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Bild: Robert Bye

Ghostwriting: Eine notwendige Konsequenz unserer Leistungsgesellschaft?

Wenn der Leistungsdruck und Studienkredite steigen, floriert die Ghostwriting Industrie. Sogenannte „Essay Mills” bieten online jede Art von akademischer Arbeit an – vom vierseitigen Essay bis zur Doktorarbeit – für ein paar Hundert Euro. Ist Ghostwriting eine Bedrohung für die Chancengleichheit in der Bildung, oder eine notwendige Konsequenz der Leistungsgesellschaft?

In einigen Ländern ist ein Universitätsabschluss heutzutage eine Ware und Studierende die Kunden. Teure Elite-Unis sind besonders auf die hohen Studiengebühren der ausländischen Studierenden angewiesen. Angesichts der astronomisch hohen Studiengebühren, wie sie beispielsweise in Großbritannien oder den USA üblich sind, haben Studierende viel zu verlieren, sollten sie durchfallen – nicht nur Geld. Denn für viele steht auch die Familienehre auf dem Spiel. Hier kommt die millionenschwere Ghostwriting-Industrie ins Spiel.

Ghostwriting als Lifestyle-Modell

Kristina (Name von der Redaktion geändert) aus Berlin ist hauptberuflich Ghostwriter. Die erst kürzlich promovierte Sprach- und Kommunikationswissenschaftlerin schreibt Essays, Hausarbeiten, Bachelor- und Masterarbeiten in deutscher Sprache für verzweifelte Studenten und Studentinnen. Ein normaler Arbeitstag beginnt bei ihr gegen 9 Uhr morgens, von 10 bis 15 Uhr schreibt sie und am Nachmittag gibt sie Einzel-Nachhilfe. „Ich arbeite nicht mehr als jemand anderes”, sagt Kristina. „Für mich persönlich ist es das richtige Lifestyle-Modell, weil ich es mag, alles frei zu entscheiden.”

Von dem Geld, das sie durch Nachhilfe und Ghostwriting verdient, kann Kristina gut leben. Pro Woche schreibt sie etwa 10 Seiten und verdient damit 600 Euro, also 2400 Euro im Monat. „Ich habe mich preislich unter den Agenturen platziert, die meistens so 70, 80€ aufwärts pro Seite nehmen. Ich nehme 60€ pro Seite und kann davon auf jeden Fall gut leben”, sagt Kristina. Wenn es gut läuft, schafft sie in einer Stunde eine Seite. „Das ist ein wirklich guter Stundenlohn”, findet sie.

Es ist unklar, wie viele Studierende in Deutschland Ghostwriting-Dienste in Anspruch nehmen, da es dazu keine genauen Daten gibt. An Kunden mangelt es Kristina jedoch nicht: „Es ist auf jeden Fall viel Bedarf da. Ich hätte nicht gedacht, dass es so leicht ist, Kundschaft zu finden. Beim ersten Mal habe ich einfach bei eBay-Kleinanzeigen inseriert und hatte dann drei Monate lang durchgehend Aufträge.”

Kein Wunder, denn der Leistungsdruck und die Durchfallquoten sind hoch. Alleine in Deutschland schließen 33 % der Studierenden ihr Bachelorstudium nicht ab. Fächer wie Mathematik, Jura oder Ingenieurwissenschaften haben die höchsten Durchfallquoten. Bei einzelnen Prüfungsleistungen sind Durchfallquoten von 80 oder 90 % keine Seltenheit. Ist es also verwunderlich, dass Studierende schummeln?

Ghostwriting ist längst keine dubiose Praxis mehr, bei der sich Kunde und Ghostwriter in einer dunklen Ecke hinter dem Bahnhof treffen und Essay gegen Bares tauschen. Ghostwriter sein ist heute auch eine Lifestyle-Entscheidung. Bild: C D-X

Völlig legal?

