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Illustration: Viktoria Spokojna (Insta: oh_ey_sis)

Eine bessere Wirtschaft durch die Macht der Periode – die Natur will es so

Wie wäre ein Leben, in dem wir im Einklang mit unserem hormonellen Zyklus leben würden? Biotech-Ingenieurin, Designerin und Unternehmerin Rinat Sherzer ist sich sicher, es wäre ein Leben im Einklang mit der Natur, denn die Natur ist zyklisch.  

Nach zwei Anläufen ist es endlich soweit: Ich treffe Rinat Sherzer zu einem online Gespräch zum Thema „Menstrual Cycle Awareness”. Meinen Anruf nimmt Rinat auf dem berühmten Green-Wood Friedhof in Brooklyn mit Blick auf die Manhattan Skyline entgegen. Es ist ein besonderer Tag für Rinat, der Todestag ihrer Großmutter, und sie befindet sich in ihrem Winter. Winter, Frühling, Sommer, Herbst – Rinat wendet das Konzept der vier Jahreszeiten auf den weiblichen Menstruationszyklus an. Sie sagt, es sei der Schlüssel, um unsere Natur besser zu verstehen und unseren Menstruationszyklus zu „hacken”: Im Winter haben wir unsere Periode und sollten ruhen. Im Frühling, wenn wir aufhören zu bluten, ist unsere „Power Woche”, in der wir uns auf den Eisprung vorbereiten. Im Sommer, etwa bei Tag 14 des Zyklus, findet der Eisprung statt, der Östrogen-Höhepunkt, zu dem wir emotional besonders großzügig sind, – ein idealer Zeitpunkt, um neue Projekte in Angriff zu nehmen. Im Herbst, ungefähr ab Tag 21, beginnt der Hormonspiegel wieder zu sinken, wir haben weniger Zeit und Verständnis für andere, bevor wir uns im Winter, während der Periode, zum Ruhen zurückziehen. Seitdem Rinat im Einklang mit ihren Jahreszeiten lebt, habe sich ihr Leben verändert, sowohl beruflich als auch persönlich. Ihre Erkenntnisse gibt Rinat in Workshops und an Universitäten weiter, sie kuratiert Ausstellungen, berät Unternehmen und konfrontiert Männer und Frauen mit der Frage: Was, wenn wir im Einklang mit unserem Zyklus leben würden?

Rinat, du kommst aus Israel, einem Land mit einem Männlichkeitsproblem. Zudem hast du lange in der männerdominierten High-Tech Branche gearbeitet. Wie konntest du deinen Zyklus dort mit deinem Alltag vereinbaren?

Ich habe die letzten sieben Jahre in New York gelebt, wo ich an der Parsons School of Design lehre und bin erst vor ein paar Monaten nach Israel zurückgekehrt. Zurzeit leite ich an der Bezalel Universität der Künste in Jerusalem den Master in Design Management und Innovation. Alle paar Monate komme ich zum Unterrichten auch nach New York. Meine Erkenntnisse zum zyklischen Leben habe ich also bisher in Israel nicht umgesetzt. Das wird jetzt das erste Mal sein – und ich bin nicht sicher, ob das gutgeht (lacht). Israel ist ein Ort, der stark von Maskulinität angetrieben wird, und zwar von der „old-school”-Sorte. Ich will nicht „toxisch“ sagen, weil ich nicht wertend sein will… Insofern wird es eine interessante Reise sein.

Biotech-Ingenieurin, Designerin und Unternehmerin Rinat Sherzer hat mit ihrem Ted-Talk für Furore gesorgt. Bild: Rinat Sherzer

Und Menstruation ist in Israel ein Tabu.

Vor allem in den religiösen Communities. In den säkularen Communities ist es wahrscheinlich wie überall sonst auch – man spricht einfach nicht wirklich darüber. Diese Art von Arbeit in Israel zu machen, wird eine richtige Herausforderung.

Wie bist du auf das Konzept mit den Jahreszeiten und dem Menstruationszyklus gekommen?

