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Bild: Kevin Olson/Djamilia Prange de Oliveira

Der Datenkapitalismus ist die nächste Stufe des Kolonialismus

Facebook, Google, Apple, Microsoft und Amazon – die sogenannten „Big Five” – haben zusammen mehr Macht über uns als jeder Staat. Sogar Regierungen sind abhängig von ihnen und tun sich gerade deshalb schwer, das Machtmonopol der Big Five einzuschränken. Gleicht ihre Macht einer Form des Kolonialismus?

Nick Couldry und Ulises A. Mejias, Autoren des Buches „The Costs of Connection”, sehen in der Machtposition, die die Big Five innehalten, ein großes Problem. In ihrem Buch argumentieren sie, dass die großen Tech-Firmen menschliches Leben durch Datengewinnung kolonialisieren und ziehen Parallelen zum historischen Kolonialismus. Die Kosten dafür, so die Autoren, tragen wir Nutzer. Wir haben mit den Experten über das Konzept Datenkolonialismus und ihre Prognose für eine digitale Dekolonialisierung gesprochen.

Wer sind im Datenkolonialismus die Unterdrückten und wer die Kolonialisten? Könnt ihr das Konzept kurz erklären?

Nick Couldry: Die grundlegende Idee des Datenkolonialismus ist, dass er nicht nur einfach eine neokolonialistische Fortsetzung von Kolonialismus im digitalen Raum ist. Facebooks Free Basics, das kostenlose Internetverbindung in Entwicklungsländern bereitstellt, ist zum Beispiel ganz klar neokolonialistisch. Aber unser Argument ist, dass gerade etwas viel Weitreichenderes passiert: der Beginn eines neuen Kolonialismus, in dem Daten die Ressource sind, aus der Profit geschlagen wird. Historischer Kolonialismus hat Land, Körper und Ressourcen ausgebeutet. Im Datenkolonialismus werden wir Menschen zur Ressource und die Daten, die wir produzieren, die sozialen Verbindungen, die wir aufbauen und in Form von Daten zugänglich machen, zum Profit.

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Ulises Mejias: In diesem Szenario sind Tech-Unternehmen, die die Möglichkeit haben, diese Ressource auszunutzen, die Kolonialisten. Wir argumentieren nicht, dass alle Daten oder jede Form der Datengewinnung per se schlecht sind. Uns geht es eher darum, auf eine neue soziale Ordnung aufmerksam zu machen, die durch den Datenkolonialismus entsteht und eine neue Form der Ungleichheit schafft. Im historischen Kolonialismus war die Rollenverteilung noch ganz klar: Die Kolonialisten waren weiße Europäer*innen, die PoCs aus dem globalen Süden kolonialisiert haben. Die Arbeitskraft, die die „kostenlosen” Ressourcen der Natur in Reichtum verwandelt hat, war „umsonst” und im Überfluss vorhanden. Heute haben wir „kostenlose” Daten. Es gibt also eine Entwicklung von kostenloser Natur zu kostenloser Arbeitskraft hin zu kostenlosen Daten. Daten sind angeblich einfach so da, im Überfluss und umsonst, sie haben sozusagen keinen Besitzer, genauso wie die Natur angeblich keinen Besitzer hat. Du und ich, wir produzieren Daten, aber wir besitzen sie nicht gemeinschaftlich, weil wir diese Unternehmen brauchen, um die Daten zu verarbeiten. Die Daten sind einfach so da, um genommen zu werden, unser einziger Job ist, sie zu produzieren. Im historischen Kolonialismus waren die Beziehungen sehr genau definiert, sowohl geographisch als auch politisch. Heute ist es etwas komplizierter, weil dieser Prozess überall passiert. Die Kosten sind nicht gleich verteilt, manche Völker zahlen einen höheren Preis, andere, und das sind überraschenderweise immer dieselben, wurden in den letzten 500 Jahren nie unterdrückt.

Wie wird diese neue soziale Ordnung aussehen?

Nick: Es wird eine soziale Ordnung sein, die sich um die Maximierung von Datengewinnung dreht. Die Basis dafür ist unsere kapitalistische Weltordnung: Wir haben keine andere Wahl, als seine Arbeitskraft auf dem Markt zu verkaufen, um zu überleben. Aber jetzt kommt eine neue Art von sozialen Beziehungen hinzu, die wir Datenbeziehungen nennen. Um Zugang zu Kommunikation zu bekommen, was heute essenziell ist, müssen wir uns in solche Datenbeziehung begeben. Dafür müssen wir uns der Gewinnung von Daten unterwerfen, egal, ob es die Nutzung einer App ist oder die Kommunikation mit anderen Menschen. Es ist Teil dieser neuen sozialen Ordnung, dass Kapitalismus und Unternehmen nun dazu in der Lage sind, vom Leben selbst zu profitieren.