Ghostwriting ist längst keine dubiose Praxis mehr, bei der sich Kunde und Ghostwriter in einer dunklen Ecke hinter dem Bahnhof treffen und Essay gegen Bares tauschen. Aus ihrem Beruf macht Kristina keinen Hehl. „Viele denken, dass Ghostwriting illegal ist. Aber von meiner Seite ist es absolut legal. Was die Kunden nicht dürfen, ist das, was ich ihnen schicke, als eigene Prüfungsleistung abzugeben. Das heißt, das, was ich erstelle, sind eigentlich Vorlagen, die sie dann nicht als ihre ausgeben dürfen.” Ihre Kunden bezahlen sie über PayPal oder Überweisung, sie macht das „ganz normal, über‘s Finanzamt. Es ist also gar nicht dubios, wie man sich das vorstellt”, sagt sie.

Sorge wegen juristischer Probleme hatte Kristina nie. Wieso sollte sie auch – schließlich tut sie nichts Unrechtmäßiges. „Die Kunden sind ja noch viel mehr daran interessiert, dass es nicht auffliegt. Und ich kann natürlich immer sagen, dass es in meinen AGBs steht, dass die Essays nur als Vorlage dienen und nicht als Prüfungsleistung abzugeben sind. Das wäre eine strafbare Tätigkeit, die ich nicht unterstütze. Ich gebe denen die Vorlagen und was sie damit machen, ist dann ihre Sache.”

Kristina sieht sich eher als die Robine Hood unter den Ghostwritern, die Student*innen aus der Not hilft. Viele ihrer Kund*innen sind längst im Berufsleben und brauchen einfach nur den Abschluss, um in eine höhere Gehaltsklasse aufzusteigen. Andere sind mit unvorhergesehenen Schwierigkeiten konfrontiert, wie zum Beispiel, wenn der Computer kurz vor der Abgabe streikt und kein Backup gemacht wurde. „Für die Wissenschaft ist Ghostwriting keine Bedrohung, finde ich. Leute, die später in die Forschung gehen, sind eher nicht die, die sich was schreiben lassen, weil die ja auch irgendeinen Anreiz an Forschung und an wissenschaftlicher Arbeit haben müssen”, sagt Kristina.

Leistungsgesellschaft trifft auf Ghostwriting-Pandemie

Doch das Ghostwriting Business ist nicht nur eine nationale Erscheinung. In Deutschland haben Ghostwriter wegen der Sprache weniger Konkurrenz. Im Ausland sieht es ganz anders aus. Dort werden vermutlich weitaus mehr Arbeiten gefälscht. Grund sind vor allem hohe Studiengebühren, denn schließlich möchte keiner einen vier bis fünfstelligen Studienkredit aufnehmen, um dann den Abschluss nicht zu schaffen.

Ein Blick in das Vereinigte Königreich. Ähnlich wie in den USA gilt hier: Wer einen Abschluss will, muss blechen. Ein Bachelorstudium an der renommierten Oxford Universität kostet für Briten fast 11.000 Euro jährlich, für Ausländer*innen zwischen 32.000€ und 46.000€ jährlich. In Cambridge sieht es nicht besser aus: Dort zahlt ein inländischer Masterstudent für einen Masterabschluss in amerikanischer Geschichte pro Jahr knapp 14.000€, Ausländer müssen über 34.000€ zahlen.

Was sind da schon ein paar Hunderter für eine Bachelor- oder Masterarbeit für jemanden, der einen Studienkredit von mehreren Zehn- oder gar Hunderttausend Euro aufgenommen hat, um den Abschluss zu bekommen? Dass der Abschluss gekauft ist, ändert sich durch eine 1000 € teure Prüfungsleistung obendrauf wohl kaum, solange das Studium sich den Student*innen als Produkt präsentiert. Ob der Master nun 70.000 oder 71.000€ gekostet hat, gekauft ist gekauft. Laut Dr. Daniel Sokol, einem britischen Anwalt, der auf akademisches Fehlverhalten spezialisiert ist, sind es vor allem die ausländischen Student*innen, die Ghostwriting Services in Anspruch nehmen. Sie investieren am meisten in ihren Abschluss an einer Elite Uni, zudem ist für viele Englisch nicht die Muttersprache.

