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Design nicht als Opulenz der Reichen, sondern als zeitlose Lösung für alle

Das Leben mit dem Coronavirus zeigt uns bisher ungekannte (Un)möglichkeiten. Es führt uns auch vor Augen, dass wir dringend neue Lösungen für fast jeden Bereich unseres Alltags brauchen. Temporär wie langfristig. Vor allem Designer sind aufgefordert, Konzepte dafür zu entwickeln. Schon in der Vergangenheit haben Krisen für Innovationen gesorgt: Das Paimio Sanatorium des finnischen Designers und Architekten Alvar Aalto ist ein Beispiel dafür. Sein Rezept: ein humanistisch funktionales Design.

Die Rolle von Design in der Krise 

“One of design’s most important roles throughout history has been to help us to survive crises, and to emerge from them with useful innovations that will improve our quality of life.“ Mit diesen hoffnungsvollen, aber auch fordernden Worten stellt die Designkritikerin Alice Rawsthorn auf ihrem Instagram-Kanal historische Beispiele von in der Krise entstandenen Designs vor: Das Informationsdesign von Florence Nightingale in den 1850ern beispielsweise, das davon überzeugte, dass die Errichtung eines Krankenhaus von größter Dringlichkeit war  – was kein Argument zuvor schaffte. Ebenso die informelle Art der Volkszählung und Visualisierung des Philanthropen Charles Booth. Sein Anliegen war es, reelle Zahlen zur Armut der Londoner Bevölkerung zu erfassen. Was diese Beispiele demonstrieren, ist die Kraft des Designs, Probleme sichtbar und lösbar zu machen. Sie zeigen aber auch, dass wir für diese Lösungen, aufgefordert sind, das Problem ganzheitlich zu begreifen: Menschen und ihre Bedürfnisse wirklich zu verstehen und Funktionalität und Ästhetik zu verbinden.

Ein legendäres Beispiel hierfür ist das Paimio Sanatorium in Turku, Finnland. “Form follows function”, der Gestaltungsleitsatz des Modernismus zeigt sich hier in jedem Detail. Hier wurde Design geschaffen, das Zeit und Anlass überdauerte. 

Alvar Aalto und das Paimio Sanatorium

Foto: Alvar Aalto / Artek.

Bild: Paimio Sanatorium / Interior Colourscheme, Alvar Aalto, Artek.

Vor der Entdeckung von Antibiotika in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Tuberkulose eine schwer heilbare und weltweit grassierende Krankheit. Patienten*innen lebten, je nach hygienischem Umstand, durchaus zehn Jahre mit schweren Beschwerden des Bronchialsystems. Im Jahr 1928 hatte die Epidemie auch Finnland erreicht. In der Region Turku wurde ein Wettbewerb für den Bau eines Sanatoriums ausgeschrieben, welches Patienten von Turku versorgen sollte. Ziel war es, einen Ort zu errichten, der mit einfachen Mitteln das Leiden erträglicher machte. 1928 gewann der Architekt und Designer Alvar Aalto den Wettbewerb und konnte das Paimio Sanatorium verwirklichen. Daraufhin entwickelte er in den kommenden Jahren das Gebäude bis ins kleinste Detail zusammen mit seiner Geschäftspartnerin und Frau Aino Aalto. Im Jahr 1933 eröffnete, wie Alvar Aalto es ausdrückte, „die Kathedrale der Gesundheit und Instrument für Heilung“.

Ein humanes Gebäude

Farb-Elemente sollten den Besucher helfen bei der Orientierung. Foto: Verena Schwarz

“Human life is a combination of tragedy and comedy. The shapes and designs that surround us are the music accompanying this tragedy and this comedy.“ Wenn man heute das Paimio Sanatorium besucht, rückt die Tragödie in den Hintergrund. Inmitten eines friedvollen Pinienwäldchens empfängt uns ein aufgefächerter, dreiteiliger Gebäudekomplex. Nach der gläsernen Eingangstür steht man einem geschwungenen Rezeptionstresen gegenüber. Die Decken, Wände und Böden strahlen in lebendigem Sonnengelb. Die einladende Freundlichkeit aus Farbe und organischen Formen begleitet uns durch alle drei Flügel des Sanatoriums. Hier erlebt man eine Wohlfühlatmosphäre bis ins Detail. Als Alvar Aalto 1929 mit dem Bau des Paimio Sanatoriums begann, war sein Anspruch, ein heilendes Ganzes zu schaffen. Er war ein Mann des humanen Funktionalismus. Aalto stellte den Menschen ins Zentrum seines Designs. Es heißt auch, dass die Tuberkulose-Krise einen wesentlichen Einfluss auf die Ausbildung modernen Designs gehabt habe. Anders als vorherige Designrichtungen ging es im Modernismus und im Speziellen in der Strömung des Funktionalismus, nicht mehr um Dekadenz und Opulenz für Reiche. Design sollte fortwährende Lösungen für alle bieten. 

Das Rezept fürs Wohlbefinden

Für die Gestaltung des Sanatoriums musste Aalto jeden möglichen Störfaktor, aber auch jede mögliche Erleichterung für die Patienten und das Personal im Detail kennen. Aalto definierte für das Haus vier Faktoren für die Genesung: Frische Luft, Hygiene, viel Licht und gutes Essen – und garantierte diese durch Form und Funktion auf geniale Weise. 

