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Foto: Mstyslav Chernov/Unframe - Self-photographed, CC BY-SA 3.0,

Radikale werten Andersgläubige als unwissend, dumm oder bösartig ab – und Nichtradikale tun genau das Gleiche. – Interview mit Radikalisierungsexpertin Dana Buchzik

Was tut man, wenn die Lieblings-Tante plötzlich neben Rechtsradikalen auf Corona-Demos spazieren geht? Besonders während der Pandemie hat sich die Politik mehr Vertrauen der Gesellschaft verspielt, als sie vielleicht zugeben möchte, argumentiert in ihrem kürzlich erschienenen Buch die Autorin Dana Buchzik. Wir haben mit der Expertin, die selbst in eine Sekte hineingeboren wurde, über konstruktive Herangehensweisen mit Radikalisierung in der eigenen Familie gesprochen.

Vor Corona haben wir beim Begriff „Radikalisierung” eher an „Terroristen” gedacht. Was hat sich verändert?

Die Realität hat uns eingeholt. Die Zustände in unserem Bildungssystem sind, was das Thema Radikalisierung angeht, katastrophal. Auch Journalismus und Politik haben sich nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Deswegen war den meisten Menschen nicht bewusst, dass Radikalisierung eben nicht erst bei islamistischen oder rechtsextremistischen Attentaten anfängt. Radikalisierung zeigt sich auch im rassistischen Kommentar an der Kaffeetafel oder in der Entscheidung, das eigene Kind bei schwerster Krankheit zum Heilpraktiker, statt zum Arzt zu schicken. Die bürgerliche Mitte ist kein radikalisierungsfreier Raum. Ohne die Querdenken-Bewegung wäre diese Erkenntnis vielleicht nie in der Mehrheitsgesellschaft angekommen.

Du warst selbst Teil einer Sekte, wie du in deinem Buch beschreibst. Wie prägend war diese Erfahrung für dich und wie hast du es rausgeschafft?

Ich war ein Mitglied der zweiten Generation, habe mich also nie bewusst für die Gruppe entschieden, sondern bin hineingeboren worden. Vermutlich ist mir die Ideologie deswegen fremd geblieben. Ich habe vor allem versucht, zu verstehen, wie dieser Zauber funktioniert, diese Magie der ideologischen Erzählung. Je älter ich wurde, desto wütender bin ich geworden, dass sich die Politik so wenig dafür interessiert, was in radikalen Parallelgesellschaften vor sich geht. Ich hoffe wirklich, dass sich das jetzt ändert, und zwar nachhaltig.

Wodurch zeichnet sich deiner Ansicht nach eine „radikale” Ideologie aus und wie verläuft der Weg zur Radikalisierung?

Das Wort „radikal“ steht ja nicht per se für etwas Schlimmes. Es kommt aus dem Lateinischen; „radix“ bedeutet Wurzel. Wer radikal ist, will also an einem Problem nicht oberflächlich herumdoktern, sondern es an der Wurzel packen. Das bedeutet aber nicht, dass er automatisch auch demokratiefeindlich oder gewalttätig wäre. Problematisch wird eine radikale Haltung erst dann, wenn Gewalt ausgeübt und Menschenrechte verletzt werden. Die Wege zu einer Radikalisierung verlaufen sehr unterschiedlich. Den Prozess selbst hat der Radikalisierungsforscher Daniel Köhler „Ent-Pluralisierung“ genannt: Die Vielfalt der eigenen Werte, Interessen und Ziele geht verloren, bis irgendwann die Ideologie alles dominiert. Jedes Ereignis in der Welt, ob groß oder klein, wird dann auf den vermeintlichen Kampf zwischen Gut und Böse zurückgeführt.

Vor einem Jahr warnte mich eine französische QAnon-Anhängerin unter Tränen, dass mein Partner innerhalb eines Jahres an Krebs sterben werde, da er gegen Covid geimpft ist. Wie hätte ich am besten reagiert?

Das hängt davon ab, wie nah dir die Person steht. Wenn sie eine Freundin oder Angehörige ist, hast du gute Chancen, gehört zu werden, wenn du mit viel Ruhe und Vorbereitung ins Gespräch gehst. Wenn es sich um eine entfernte Bekannte oder eine komplett fremde Person handelt, gilt das leider nicht.

Was, wenn das eine Person aus meinem näheren Umfeld ist, eine Freundin, Familie oder sogar der Partner?