Die Analogie zu den Jahreszeiten ist etwas Antikes. Das habe ich nicht erfunden, aber vielleicht habe ich es zu einem gewissen Grad wiederbelebt. Die Perspektive, die ich dazu ergänzt habe, ist, dass unsere Gesellschaft gewissermaßen wie die Eizelle und das Spermium agiert. Wenn wir mit Blick auf die Zukunft nachhaltig leben wollen, müssen wir uns von der Weisheit der Eizelle inspirieren lassen. Der Anlass für die Beschäftigung mit dieser Weisheit war eine persönliche körperliche Erfahrung. Ich bekam meine Periode fast nie und wenn ich sie bekam, war sie sehr schmerzhaft. Mir wurde eine hormonelle Störung diagnostiziert: PCOS (Polyzystisches Ovar-Syndrom). Das ist eine Störung, die ungefähr 5 bis 10% aller Frauen betrifft, trotzdem hat die westliche Medizin keine Heilung. Ärzte haben nie erforscht, wie man PCOS eigentlich heilen kann, obwohl es der häufigste Grund für Unfruchtbarkeit bei Frauen ist. Ein Symptom von PCOS ist ein erhöhter Testosteronspiegel. Als ich das herausfand, wurde mir klar, dass mein Körper high auf Testosteron war. Die Gesellschaft ist wie ein Spermium und wir sind alle an diese Mentalität gewöhnt: Die meiste Zeit rennen wir alle wie verrückt ins Nichts und jagen einem linearen Ziel hinterher.

Ich begann, den Menstruationszyklus genauer zu erforschen und stellte fest, dass jeder Zeitpunkt im Monat einen unterschiedlichen Hormonspiegel und verschiedene Charakteristika hat – Winter, Frühling, Sommer und Herbst. Ich versuchte herauszufinden, was es bedeuten würde, im Einklang mit diesem Zyklus zu leben. Das Resultat war, dass mein Zyklus wieder regelmäßig wurde und die Zysten verschwanden. Ich entwickelte sozusagen eine Methode zum Problemlösen, die auf dem Konzept dieser vier Jahreszeiten beruht. Und was du in jeder Phase tun kannst, um eine Lösung für ein Problem zu finden. Was dabei rauskam, war sehr interessant.

Und was kam dabei raus?

Unverhoffte Herangehensweisen für alltägliche Herausforderungen. Wir sind es gewöhnt, Probleme zu lösen, indem wir mehr tun, statt Dinge auf uns zukommen zu lassen. Ein Beispiel: Die Eizelle und das Spermium haben dasselbe Ziel, sich zu treffen und zu vereinen. Aber ihre Strategien sind sehr anders. Die Strategie des Spermiums ist es, auf direktem Wege das Ziel zu suchen. Es ist kompetitiv und mobil, weil es das eine von Millionen sein muss. Die Eizelle hat eine 360° Perspektive: Sie lässt die Dinge zu sich kommen und kann die beste Option für sich aussuchen. Davon können wir Einiges lernen: Anstatt der nächsten großen Sache hinterherzujagen, sollten wir manchmal innehalten, Dinge auf uns zukommen lassen und dann beurteilen, welche Option die Beste ist. Jungen Mädchen wird vermittelt, während ihrer Periode sollten sie genauso weiter funktionieren unnd alles tun, um ihre Menstruation zu verstecken. Das finde ich unglaublich traurig und falsch. Um Produktivität und Kreativität zu haben, müssen wir auch zur richtigen Zeit ruhen.

Länder, die am Äquator liegen, haben sozusagen keine Jahreszeiten. Lässt sich das Konzept also nur auf Länder südlich und nördlich des Äquators anwenden?

Gewissermaßen ja. Das Klima am Äquator hat etwas sehr Harmonisches, Ausgeglichenes und Spirituelles. Aber die Mehrheit der Menschheit lebt nicht am Äquator und hat relativ definierte Jahreszeiten. Und das beeinflusst auch unseren Körper.

Wie können wir all dieses Wissen an Arbeitsplätzen umsetzen, die im Grunde von Männern für Männer geschaffen wurden?

Das ist eine gute Frage. Normalerweise spreche ich bei Workshops nicht direkt über die Menstruation, sondern über das Konzept der drei Rs – rest, release, receive – das wir in unserem Winter umsetzen sollten. Diese breche ich auf Business-Praktiken runter. Dann spreche ich darüber, wieso diese drei Rs notwendig sind, um als Unternehmen aufzublühen. Warum Ruhen für den Erfolg eines Unternehmens unerlässlich ist, genauso wie die Fähigkeit, Dinge loszulassen, die nicht funktionieren und einzuschätzen, was gut funktioniert und was nicht. Eigenschaften zu eliminieren, statt mehr hinzuzufügen. Das dritte R, receive, bezieht sich auf die eben erwähnte Strategie mit dem Ei und dem Spermium. Wie kann ein Unternehmen für seine KundInnen attraktiv sein, anstatt sie jagen zu müssen? Man kann diese Konzepte auf Unternehmen anwenden, ohne zwangsläufig über den Menstruationszyklus, die Eizelle und das Spermium zu sprechen.

