Evi Hartmann ist Professorin für „Supply Chain Management“ an der Universität Erlangen-Nürnberg. 2016 erschien ihr Sachbuch „Wie viele Sklaven halten Sie?“ im Campus Verlag. Wir sprachen mit ihr über Moral in Zeiten der Globalisierung, die Macht des Kunden und die Verantwortung der Unternehmen.
Frau Hartmann, ausbeuterische Arbeitsbedingungen gibt es seit Jahrhunderten. Inwieweit hat die Globalisierung diese Ausbeutung beschleunigt oder vorangetrieben?
Was die Globalisierung verändert hat, ist die Sichtbarkeit der Ausbeutung. Die Sklaverei der vergangenen Jahrhunderte war eigentlich für alle interessierten Zeitgenossen klar erkennbar. Deshalb gab es auch Protestbewegungen und Sklavenbefreiungen. Im Gegensatz dazu läuft die Ausbeutung im Zeitalter der Globalisierung viel stärker unterhalb der Wahrnehmungsschwelle der Öffentlichkeit ab.
In welchen Bereichen ist die Ausbeutung am größten?
Es gibt Branchen mit besonders hohem Risiko. Zum Beispiel die Bekleidungsbranche mit ihren Sweat Shops und mit der Gefahr der Kinderarbeit. Oder die Elektronik mit ihren Blutminen für seltene Erden, die in Handys und anderen Geräten verbaut werden. Da ist aber auch die Landwirtschaft mit ihren Baumwoll- und Palmölplantagen, auf denen Arbeiter von Pestizid-Bombern eingenebelt werden.
In der Wirtschaft gibt es einen Begriff für diese Form der Ausbeutung: Squeezing. Können Sie den Begriff kurz erklären?
Ein Begriff, der leider nicht nur die Ausbeutung in Schwellenländern beschreibt, sondern entlang der kompletten Lieferkette. Der Begriff deutet es an: Lieferanten werden ausgequetscht wie eine Zitrone, bis sie leer sind und weggeworfen werden. Gesqueezt wird vor allem über nicht kostendeckende Abnahmepreise, aber auch über harsche Konditionen, extrem enge Termine und restriktive Auflagen.
Was heißt das für das Dreigestirn aus Unternehmen, Kunde und Produzent? Das es aus diesem System kein Entrinnen gibt?
Die drei sind tatsächlich in einem Teufelskreis gefangen. Kunden, die alles immer nur billigst kaufen, setzen Unternehmen indirekt unter Preisdruck. Die Unternehmen geben den Preisdruck an die Produzenten und Lieferanten weiter, die den Druck ihrerseits per Ausbeutung an ihre Belegschaft weitergeben. Keiner der drei Beteiligten findet das wirklich gut, aber der Ausstieg aus diesem Teufelskreis ist schwer.
“Wenn ein System allzu unmoralisch wird, kippt es – auch der Kapitalismus.”
Man könnte also sagen: Je schneller die ökonomische Spirale, desto weniger Platz gibt es für Moral?
So scheint es. Dabei übersehen wir oft, dass sich selbst in einer schnell drehenden Spirale immer auch Produzenten, Unternehmen und Verbraucher mitdrehen, die sich so gut es eben geht moralisch verhalten. Moral wird glücklicherweise nicht von den Verhältnissen bestimmt, sondern von der persönlichen Entscheidung. Und in jedem System finden sich auch Menschen auf allen Seiten der Wirtschaft, die sich moralisch verhalten.
Kapitalismus und Moral schließen sich also nicht völlig aus?
Wenn ein System allzu unmoralisch wird, kippt es – auch der Kapitalismus. Dafür sorgt die Systemdynamik. Und die reale Wirtschaft ist ja auch in wesentlichen Teilen moralisch. Es gibt zum Beispiel viele neue Mode-Labels, die absolut nachhaltige Kleidung anbieten.
Was müsste sich ändern, damit das bestehende System in Zukunft weniger ausbeuterisch wird?
Wir können bewusst auf Siegel und Zertifikate der Nachhaltigkeit achten. Wir können die Debatte um Ausbeutung und Nachhaltigkeit in den Medien gezielt mitverfolgen und unsere eigenen Schlüsse daraus ziehen. Und wir können in kleinen Schritten sozusagen die moderne Sklaverei abschaffen: Warum nicht mal den fairen Honig kaufen? Oder fairen Kaffee? Viele Bürogemeinschaften machen das inzwischen.
Hier liegt die Verantwortung allerdings wieder beim Kunden. Entlassen wir damit nicht die Unternehmen aus ihrer Verantwortung?
