschnitt in die reproduktiven Rechte. Verhütung ist ein Menschenrecht, auch für Männer. Insgesamt brauchen wir ein allumfassendes Verständnis davon, in welchem Kontext Menschen ihre reproduktiven Entscheidungen treffen, wo sie womöglich zu Handlungen gedrängt werden und welche Faktoren sie in ihren Möglichkeiten beschneiden, wirklich eigenbestimmt zu handeln. Auf strukturell-politischer Ebene müssen mehr Forschungsgelder für geschlechtergerechtere Verhütung und Männergesundheit her. Denn in Bezug auf die klassische Pille haben sich seit den 60ern weltweit Distributionswege und Forschungszweige in der Gynäkologie verbessert, es gibt medizinisches Personal, Familienplanungszentren, gynäkologische Praxen, die Pille und Co. in den gesellschaftlichen Alltag integriert haben. Bei einer Verhütungsmethode für Männer muss das alles von Grund auf geschaffen werden. Das ist enorm aufwändig, aber es ist dringend nötig.
Franka Frei, Jahrgang 1995, wird 2018 mit einer Bachelorarbeit über die weibliche Periode als Politikum über Nacht zu Deutschlands erster Menstruationsaktivistin. Seitdem klärt sie auf Science Slams, in Podcasts und Büchern über Themen rund um reproduktive Gesundheit und die Stigmatisierung der Monatsblutung auf. In ihrem neu erschienen Buch Überfällig: Warum Verhütung auch Männersache ist nimmt sie ein ebenso veraltetes wie ungerechtes System unter die Lupe, das Verhütung noch immer als „Frauensache“ abtut.