Könnte es auch gefährlich sein, wenn Männer plötzlich unseren Zyklus verstehen und dann immer wissen, was gerade in uns vorgeht?

(lacht) Herrlich, das habe ich noch nie vorher gehört, das ist so eine gute Frage! Vor Kurzem sagte ein Freund zu mir, nachdem er mehr über meine Arbeit las, dass er unglaublich gerne menstruieren würde. Er sagte: „Ich möchte diese extremen Hormonschwankungen haben und verstehen, wie es ist, so ein inneres Wissen zu haben.” Er sagte, er sei neidisch und ich denke, das ist er zurecht! Wir haben diesen starken inneren Kompass, der uns zu jedem Zeitpunkt Rückmeldung darüber gibt, was funktioniert und was nicht. Wenn wir lernen, damit zu arbeiten, „hacken” wir den Code der Natur. Denn so funktioniert die Natur: in Zyklen. Nichts ist linear. Das ist ein menschengemachtes Konzept, das Dinge reduziert, damit wir sie berechnen können – aber es ist kein Konzept der Natur.

Welche Rolle spielen Männer in all dem? Männer haben auch einen hormonellen Zyklus. Statt monatlich durchlaufen sie ihn täglich: Vormittags schießt der Testosteronspiegel in die Höhe und fällt im Laufe des Tages ab. Am Abend wird das Testosteron vom „Kuschelhormon“ Oxytocin abgelöst. Was könnte sich ändern, wenn auch Männer ihren Zyklus verstehen und wertschätzen würden?

Das ist eine sehr gute Frage. Ich denke, sie hätten bessere Outputs für ihre Energie. Wenn sie stärker mit ihrem Zyklus arbeiten würden, müssten sie ihren Testosteronspiegel nicht auf aggressive Weise nutzen. Denn das ist auch eine Unausgeglichenheit. Durchsetzungsvermögen, Risikofreude und die vorausdenkenden Eigenschaften des Testosterons sind sehr gut, wenn sie auf gesunde Weise genutzt werden. Unsere Gesellschaft leidet an einem Testosteron-Ungleichgewicht. Wenn auch Männer lernen würden, mit ihrem Zyklus zu arbeiten, würde sich das ausgleichen. Sie würden diese kämpferische Energie nutzen, wenn sie gebraucht wird und den Rest der Zeit könnten sie ruhen, sich fallen lassen, Energien aufladen, anstatt dauerhaft aggressiv zu sein.

Vielleicht müssen wir ihnen zeigen, wie sie ihren Zyklus „hacken” können.

Absolut! Männer brauchen diesen Workshop auch. Fun Fact: Wenn wir in unserer PMS-Phase sind, kurz vor der Menstruation, und wir sensibler, aufgebrachter und schneller reizbar sind, dann sind wir eigentlich wie Männer. Oft wird uns gesagt, das seien die Hormone. Was aber eigentlich im Körper zu dieser Zeit passiert, ist ein Abfall der Hormone. Wir produzieren dann weniger Östrogen und Progesteron, weil der Körper merkt, dass er diese Hormone nicht so sehr braucht, weil wir nicht schwanger geworden sind. Das Einzige, was stabil bleibt, ist der Testosteronspiegel. Eigentlich sind wir also während der PMS-Zeit den Männern hormonell am ähnlichsten.

Das erklärt Einiges.

So viel. Aber uns sagen sie, dass es die Hormone seien. Oder nennen uns hysterisch, aufgewühlt oder sensibel. Dabei ist das für Männer der Normalzustand.

Wenn mich nicht alles täuscht, kommt das Wort hysterisch aus dem Altgriechischen und bedeutet Gebärmutter.

