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Bild: Peter Fitzpatrick

Das Ringen um Authentizität

Was ein französisches Messer, eine Insel im Ochotskischen Meer, ravende Jetsetter und depressive YouTuber gemeinsam haben.

Authentizität ist die Sehnsucht der Gegenwart. „Endlich authentisch“; „Sei du selbst“; „Du bist mehr, als du bist“. Das sind die Slogans unserer Zeit. Als lästiger Bienenschwarm an Identitätsangeboten schwirren sie um mich herum. Von Häuserfassaden und dem leuchtenden Bildschirm in meiner Hand rufen sie mir zu. Der Wunsch nach Selbstverwirklichung ist zum Zwang geworden. Doch was und wer sich hier wie verwirklichen soll, bleibt zumeist unklar. Produkte werden als authentisch beworben. Mit einem Klick, mit diesem Kauf, ist es möglich, authentisch zu leben. Während im Privatleben Self-Help-Ratgeber mit einem Zwölf-Punkte-Plan zum authentischen Selbst führen sollen, zeigt sich auf gesellschaftlicher Ebene eine Hinwendung zur Autorität und zur abgrenzenden Identitätsbetonung – beides im Gewand des Authentischen.

Die Herstellung von Authentizität

Wir konsumieren nicht nur ein Produkt, sondern auch stets unsere Entscheidung dafür. Die Wahl der Zahnbürste bis hin zum Elektroauto erzählt eine Geschichte, in der wir uns wiederfinden sollen. Eine Geschichte, die uns an das Produkt und das Produkt wiederum an eine größere Erzählung bindet; eine Erzählung, die Identität stiften soll. So werden in einem kleinen Dorf in Frankreich, Laguiole, Messer produziert, natürlich auf „althergebrachte“ Weise. Es heißt, die Messer werden „von A bis Z“ in Laguiole gefertigt. Dass der Stahl für die Klinge aus Schweden und das Horn für den Griff aus Afrika kommen, fällt dabei schnell unter den Tisch. Dass auch die Form der Messer eklatant von der historischen Vorlage abweicht, ist ebenso zu vernachlässigen. Wichtiger für Authentizität ist ohnehin der Mythos. Und hiervon gibt es in Laguiole gleich drei: Sei es der Hirte auf dem Feld um 1800, der mit dem Laguiole-Messer sein Brot schnitt; Napoleon I., der den Bewohnerinnen und Bewohnern die stilisierte Biene auf dem Griff schenkte; oder die Natur selbst, die zum Markenzeichen – ebenjener Biene – inspirierte.

In einem kleinen Dorf in Frankreich, Laguiole, werden Messer produziert, natürlich auf „althergebrachte“ Weise. Bild: Nepomuk

Dabei wird die Herstellung von Authentizität schnell übersehen. Die Messerschmieden müssen begehbar sein, zu Erlebnisorten werden und mit dem richtigen Licht ausgeleuchtet sein. Mehr noch: Authentizität bezieht sich stets auf einen wie auch immer gearteten Wesenskern. Auch dieser muss erst produziert und dargestellt werden. Dabei beschränkt sich die Logik der Authentizität keineswegs auf Personen oder Produkte; sie stützt sich auf Kollektive, Kulturen und ganze Nationen.

Touristische Reisen als authentische Erfahrung

Auf einer entlegenen Insel zwischen Japan und Sibirien leben Indigene: Die Ainus. Um das touristische Verlangen nach authentischer Erfahrung zu bedienen, haben sie begonnen, ihren kompletten Alltag neu zu gestalten. In „althergebrachter“ Weise produzieren sie Dinge, die von Touristinnen und Touristen gekauft werden können. Das klingt nach Reenactment, nur eben nicht im Freiluftmuseum Kiekeberg, sondern auf einer abgelegenen Insel im Ochotskischen Meer. Egal ob beim Slumtourismus in Kapstadt, der Backpackerreise in Thailand oder den Jetset-Raves zwischen Berghain und Burning Man – als Wegzeichen dient die authentische Erfahrung. Doch mit dem heraufziehenden Erwartungshorizont werden andere auf ihre „Andersartigkeit“ festgeschrieben – auf einen mystischen Kern. Wo Authentizität als Brandzeichen individueller und kollektiver Identitäten dient, wird aus dem Mysterium ein handfestes Problem; scheinbar natürliche Trennlinien werden zwischen Individuen und Kollektiven gezogen: „Modern“ oder „Primitiv“, „Universalismus“ oder „Partikularismus“, „woke“ oder „reaktionär“. Dies führt zur Fragmentierung von Gesellschaften.

Auf einer entlegenen Insel zwischen Japan und Sibirien leben die Ainus. Um das touristische Verlangen nach authentischer Erfahrung zu bedienen, haben sie begonnen, ihren kompletten Alltag neu zu gestalten. Bild: Torben Brinker

Das Diktat der Perfektion

Die viel beschworene „Filter-Bubble“ steigert die Distinktion weiter: Wir stellen uns auf digitalen Plattformen aus, mit der Wahl der Bilder, der Re-Posts und der Fragen, die wir auf dem Dating-Portal unserer Wahl beantworten. Die digitale, feedback-basierte Authentizität schnürt uns immer enger ein. Mit bitterer Ironie, wenn überhaupt, ist so das Versprechen von Justin Osofsky (COO von Instagram) zu verstehen: „Wir wollen den Menschen den Druck nehmen, perfekt zu sein.“ Die Logik der Authentizität hat sich schon längst dem Diktat der Perfektion entwunden. Es geht ihr gerade auch um Brüche und Diskontinuitäten: Auf YouTube wird zwischen Schminktipps von einer überstandenen Depression berichtet, weil gerade das authentisch wirkt. Auch Leid ist konsumierbar geworden, es besteht geradezu der Zwang, sich auch unvorteilhaft zu präsentieren. Das zeigt Selbstironie und verdient Applaus, weil authentisch.

Wie lässt sich der Logik der Authentizität entkommen? Vielleicht kann eine begriffliche Verschiebung helfen. An die Stelle der Authentizität könnte man Opazität setzen, eine Trübung oder Undurchsichtigkeit. Diesen gewissen Grad an Undurchsichtigkeit auch beim Blick auf uns selbst zuzulassen. Es könnte hilfreich sein, gerade die Unmöglichkeit, sich selbst zu enträtseln zum Paradigma zu machen. „Es stört mich nicht, zu akzeptieren, dass es Bereiche gibt, in denen meine Identität für mich unklar ist.”, sagt Édouard Glissant auf den verregneten Atlantik blickend. Die Szene stammt aus einer Doku „Un Monde en Relation“ (2009), die ihn auf seiner Reise von South Hampton über Brooklyn nach Martinique begleitet, die Herkunft des Literaten, Philosophen und Vordenker der Opazität. So kann nicht länger Anspruch auf Authentizität erhoben werden, weder für sich, für eine andere Person oder für ein Kollektiv. Opazität entzieht sich unserer Vergleichslogik, verbindet Unterschiedlichkeiten und kann so der Sehnsucht nach Authentizität Paroli bieten.