Vor 21 Jahren gründete der Däne Ronni Abergel die „Human Library Organization”. Ein Ort der Zusammenkunft, wo Menschen andere Menschen mit einer besonderen – oder abschreckenden – Geschichte „lesen” können, um sie besser zu verstehen.
Wenn ich ehrlich zu mir bin, muss ich zugeben, dass ich mich selbst ein bisschen langweilig finde. Denn ich bin jetzt 32 und habe mit meinem Leben keine besondere Geschichte zu erzählen. Ich bin in einer eher kleinen Stadt aufgewachsen, war immer eine gute bis sehr gute Schülerin, habe studiert und habe auch keinen besonders spannenden Familienhintergrund.
Natürlich weiß ich, dass das, was ich hier so lapidar „langweilig“ nenne, auch ein Segen ist. Denn ich habe auch weniger Kämpfe zu kämpfen als andere: Ich war nie in der Not, meine Genderidentität in Frage zu stellen. Ich war nie Ausgrenzung ausgesetzt, weil meine Familie aus einem nicht-deutschen Kulturkreis kommt, und ich habe auch keine Behinderung oder sonstige körperliche Auffälligkeit.
Trotz der Tatsache, dass ich selbst nie etwas Vergleichbares erfahren habe, bin ich grundsätzlich strikt gegen Ausgrenzung von Menschen, die anders sind, als ich. Menschen, denen nicht das Glück zuteil wurde, ein „langweiliges” Leben zu leben. Aber wie oft kommt man dazu, auch wenn man sich selbst für offen und tolerant hält, sich wirklich mit ihnen zu beschäftigen?
Die Human Library: ein Safe Space und Ort des Dialogs
In der Human Library (dänisch: Menneskebiblioteket) in Kopenhagen kann man Gespräche mit solchen Menschen führen, die kein einfaches oder „langweiliges” Leben haben. Sie erfahren täglich Vorurteile und Ausgrenzung. Doch anstatt sich dem zu entziehen, bieten sie hier an, anderen von ihren Leben zu erzählen, – um für mehr Akzeptanz für sich und Menschen in ähnlichen Situationen zu werben.
Als Besucher:in der Human Library – als „Leser:in” – hat man die Möglichkeit, sich für 30 Minuten solche Gesprächspartner:innen – „Bücher” – auszuleihen. Das heißt, man unterhält sich eine halbe Stunde lang mit einem Menschen, den man vielleicht sonst nicht kennenlernen (wollen) würde: Überlebende von körperlichem Missbrauch, Prostituierte, Menschen mit Drogenabhängigkeit, Geflüchtete aus Krisengebieten oder einfach nur Menschen mit einem anderen kulturellen Hintergrund. Der/die Leser:in bekommt die Chance, Fragen zu stellen, ihre Geschichten zu erfahren und bei sich selbst Verständnis zu schaffen, wenn es vorher fehlte.
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Unjudge someone
Entstanden ist die Idee auf dem dänischen Roskilde Festival im Jahr 2000. Das „Pilot-Projekt” war für jeweils 8 Stunden an vier Tagen für Interessierte zugänglich und hielt 50 verschiedene Menschen gewisser „Stereotypen” für sie bereit. Mit Hilfe dieser „menschlichen Bücher” forderte man die Besucher:innen heraus, ihre Vorurteile in Angriff zu nehmen und zu überdenken. Dieses Angebot nahmen damals über 1000 Leute wahr.
Und der Erfolg spricht für sich: Inzwischen gibt es Ableger der Human Library als Projekte in Schulen, Bibliotheken und an Universitäten in 80 verschiedenen Ländern auf der Welt.
Das Leitmotto der Human Library lautet seit Entstehung „unjudge someone”, denn alle Menschen haben verdient, als Teil ihrer Gesellschaft akzeptiert zu werden. Egal, welche Geschichte sie uns mitbringen. Wichtig dabei ist, so Gründer Ronni Abergel, dass die Gespräche respektvoll und friedlich ablaufen.
Es gibt dort keinen Raum für Hass und Beleidigungen. Und mag das Gesprächsthema noch so kontrovers sein. Dafür sorgen die sog. Bibliothekar:innen, die bei den Gesprächen anwesend sind und in kritischen Situationen schlichtend eingreifen können. Außerdem sind auch psychologische Ansprechpartner:innen vor Ort, „wenn ein Gesprächspartner eine Unterhaltung nochmal nach Bibliotheksschluss verdauen muss.”, erzählt Abergel der Süddeutschen Zeitung.
Die Human Library ist also ein Praxisbeispiel dafür, wie offene Kommunikation und Kontakt zwischen Menschen dazu dient, mehr Verständnis zu erzeugen und Vorurteile abzubauen. Aber wodurch entstehen Vorurteile eigentlich konkret – und warum hilft eine Auseinandersetzung?
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Angst erzeugt Vorurteile – und Kontakt beseitigt sie
Auch die Wissenschaft hat sich mit diesen Fragen beschäftigt und erforscht nun seit Jahrzehnten Methoden und Techniken, um gesellschaftliche Vorurteile abzubauen. Bahnbrechend dabei war die Forschung des Harvard-Psychologen Gordon Allport. Allport beschäftigte sich viel mit den Bedingungen von Vorurteilen zwischen verschiedenen Gruppen und fand heraus, dass diese sich durch verstärkten und organisierten Kontakt reduzieren lassen. Seine Theorie nannte er die Kontakt-Hypothese.
Maßgeblich entscheidend seien laut Allport dabei vier Voraussetzungen:
Die Human Library Organization ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie Kontakt unter den oben genannten Bedingungen nicht nur in Allports Theorie, sondern tatsächlich im alltäglichen Leben beim Abbau von Vorurteilen hilft. Denn oft kommen die Menschen in die Menneskebiblioteket und suchen sich Gesprächspartner:innen aus, die womöglich zu einem Erlebnis in ihrem eigenen Leben passen. Es gibt ein gemeinsames Ziel, wenn beispielsweise junge Frauen sich mit einer Überlebenden sexualisierter Gewalt austauschen: Das Verständnis der eigenen Situation und die Reflexion dessen, dass die Betroffenen selbst keine Schuld haben an dem, was ihnen widerfahren ist. Und das alles findet an einem Ort statt, der dazu einlädt, diese Dinge gemeinsam zu bearbeiten – mit Hilfe der Organisatoren, die dahinter stehen.
Wenn wir lernen, auf andere Menschen zuzugehen und mit ihnen in den Dialog zu treten, lernen wir die Menschen hinter den Stereotypen kennen und verstehen uns selbst vielleicht ein Stückchen besser. Denn auch, wenn mein Leben bisher in eher geordneten Bahnen verlaufen ist, – vielleicht wird auch mir noch etwas passieren, das mich in den Augen anderer zur Außenseiterin macht. Und dann, ja, dann hoffe ich, dass ich meine Geschichte an einem sicheren Ort teilen kann, der dazu dient, dass andere mich und mein Leben besser verstehen. Ein Ort wie die Human Library.