Oh ja, das macht Sinn. Im 19. Jahrhundert war die Hysterie eine psychische Störung, die Frauen diagnostiziert wurde. Und in diesem historischen Kontext wurde der Vibrator erfunden! Denn die Heilung für die Hysterie war der Orgasmus. Statt Männern beizubringen, wie sie Frauen befriedigen, behandelten Ärzte „hysterische” Frauen mit medizinischen Vibratoren (lacht). Der Vibrator wurde also im 19. Jahrhundert als eine Heilung für weibliche Hysterie erfunden. Es gibt sogar einen Film darüber.

Man könnte die Idee der linearen, spermienorientierten Gesellschaft zur zyklischen, „denke-wie-eine-Eizelle” Gesellschaft als einen Paradigmenwechsel bezeichnen. Wie können wir das in männerdominierten Branchen wie High-Tech oder der Finanzbranche umsetzen?

Der italienische Wirtschaftswissenschaftler Vilfredo Pareto, Erfinder des Pareto-Prinzips, auch bekannt als die 80-20-Regel, untersuchte 1906 die Verteilung des Grundbesitzes in Italien und fand heraus, dass 20% der Bevölkerung 80% des Landes besitzen. Sein Prinzip, nach dem 80% der Erträge mit 20% des Gesamtaufwandes erreicht werden können, bekam in der Wirtschaft viel Aufmerksamkeit. Unternehmen nutzen dieses Konzept, um herauszufinden, wie sie mit 20% Arbeitsaufwand 80% Ertrag erzielen können. Und das Konzept ist auf sehr viele Bereiche anwendbar. Denk an dieses extra Kilo, was du verlieren möchtest – das ist immer wesentlich mehr Aufwand als die Kilos davor. Das Level der Perfektion zu erreichen, kostet unheimlich viel Energie. Wenn wir das zurück zum Spermium und der Eizelle führen: Der durchschnittliche weibliche Zyklus dauert 28 Tage. Aber das Zeitfenster, in dem wir schwanger werden können, ist durchschnittlich nur 6 Tage lang. 6 von 28 Tagen sind ungefähr 21%. Das Pareto-Prinzip funktioniert also auch hier. 80% der Zeit rennt dieses verrückte Spermium einfach ins Nichts, da wartet keine Eizelle. Das Spermium muss also auf das Zeitfenster warten, in dem die Eizelle kommt. In unserer Gesellschaft ist das ähnlich: 80% unserer Zeit rennen wir ins Nichts. Was ich Unternehmen rate, ist, dass sie die 20% nutzen, um ihr Ziel zu verfolgen. Im Reich der Tiere ist das nicht anders: Tiere jagen nicht den ganzen Tag. 80% der Zeit schlafen sie oder sind sozial. Die Natur ist so ausgelegt, dass 80% der Zeit „play & pleasure” ist und 20% der Zeit konkrete Zielverfolgung. Unternehmen sollten sich daran ebenfalls orientieren.

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Ein Beitrag geteilt von Rinat Sherzer (@rinatsherzer)

Bedeutet das im Umkehrschluss auch, weniger zu arbeiten? Schließlich sind wir die einzige Spezies der Natur, die den Großteil ihrer Zeit mit Arbeiten verbringt.

Ganz genau. Das sage ich Unternehmen natürlich nicht genau so, weil sie nicht wollen, dass ihre MitarbeiterInnen weniger arbeiten. Wenn ich Unternehmen berate, dann stelle ich ihnen die Frage: Wie können wir mehr „play & pleasure”, mehr experimentelle Perspektiven in den Arbeitsplatz integrieren und dann 20% der Zeit nutzen, um den Deal abschließen? Es ist sehr wichtig, dass MitarbeiterInnen genug Zeit zum Ausruhen haben. Wenn du vor einer wichtigen Entscheidung stehst, nimm dir einen Tag frei. Mache nichts, was mit der Arbeit zu tun hat und lass den Computer ausgeschaltet. Du wirst mit der richtigen Antwort zurückkommen. Genuss, Ruhe, Liebe, Freundschaft, gutes Essen und Natur sind der richtige Weg zu Produktivität und Kreativität. Und 20% der Zeit: Go for it und verwirkliche deine Ziele. Um Leben zu erschaffen, brauchen wir beides, die Eizelle und das Spermium. Es gibt Momente im Leben, in denen wir mehr von der Energie des Spermiums lernen können und andere Momente, in denen wir von der Weisheit der Eizelle profitieren können.

Rinats Virtual Reality Ausstellung „What would the Egg do” kann man hier online besuchen, zu ihrem TEDTalk geht es hier.