Foto: Paimio Sanatorium von Aalto / Artek.

Sein Konzept begann mit der Ausrichtung des Hauses: Die Krankenzimmer sowie das Sonnendeck zeigten nach Süden. Durch die umliegenden Bäume fiel mildes Sonnenlicht auf die Patienten. Zusätzlich holte er mithilfe von Farben die Natur in die Gebäude herein. Das Konzept hierzu entstand in Zusammenarbeit mit dem Künstler Eino Kauria. Im Speisesaal taucht man in ein Farb- und Lichtspiel ein: Die Sonne wirft durch orangene und grüne Markisen ein warmes Licht in den Saal. In den Patientenzimmern sind die Wände weiß, die Decken in einem gedeckten grau – das wirke friedvoller auf liegende Patienten. Im ganzen Gebäude begegnen uns zudem besondere Lampen: Sie sind mit durchsichtigem Plastik ummantelt, auf welchem sich kein Staub ablagern kann.

Ebenso durchdacht war die Formgebung der Türklinken in den Patientenzimmern: Ihre Biegung verhinderte, dass man sich mit dem Ärmel darin verfing, während man sie mit dem Unterarm, und nicht mit der Hand, bediente. Sanfte Kurven bestimmten auch die Möbel, die für das Sanatorium entwickelt wurden, allen voran der legendäre Paimio Stuhl. Birkenholz wurde so gebogen, dass es den Brustkorb des sitzenden Patienten öffnete und ihnen das Atmen erleichterte. Der Paimio Stuhl wurde zu einem Klassiker, der bis heute über Aaltos Firma Artek vertrieben wird.

Foto: Türklinken im Paimio Sanatorium, Aalto / Artek.

Nachdem in den 1950ern Medikamente und Impfstoffe gegen Tuberkulose entwickelt wurden, nahmen die Patientenzahlen drastisch ab. Ab 1960 diente das Sanatorium nicht mehr Tuberkulosekranken, ab 2014 auch nicht mehr als Krankenhaus. Aktuell steht das Haus zum Verkauf. Aalto gelang es mit seinem Projekt Lösungen zu entwickeln, die ihren Zweck zwar irgendwann hinter sich ließen, aber nicht ihre Relevanz. Ein zeitloses Design aus der Krise. 

Vereint euch!

Dass Aalto überhaupt den Wettbewerb gewann, könnte daran liegen, dass ihm angeblich medizinische Erkenntnisse vorlagen, auf die seine Konkurrenten nicht zugreifen konnten. Er konnte das Projekt also ganzheitlich angehen, als Designer, Architekt und Humanist. Das braucht es auch in der aktuellen Krise. Eine Pandemie ist ein Ausnahmezustand – ob sie Anfang des 19. Jahrhunderts passiert oder 2020. Wir sind noch dabei, Zusammenhänge, Vernetzungen und mögliche Auswirkungen zu begreifen und morgen sind alle Annahmen schon wieder hinfällig. Alice Rawsthorn beobachtet, dass viele schnelle Innovationen derzeit aus der Modebranche kommen. Diese verzeichnet aktuell massive Umsatzeinbrüche und ist daher gezwungen, kreativ zu werden. Die Branche ist es aber auch gewohnt, alle sechs Monate eine neue Kollektion auf den Markt zu bringen. Aktuell zählt Zeit und die gewinnt man durch die Nutzung von bestehendem Fachwissen und darauffolgende interdisziplinäre Zusammenarbeit.

Foto: Alvar Aalto auf dem Dach des Sanatoriums, Aalto / Artek.

Anders als bisher, passiert zurzeit erfreulicherweise genau das, da Designer mit Ingenieuren und Wissenschaftlern schnelle Ansätze, von Service bis Spatial Design, entwickeln: 3D-Printvorlagen für Schutzmasken und DIY-Sets für Beatmungsgeräte nach dem Open Source Prinzip zum Beispiel. Man liest aber auch von Türgriffen, die Bakterien neutralisieren oder sich mit dem Unterarm öffnen lassen. Quasi über Nacht werden Prozesse verändert, wie der kontaktlose Service beim Arzt. Außerdem wird die Gebäudenutzung neu gedacht und Leerstand für sinnvolle Zwecke genutzt. Die Coronakrise ist ein weltweiter Ausnahmezustand. Und, so abgedroschen es inzwischen klingen mag, auch eine Chance. Weil sie wachrüttelt und zahlreiche Blaupausen für eine schnelle, unbürokratische, interdisziplinäre, offene, kurzum innovative Problemlösung hervorbringt. Design kann in dem Moment ein zielgerichtetes, aber auch ein freies Denken, Testen und Optimieren in die Welt tragen, und ein Verständnis kollektiver Zusammenarbeit vorleben. Design ist für Menschen gemacht. Jetzt ist die Zeit, in der sich die Kraft klugen Designs beweisen kann.  

Historisches Foto einer Besucherin aus dem Artek-Archiv. Aalto / Artek