In meiner Kommunikationsberatung empfehle ich vor allem drei Strategien: Allianzen suchen, mit Faktenbingo aufhören und Grenzen setzen. Je mehr Menschen wir an Bord haben, desto schneller und besser können wir verstehen, welche Vorteile die Radikalisierung für die Person im Alltag bietet. Erst dann können wir überhaupt gute Alternativangebote entwickeln. Im nächsten Schritt müssen wir mit dem Argumentieren und Diskutieren aufhören. Ein Raucher wirft ja auch nicht seine Zigaretten weg, wenn wir ihm einen Faktencheck über Gesundheitsrisiken schicken. Wir müssen für unser Gegenüber keine Fakten wiederkäuen, denn es geht nicht um Fakten, sondern um Gefühle. Im dritten Schritt sollten wir versuchen, einen klar begrenzten Raum für die radikale Ideologie zu schaffen – und für unsere Meinung dazu. Nicht nur wir fühlen uns mit belastenden Inhalten geflutet, unserem Gegenüber geht es genauso. Es wäre zum Beispiel denkbar, eine Zeit in der Woche festzulegen, in der mal der eine, mal der andere von seinen Überzeugungen erzählen darf und ihm nicht widersprochen wird, solange er keine persönlichen oder juristischen Grenzen verletzt. Außerhalb dieser Zeit geht es aber ausschließlich um andere Themen. Das ist eine große Umgewöhnung, aber es hilft beiden Seiten, sich daran zu erinnern, dass die radikale Person mehr ist als eine Ideologie.

Gegen Radikalisierung im eigenen Umfeld empfiehlt Radikalisierungsexpertin Dana Buchzik vor allem drei Strategien: “Allianzen suchen, mit Faktenbingo aufhören und Grenzen setzen.” Bild: Pierre Horn, Schall und Schnabel Berlin

Wie wichtig ist das Streiten beim Thema Radikalisierung? Müssen wir richtig streiten lernen? Ist das überhaupt eine produktive Herangehensweise?

Ich glaube, es geht genau ums Gegenteil, nämlich darum, bewusst zu deeskalieren. In meiner Beratung erlebe ich vor allem Menschen, die erschöpft sind von ständigen Streitgesprächen mit radikalen Personen. Sobald wir aus dem Teufelskreis der immer gleichen Diskussionen aussteigen, nehmen wir Druck aus der Situation und schaffen die Grundlage dafür, um wieder aufeinander zugehen zu können. Sonst bleiben nämlich beide Seiten in der Rolle des Aufklärers stecken, die sie sich selbst auferlegt haben und die sie nicht weiterbringt.

Was passiert, wenn ich mit Menschen, die sich radikalisieren oder die an Verschwörungstheorien glauben, den Kontakt abbreche?

Es ist nicht hilfreich. Wenn wir den Kontakt abbrechen, treiben wir die Person nur noch tiefer in ihre radikale Parallelwelt. Natürlich gibt es Momente, in denen ein Kontaktabbruch alternativlos ist: Selbstschutz kommt immer zuerst. Aber in vielen Fällen können wir mit deeskalierenden Kommunikationstechniken die Beziehung so verbessern, dass ein Abbruch nicht nötig ist.

Führt Shaming/Urteilen zu einer Spaltung der Gesellschaft?

Absolut! Gerade beim Thema Radikalisierung sehen wir das ja immer wieder: Radikale werten Andersgläubige als unwissend, dumm oder bösartig ab – und Nichtradikale tun genau das Gleiche. Aber niemand kommt ins Grübeln und hinterfragt seine Sichtweise, wenn er angegriffen und beschimpft wird. Stattdessen wird er in eine Verteidigungshaltung gehen und sich umso mehr an seiner Meinung festkrallen. Beschämung verhindert nicht nur die Lösung von Problemen, sondern verschärft die Probleme zusätzlich.

Welche Rolle spielen Regierungen und Institutionen und das Vertrauen bzw. Misstrauen in sie?

In der Pandemie wurde meiner Meinung nach mehr Vertrauen verspielt, als die Politik sich eingestehen möchte. Sei es die Unfähigkeit, einheitliche und nachvollziehbare Maßnahmen zu beschließen, geschweige denn einzuhalten. Sei es das Signalisieren von Verständnis für Menschen, die das Leben anderer einschränken und bedrohen, statt sich mit den Opfern zu solidarisieren. Wir hätten 2020 und 2021 bundesweite Aufklärungskampagnen gebraucht, nicht nur zu Covid-19, sondern auch zu den Manipulations- und Desinformationstechniken radikaler Akteure. Wir hätten digitale Bürgersprechstunden der Gesundheitsämter gebraucht – oder wenigstens fundierte, mehrsprachige Broschüren per Post. Stattdessen wurden die Impfwilligen mit einer überlasteten Hotline und einem schwächelnden Online-Buchungssystem allein gelassen, und die Skeptiker sind in die weit ausgebreiteten Arme von Demagogen gelaufen, die professionelle Medienarbeit um Welten besser beherrschen als die deutsche Politik. Die Folgeschäden dieses Vertrauenseinbruchs werden uns noch lange begleiten.