Ja – wenn der Kunde alleinverantwortlich gemacht werden würde. Das macht aber keinen Sinn. Es geht auch weniger um Verantwortung als um Marktmacht. Und die hat nun mal systembedingt vor allem der Kunde. Seine Nachfrage bestimmt in einem funktionierenden Markt, was angeboten wird. Das entlässt jedoch Unternehmen nicht aus ihrer Verantwortung.
Was können Unternehmen tun, um sich dieser Verantwortung zu stellen?
Unternehmen können die Arbeitsbedingungen entlang der Lieferkette überwachen. Oder auch Instrumente des Supplier Developments anwenden – also ihre Lieferanten gezielt in Richtung besserer Arbeitsbedingungen für ihre Arbeiter entwickeln. Sie können Lieferanten und Produzenten günstige Kredite und Know-how geben, damit diese menschenfreundlicher werden. Sie können Arbeitsbedingungen vorschreiben und einrichten helfen. Sie können aber vor allem in der Werbung herausstreichen, wie umwelt- und menschenfreundlich ihre Produkte sind. Dann wird auch gekauft, was nachhaltig produziert wird.
Und was können Verbraucher tun?
Kunden ihrerseits – also wir alle – könnten uns stärker informieren, bevor wir ins Regal greifen. Vor allem bei Produkten, die wir immer wieder kaufen und bei Gebrauchsartikeln mit längerer Lebensdauer. Zehn Minuten Internet-Recherche pro Woche sind besser als nichts und bringen uns deutlich weiter.
Worauf muss man beim Kauf achten und wer setzt und kontrolliert die Standards?
Es gibt inzwischen viele Nachhaltigkeits-Siegel und -Zertifikate. Es gibt Branchenvereinbarungen und regulatorische Vorschriften. Teils überwachen Regierungsstellen deren Einhaltung, teils Auditoren, die direkt vom Unternehmen eingesetzt werden. Oft macht das auch die Konkurrenz. Viele Gerichte befassen sich mit Klagen, die ein Unternehmen gegen das andere anstrengt, weil dieses gegen Nachhaltigkeitsvorschriften oder – versprechungen verstößt. Die Wirtschaft kontrolliert sich also quasi selber.
Immer mehr Kunden achten auf Nachhaltigkeit. Wieso steigen nicht mehr Unternehmen um?
Das tun sie! Aber eben nicht alle auf einmal. Und auch nicht mit großem Aufsehen. Der Prozess ist langsam und wird von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Doch wer beim Einkaufen genau hinschaut, erkennt sehr wohl, dass immer mehr faire Produkte auf den Markt kommen.
Auch auf dem deutschen Markt?
Es gibt viele kleine deutsche Mode-Label, die über die komplette Lieferkette sozial und ökologisch nachhaltig produzieren. Das sind vor allem Start-ups. Es gibt auch große Unternehmen, die nachhaltig vorbildliche Projekte unterhalten. Wer wissen möchte, welches Unternehmen womit besonders nachhaltig ist, kann das im Internet nachlesen, zum Beispiel auf Seiten wie www.nachhaltigkeitspreis.de.
“Wer einen guten Newsfeed verfolgt, der sieht, dass praktisch an jedem Tag des Jahres irgendwo die Ausgebeuteten dieser Welt protestieren, streiken oder Gewerkschaften gründen und deshalb verprügelt, verhaftet, erschossen oder verfolgt werden”
Was müsste politisch passieren, damit Nachhaltigkeit in der Wirtschaft zur Regel wird?
Politik kann und sollte alles regulieren, was der Markt nachweislich nicht schafft. Viele Unternehmen warten sogar darauf. Sie sagen: Warum sollte ich nachhaltig in Vorleistung treten und mir damit einen Kostennachteil gegenüber der Konkurrenz einhandeln, die nicht nachhaltig sein will? Wenn dagegen der Staat reguliert, müssen eben alle mitmachen und das Vorreiter- Problem entfällt.
Was können Menschen tun, die von selber von Ausbeutung betroffen sind?
Die Betroffenen selbst tun bereits eine Menge! Die Medien berichten nur leider selten darüber. Aber wer einen guten Newsfeed verfolgt, der sieht, dass praktisch an jedem Tag des Jahres irgendwo die Ausgebeuteten dieser Welt protestieren, streiken oder Gewerkschaften gründen und deshalb verprügelt, verhaftet, erschossen oder verfolgt werden.
Wie können wir ihren Protest am Besten unterstützen?
Indem wir Produkte von jenen Betrieben kaufen, die ihren Beschäftigten entlang der kompletten Lieferkette faire Löhne und Bedingungen bieten. Das wirkt. In der Globalisierung wirkt eben auch die Macht der Konsumenten global.
Danke für das Gespräch!
Unterschiedliche Arten der unsichtbaren Sklaverei gibt es bereits seit Jahrhunderten. Mehr dazu in unserem Kompendium.