Sind diese Daten denn grundsätzlich schlecht? Viele behaupten, dass Daten neutral sind. Wie passt diese Annahme in das Bild der neuen sozialen Ordnung? 

Ulises: So etwas wie Rohdaten gibt es nicht. Die Sammlung von Daten ist keine neutrale Angelegenheit, das sind ganz klar soziopolitische Prozesse. Wir sind nicht per se gegen Daten. Wir sagen nicht, dass es falsch ist, eine digitale Einkaufsliste zu schreiben und damit einkaufen zu gehen, denn auch das sind Daten. Aber wenn du diese Liste auf Google Keep schreibst, werden diese Informationen Teil eines Datenökosystems, was sich hinter verschlossenen Türen befindet und Daten über dich sammelt. Datenkolonialismus ist mehr als nur das Produzieren, Sammeln und Analysieren von Daten. Ein Beispiel dafür ist die israelische Regierung, die im Mai einen 1,2-Milliarden-Dollar-Deal mit Google und Amazon für das Nimbus Projekt unterschrieben hat, welches Datenzentren für Cloud-Services in Israel bauen wird, die von der israelischen Armee (IDF), der Polizei, dem Geheimdienst und anderen Regierungsapparaten genutzt werden. Die Zusammenarbeit von Regierungen mit diesen Unternehmen zeigt, dass Daten nicht neutral sein können, da sie für sehr spezifische Absichten genutzt werden, die unter Umständen sogar illegal sein können.

Ihr argumentiert, dass diese Datenbeziehungen besonders armen Ländern schaden. Wieso?  

Nick: Dafür gibt es viele Gründe. Einer ist Geschichte – arme Länder hatten schon immer weniger Ressourcen. Ein anderer Grund ist, dass arme Länder langfristig eher nicht dazu in der Lage sein werden, große Unternehmen und Plattformen effektiv zu regulieren. Gleichzeitig haben arme Länder auch weniger lokale Plattformen, die mit Giganten wie Facebook konkurrieren können. Zwar gab es die mal, wie zum Beispiel Orkut in Brasilien, aber das ist längst Geschichte. Vor allem Ex-Kolonien sind in einer schwierigen Position, da viele immer noch schlechtes oder gar kein Internet haben. An dieser Stelle wieder der Verweis auf Facebooks kostenloses Internet Free Basics in Entwicklungsländern. Es gibt also Gründe dafür, warum neokolonialistische Kräfte nach wie vor bestimmen, wer die Gewinner und wer die Verlierer sind.

Daten sind nicht neutral, findet Prof. und Autor Ulises Mejias. “So etwas wie Rohdaten gibt es nicht. Die Sammlung von Daten ist keine neutrale Angelegenheit, das sind ganz klar soziopolitische Prozesse.” Bild: Ulises A. Mejias

Lasst uns ein wenig darüber sprechen, was gerade passiert. Euer Buch The Costs of Connection wurde unmittelbar vor der Pandemie veröffentlicht. Datensammlung, Tracking und digitale Impfpässe haben ihren Beitrag dazu geleistet, die Pandemie zu kontrollieren. Was sind eure Gedanken dazu?

Ulises: Es ist kein Zufall, dass große Tech-Unternehmen die Gewinner dieser Pandemie sind und Rekordprofite machen. Einer der Gründe dafür ist die Überwachungstechnologie. Die Pandemie hat die Nutzung von Überwachungstechnologien, die Menschen kontrollieren sollen, weiter verschärft. Auch hier bezahlt der globale Süden einen höheren Preis.

Dank Impfpässen können wir wieder am sozialen Leben offline teilnehmen. Wäre das ein Beispiel von positiver Datengewinnung?

Nick: Wir sehen digitale Impfpässe nicht als ein Symptom von Datenkolonialismus. Ich sehe keine kolonialen Möglichkeiten in Impfpässen, da diese Daten nicht gesammelt werden, um ein größeres System zu nähren. Allerdings sehen wir in Tracking Apps Parallelen zum Datenkolonialismus. Google und Apple haben sich früh zusammengetan und eine Tracking App herausgebracht. Doch diese App hatte ein Problem: Weil sie bluetoothbasiert war, und Bluetooth-Signale über eine größere Entfernung funktionieren, als das Coronavirus sich verbreitet, generierte die App von Anfang an viele potenzielle falsche Positive. Die Idee, dass bestimmte Technologien einen privilegierten Zugang zu Wissen haben und deshalb das Recht besitzen, diese Technologien anderen aufzuerlegen und die Welt neu zu ordnen, ist eigentlich eine zutiefst koloniale Art über Wissen nachzudenken. Die Geschichte von Kolonialismus macht deutlich, dass die Logik von Modernität damals folgende war: Weil der Westen Wissenschaft hat, kann er sich das Gold nehmen. Eine koloniale Perspektive erlaubt es uns, hier ein übergeordnetes Muster zu erkennen.