In den USA, Australien und England zahlen ausländische Studierende die höchsten Studiengebühren. Quelle: Statista

Hier kommen die sogenannten “Essay Mills”, also Essay Fabriken ins Spiel. Auf den Ghostwriting Websites, von denen in Großbritannien zurzeit mehr als 1000 aktiv sind, kann jeder innerhalb weniger Sekunden per Online-Formular ein Essay, eine Hausarbeit, eine Dissertation oder Masterarbeit bestellen. Bei vielen kann man sogar die gewünschte Note angeben. Während der Pandemie haben solche Essay Mills einen besonderen Boom erlebt, wie der Telegraph berichtet. Eine*r von sieben Student*innen weltweit nutzt sie, sagt eine Studie der Swansea University aus dem Jahr 2018. Das könnten global bis zu 31 Millionen Student*innen sein.

Auf der Website von UK Essays, Großbritanniens größter Ghostwriting Agentur, kann man per Mausklick alles bestellen, was geschrieben werden kann. Dort kostet eine 15-seitige Hausarbeit mit 6000 Wörtern etwa 900€, eine Masterthese mit der Note “distinction (+70%)”, die innerhalb von zwei Wochen geliefert wird, kostet etwas über 2000€. Die Preise sind abhängig von der gewünschten Note, Seitenzahl und Fälligkeitsdatum.

Ghostwriting als E-Commerce Industrie

Die Essay Mills sind längst zu einem ausgereiften E-Commerce Modell geworden, welches die britische Regierung nun zu unterbinden versucht. Die Ghostwriting Firmen zu verbieten, würde diese jedoch nur in den Schwarzmarkt treiben, vermutet Anwalt Dr. Sokol. „Ich habe keine Zweifel daran, dass ein Verbot das Problem nicht eliminieren wird”, sagt er. 

Wo also liegt das eigentliche Problem? „Jetzt, wo ein Abschluss zur Ware geworden ist, ist es nicht verwunderlich, dass immer mehr Student*innen betrügen”, findet Journalistin Poppy Noor. Wenn der/die Student*in zum Kunden und der Universitätsabschluss zur Ware wird, sind verzweifelte Maßnahmen von verschuldeten Student*innen also eher eine notwendige Konsequenz der Leistungsgesellschaft?

Ein einfaches Essay gibt es bei UK Essays schon ab 124 £. Bild: Screenshot UK Essays

Ghostwriter und Agenturen wissen genau, dass ihre Kund*innen die Arbeiten als eigene Prüfungsleistung abgeben. Das scheint sie jedoch nicht wirklich zu kümmern – sie sehen das Problem viel mehr im System als bei den Student*innen. „Man muss sich fragen, wieso die Student*innen es für nötig halten, ihre Arbeiten zu kaufen. Warum verspüren sie so großen Druck, Erfolg zu haben, dass sie Teile ihres Abschlusses kaufen? Es ist das System selbst, dass mangelhaft ist. Es gibt Student*innen, die während des Studiums fünf bis sechsstellige Schuldbeträge ansammeln. Im Grunde erfordert das [britische] System von den Student*innen, dass sie erfolgreich abschließen. Sie können nicht durchfallen. Deshalb suchen sie solche Dienstleistungen auf”, sagt ein Ghostwriter in einer BBC Dokumentation, der seinen Namen nicht zu erkennen gibt.

Ghostwriting ist immerhin, wenn man den akademischen Betrieb ausklammert, eine grundsätzlich akzeptierte Praxis. Comedians schreiben ihre Witze schließlich auch nicht selbst, genauso wie Politiker, die fremdgeschriebenen Reden, Zeitungsartikel oder Biographien als ihre eigene Leistung ausgegeben.

Solange der Weg zum Abschluss so teuer und nervenaufreibend ist, werden Ghostwriter wohl immer genug zu tun haben. Vermutlich ist das auch der Grund dafür, dass Ghostwriting in Deutschland noch kein flächendeckendes Phänomen zu sein scheint, so wie im Ausland. „Ich denke, wenn man es will, kann man alles selber machen. Klar, Geld spielt immer eine Rolle, aber in Deutschland ist die Unterstützung recht hoch und die Kosten relativ niedrig. Man wird in Deutschland nicht gezwungen, so eine Leistung in Anspruch zu nehmen, das ist eher ein individuelles Ding”, findet Kristina.