Bei einer Pegida Demo in Dresden im Januar 2015 wird die Enttäuschung in das politische Etablissement deutlich. Bild: Kalispera Dell

Welche Rolle spielen soziale Medien in der Radikalisierung? Sollte das Internet reguliert werden?

Die selbst ernannten Sozialen Medien befeuern Radikalisierungsprozesse, weil ihre Empfehlungsalgorithmen extremen Inhalten sehr viel Reichweite verschaffen, während alles Ausgewogene irgendwo kurz vor der Unsichtbarkeit vor sich hin dümpelt. Die Politik beschließt zwar seit Jahren immer neue Gesetze im Kampf gegen Hass im Netz, aber die Plattformen haben trotzdem nicht wirklich etwas zu befürchten, wenn sie justiziable Inhalte teils über Jahre stehen lassen und Hilferufe von Nutzern nicht hören. Wir brauchen meiner Meinung nach weniger Symbolpolitik und mehr Personalaufstockung in den Staatsanwaltschaften – und den politischen Willen, dafür einzustehen, dass das Grundgesetz online nicht nur gilt, sondern auch geschützt wird.

Schätzen radikale Gruppen die anderen als radikal ein?

Das Wort „radikal“ spielt da nicht unbedingt eine Rolle, aber es ist grundsätzlich schon so, dass radikale Gruppen eher die Mehrheitsgesellschaft als extrem oder gefährlich wahrnehmen und nicht sich selbst. Wir sehen außerdem gerade im rechtspopulistischen und rechtsradikalen Bereich, dass bestimmte Begriffe gezielt umgedeutet werden. Der Begriff „Nazi“ wird beispielsweise neu geframed, als Abkürzung von „nicht an Zwangsimpfung interessiert“. Oder es wird behauptet, dass in der Pandemie quasi alle Verschwörungserzählungen wahr geworden seien und deswegen „Aluhut“ oder „Verschwörungstheoretiker“ eigentlich ein Kompliment sei. Das Ziel ist eine emotionale Entlastung: Kritik schmerzt natürlich weniger, wenn man sie nicht an sich heranlässt.

Das Vertrauen in die Medien ist in letzter Zeit, vor allem auch durch die Pandemie, gesunken. Viele wissen nicht mehr, wem sie vertrauen sollen. Du schreibst, dass der Journalismus sich dieses Misstrauen verdient hat. Wie hat er sich das verdient und wie kommen wir da wieder raus?

Ich sehe das Hauptproblem in kaputtgesparten Redaktionen, die kaum bis keine wissenschaftliche Expertise mehr haben und natürlich auch keine Zeit. Das war und ist in einer Pandemie besonders folgenschwer. Es haben immer wieder Ärzte oder Professoren mit klarer ideologischer Agenda die große Bühne bekommen, und es hat offenbar niemand vorab recherchiert, ob diese Leute vielleicht auf YouTube Verschwörungserzählungen verbreiten. Ob sie in der Vergangenheit schon mal mit sachlich falschen Aussagen aufgefallen sind. Ob sie überhaupt Erfahrung in dem konkreten Feld mitbringen. Es gab zuhauf False Balance-Berichterstattung, also das unreflektierte Nebeneinanderstellen von Aussagen, was suggeriert, dass zum Beispiel ein Hals-Nasen-Ohren-Arzt exakt die gleiche Ahnung von Covid-19 hätte wie ein Virologe. Es gab kaum fundierte Aufklärung über Radikalisierungsprozesse, obwohl gerade die internationale Forschung wirklich eine Menge zu bieten hat. Stattdessen werden lieber Radikale bei Demonstrationen vor laufender Kamera konfrontiert. Das wird dann als Aufklärung oder Gesprächsversuch auf Augenhöhe verkauft, obwohl es einfach nur ein Eskalationsgarant ist in einer Situation, in der Menschen ihrer Peergroup gefallen und sich zugehörig fühlen wollen. Wie Gruppendynamik funktioniert und dass Gegenrede sinnlos ist, gerade bei emotionalen Themen, kann man sich in einer halben Stunde anlesen. Wenn man aber nur an die schnelle Reichweite denkt, darf man sich auch nicht wundern, wenn man das Feindbild „Mainstreammedien“ schürt und Vertrauen verspielt – auch unter Nichtradikalen.

Dana Buchziks Buch „Warum wir Familie und Freunde an radikale Ideologien verlieren – und wie wir sie zurückholen können” ist am 25. Januar im Rowohlt Verlag erschienen.