Die meisten großen Tech-Unternehmen, die Daten sammeln, sitzen in den USA oder in Asien. Europa, das ja historisch die treibende Kraft des Kolonialismus war, ist plötzlich im Hintergrund der Datenwirtschaft. Wird Europa die neue Kolonie der USA?

Nick: Europa befindet sich in einer schwachen Position in der Datenökonomie, vor allem was Cloud-Services, Suchmaschinen und andere Plattformen angeht. Jetzt versucht Europa als Regulator zurückzuschlagen. Die Datenschutzgrundverordnung zum Beispiel war ein wichtiger Schritt. Aber heutzutage ist eine Grundklausel der meisten Handelsabkommen und Verträge, und das ist eine europäische Klausel, ein offener Datenfluss über Landesgrenzen hinweg. Das bedeutet, dass große amerikanische Tech-Firmen die Daten, die sie brauchen, über Grenzen hinweg benutzen können und keine Regierung sie aufhalten kann. Das gilt für jeden, der Handel mit Europa oder Amerika macht.

Hat Europa versagt, unsere Daten zu schützen?

Ulises Ja. Und das zeigt auch, dass obwohl arme Länder die höheren Kosten tragen, wir trotzdem auch im globalen Norden Datenkolonialismus beobachten.

Was sind aus eurer Sicht die Konsequenzen des Machtmonopols der „Big Five” Facebook, Google, Amazon, Microsoft und Apple?

Nick: Die Problematik dieses Monopols zeigt sich auf mehreren Ebenen. Facebook ist jetzt Metaverse, baut Pipelines und versucht die VR-Welt zu dominieren. Apple produziert jetzt Chips. Amazon ist der dominante Player in Cloud-Services. Manche beginnen jetzt darüber nachzudenken, wie viel Macht diese Konzerne kollektiv haben. Sie sind gerade dabei, die Bedingungen für das Internet von morgen festzulegen, wenn sie keiner stoppen sollte. Natürlich gibt es in China Alternativen, aber keine, die viele Menschen außerhalb von China nutzen wollen. Gemeinsam sind diese Unternehmen gerade dabei, die Infrastruktur unseres sozialen Lebens neu zu entwerfen. Das ist eine große Verantwortung und wir haben zugelassen, dass sie diese tragen.

Prof. und Autor Nick Couldry ist überzeugt, dass der Begriff Kolonialismus für die neue soziale Ordnung, die gerade entsteht, passend und hilfreich ist: “Eine koloniale Perspektive erlaubt es uns, hier ein übergeordnetes Muster zu erkennen.” Bild: Nick Couldry

Ulises: Wir sollten nicht vergessen, dass große Teile der Macht der Big Five auch durch deren Zusammenarbeit mit verschiedenen Staaten kommt. Es sind Staaten, die diese Unternehmen regulieren oder eben daran scheitern, dies zu tun. Deshalb ist die Rolle von Regierungen extrem wichtig. Wir sehen das auch in der Partnerschaft von Israel und Amazon, eine Partnerschaft, die dazu gedacht ist, spezifische politische Absichten auszutragen. Gleichzeitig sehen wir eine Tendenz innerhalb der Unternehmen, dass Mitarbeiter*innen anfangen, sich gegen gewisse Dinge zu äußern. Das ist ein entscheidender Schritt, um diese Unternehmen zur Rechenschaft zu ziehen.

Wie beispielsweise die Whistleblowerin Frances Haugen, die zur Regulierung von Facebook aufruft und sagt, dass Mark Zuckerberg die „unilaterale Kontrolle über drei Milliarden Menschen hat”. Haben die Big Five und damit auch der Datenkolonialismus bei so viel Kritik langfristig überhaupt eine Chance?

Nick: Ich wünschte, ich könnte so optimistisch sein. Natürlich sind Frances Haugens Enthüllungen wichtig, da sie zeigen, dass Facebook sich des Schadens, den die Firma anrichtet, bewusst ist. Das hat aber nicht dazu geführt, dass die Aktienpreise nicht weiter angestiegen sind. Auch Cambridge Analytica hat Facebook langfristig nicht geschadet. Wir sprechen hier von einer sozialen Ordnung, die mächtiger ist als die Regierungen, die versuchen, sie zu regulieren. Regierungen werden zum Beispiel nicht Google abschalten, da sie selber von Google abhängig sind.

Ulises: Aber eins ist klar: Je mehr Druck NGOS, Aktivist*innen und Regierungen ausüben, desto mehr können wir Veränderung und mehr Regulierungen erwarten. Natürlich kostet das Zeit. Und wenn Monopole aufgebrochen werden, werden sich Unternehmen rebranden, um zu überleben.

Facebook hat sich gerade umbenannt, um sein Monopol auszuweiten. Wie seht ihr diesen Schritt?

Einerseits ist es nur ein PR-Trick, der auf bequeme Weise versucht, von einer Marke abzulenken, die zunehmend toxisch geworden ist. Andererseits ist es ein weiterer Beweis für die kolonialen Bestrebungen von Facebook und anderen großen Tech-Firmen, unsere soziale Realität zu konstruieren und uns als Profit zu nutzen. Die größere Frage ist: Warum sollte die Menschheit überhaupt den Anspruch einer kommerziellen Plattform in Betracht ziehen, die Welten, in denen wir leben, zu erschaffen und zu kontrollieren? Wie könnte es jemals im Interesse der Menschheit sein irgendeinem Unternehmen, selbst einem gut geführten und sozial verantwortungsbewussten, das Facebook offensichtlich nicht ist, die Macht über so eine fundamentale Dimension der menschlichen Existenz zu geben? Gegen diese kolonialen Bestrebungen müssen wir Widerstand leisten und dafür müssen wir kreativ werden.

Regierungen tun sich schwer damit, das Machtmonopol der großen Tech-Unternehmen einzuschränken, weil sie selber von ihnen abhängig sind. Bild: YBSLE

Denkt ihr, dass Technologien wie Blockchain oder Kryptowährungen auch eine Form des Widerstands sind?

Ulises: Ja und nein. Ich denke, solche technologischen Lösungen sind wichtige Experimente, vor allem Open Source. Open-Source-Projekte sind ein Weg, gegen große Plattformen Widerstand zu leisten. Aber sie können genauso zur Datengewinnung genutzt werden, wie man es zum Beispiel bei Googles Android sieht, das ein Open-Source-Projekt ist. Wir denken nicht, dass solche Experimente aufhören sollten, aber Kryptowährungen können destruktive Auswirkungen auf die Wirtschaft von Nationen und auf die Umwelt haben. Deswegen sollte man hinsichtlich des befreienden Potenzials der Blockchain vorsichtig sein.

Nick: Die Blockchain hat zurzeit einen riesigen ökologischen Fußabdruck. Deshalb ist es schwer vorstellbar, dass die Blockchain eine nachhaltige Lösung für die unzähligen Transaktionen, die wir machen, ist. Die Blockchain ist auch ein Versuch, eine Art alternativen Staat zu konstruieren. Es gibt einige Rechtsradikale, die sehr glücklich über die Blockchain sind, weil sie den Staat nicht mögen. Sie wollen eine Macht außerhalb des Staates erschaffen, die Geld machen kann. Staaten sind derzeit unsere einzige Form, großen Mächten Widerstand zu leisten. Deshalb hat das sehr zweifelhafte Auswirkungen auf Machtbeziehungen.

Sind Unternehmen wie Facebook oder Google überhaupt dazu in der Lage, Gutes zu tun, oder ist deren Existenz per se schlecht, weil sie zu viel Macht haben? 

Nick: Das ist der wichtigste Punkt. Die Frage ist, ob wir wollen, dass so viel Macht in einem Sektor der Gesellschaft konzentriert ist. Wir sagen nicht, dass wir keine digitale Suchmaschine brauchen. Aber vielleicht brauchen wir eine öffentliche Suchmaschine, die öffentlich finanziert und kontrolliert wird.

Wie könnte eine digitale Dekolonisation aussehen?

 Nick: Facebook versucht uns oft das Argument zu verkaufen, dass sie versuchen, gegen staatliche Eingriffe Widerstand zu leisten, weil Regierungen versuchen könnten, sie zu zensieren und in das Recht der freien Meinungsäußerung einzugreifen. Ich glaube, dass Regierungen eine Rolle dabei spielen werden, Unternehmen aufzubrechen, neue Gesetze zu verabschieden und Angriffe gegen die Menschenwürde zu verhindern. Wichtiger ist aber, dass die Menschen mehr Mitspracherecht und Kontrolle über ihre Daten haben und dass wir an der Debatte beteiligt sind. Der Staat sollte an dieser Stelle auch in Bildungsprogramme investieren. Zudem brauchen wir lokale Initiativen, die das umsetzen. Wir beginnen gerade erst zu sehen, was möglich ist.

Nick Couldry ist Professor für Medien und Kommunikation an der London School of Economics. Ulises A. Mejias ist Professor für Kommunikation an der SUNY Oswego. Ihr Buch, „The Costs of Connection“, ist im August 2019 bei Stanford University Press erschienen. Mehr Interventionen zum Daten-Kolonialismus findet ihr hier.