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Bild: Anne Morgenstern

Kim de l’Horizon – Ein Buch in Blut und Liebe getränkt

Am Café Buchenwald im Berliner Stadtteil Moabit traf Qiio-Chefredakteur Claudio Rimmele auf Kim de l’Horizon – die erste nicht binäre Person, die sowohl den Deutschen als auch den Schweizer Buchpreis gewonnen hat. Der ausgezeichnete Roman „Blutbuch” hat die Literaturwelt in den letzten Monaten intensiv beschäftigt. Nicht zuletzt, weil es einen berührenden Zugang zu einer Vision einer queeren Zukunft schafft. Bei einem Stück Baumkuchen sprachen die beiden über Identität, Magie als heilende Praxis und vor allem über die Liebe.

Kim, leben wir in einer Kultur des Schweigens?

Ich glaube, das Schweigen ist der Nicht-Umgang mit schwierigen Themen. Ältere Generationen hatten viel weniger Zeit und emotionale Ressourcen, um ihre Traumata zu bearbeiten. Und ich sehe, dass das bei der Generation meiner Eltern schon ein bisschen besser ist und dass wir in meiner Generation die zeitlichen, emotionalen und finanziellen Ressourcen haben, um Therapien zu machen. Oder um die Traumatas überhaupt einmal zu spüren. Es geht ja auch um Leere und Leerstellen, aber ich glaube, Schweigen ist das Gegenteil von Leere, weil es von dem Nicht-Gesagten vibriert und vollgepackt ist mit all diesen Traumata. Mein Schreiben ist eigentlich der Versuch, all dieses Reingepappte da rauszuholen.

Und hast du das Gefühl, dass heute weniger geschwiegen wird, oder dass wir uns das Schweigen abgewöhnen?

Ich versuche jedenfalls täglich, nicht zu schweigen oder eben emotionale Arbeit zu leisten. Wenn ich merke, dass etwas schwierig ist und eine Person das nicht anspricht und ich das Gefühl habe, sie ist emotional so stabil, dass ich ein bisschen nachhaken kann, dann versuche ich, dieses Schweigen zu brechen und zu fragen: Was ist denn los? Möchtest du darüber reden? Es geht darum, Verantwortung zu übernehmen – für die eigenen Gefühle, aber auch für die Gefühle, die wir wahrnehmen können. Gerade wenn wir genügend Ressourcen haben, dass wir sagen können „Hey, soll ich dir dabei helfen, irgendwie dein Schweigen zu durchbrechen?”

Merkst du, dass das auch oft gebraucht wird?

Ich hatte den Eindruck, mit Anfang 20 hatten alle cis Männer einen Run. Beziehung, Studium, Sport – alles lief irgendwie gut. Und jetzt mit Ende 20 haben dann alle meine cis-hetero Männerfreunde entweder eine Depression oder sind irgendwie orientierungslos und wissen nicht mehr weiter oder wo sie hinwollen. Da sehe ich eine große Verunsicherung. Und ich glaube, dass dann andere Identitäten eher erprobt sind, um mit Unsicherheiten umzugehen.

Vor seinem Debütroman versuchte Kim mit Nachwuchspreisen attention zu erringen, u. a. mit dem Textstreich-Wettbewerb für ungeschriebene Lyrik und dem Damenprozessor. Heute hat Kim genug vom »ICH«, studiert Hexerei bei Starhawk und textet kollektiv im Magazin DELIRIUM. Bild: Anne Morgenstern

Wie hast du für dich deine Nonbinarität entdeckt? Wann bist du zum ersten Mal auf diese Identität gestoßen?

Das war ein langer Prozess. Mein erster Kontakt mit dem Thema war im Internet. Der Begriff, mit dem ich lieber arbeite, ist eigentlich fluid oder genderfluid, weil non-binär wieder eine Verneinung von etwas ist und ich nicht die Verneinung von binär sein will, sondern etwas mehr sein möchte.

Genderfluid ist ja eigentlich eine bekannte Identität, die ich aber bisher nirgends über dich gelesen habe.

Ich sage das auch nicht allen Journalist:innen, um mich nicht noch einmal mehr erklären zu müssen.

Kann dein Buch oder deine Arbeit auch ein Anstoß für alle Menschen, – egal ob queer oder nicht – sein, mehr über Identität und auch über ihre Geschlechter- und sexuelle Identität nachzudenken?

 Ich sehe die Chance auf eine kollektive Heilung. Es wird so oft von Autofiktion oder autobiografisch inspirierten Sachen gesagt, dass es Selbsttherapie sei. Ich würde schon sagen, dass es einen therapeutischen, heilenden Aspekt hat. Aber eben nicht für einen selbst, sondern für die Verflechtungen, in denen ich mich bewege. Und dieses Geflecht wurde jetzt stark erweitert. Nach den Lesungen sind die Leute oft sehr emotional und ich glaube, das ist auch ein Zeichen dafür, dass es funktioniert.

In deinem Buch geht es auch um die Kraft und die Relevanz unserer weiblichen Vorfahren, die wir in unserer patriarchalen Kultur vergessen. Wie hast du dir diesen Zugang zurückerobert?

In unserer Geschichtsschreibung und Familienkultur fehlt einfach mehr als die Hälfte: Ich glaube, der eine Teil davon sind Frauen, aber die Queers fehlen noch einmal mehr als die Frauen. Wenn wir uns auf diese Spurensuche machen, dann ist eine ganz andere Gegenwart und noch einmal eine ganz andere Zukunft möglich. Ich glaube nicht, dass Sachen ausgelöscht werden können.

In deiner Rede beim Buchpreis hast du auch deinen Freund:innen gedankt. Welche Rolle werden Wahlfamilien in Zukunft spielen? Braucht es für sie mehr politischen Raum?

Ich hoffe, dass es bald keine Rolle mehr spielt, ob das jetzt die biologische Familie oder eine Wahlfamilie ist. Ich habe das Gefühl, dass sich das mehr vermischt, sich beides mehr ineinanderfügt und dass es dann nicht mehr darauf ankommt, ob man durch Blut oder durch Liebe verbunden ist.

In dieser Rede hast du deine Haare aus Solidarität mit den Frauen im Iran, deren Körper eingeschränkt ist, rasiert. Auch deine Romanfigur beschreibt die Zwänge über den eigenen Körper. Wie können wir alle Körper befreien?

Ich glaube, es geht eigentlich nur um Macht: dass die Herrschenden bestimmen wollen und dass der Körper für sie ein Mittel ist, um über andere zu verfügen. Das kommt auch daher, dass es ein System ist, in dem Patriarchat, Kapitalismus und Kolonialismus verwoben und alle tief verwundet sind. Und ich glaube, wir kommen nur davon weg, wenn wir anfangen, alle Wunden anzuschauen und wenn wir lernen, zu leiden. Wenn wir lernen, die Schmerzen zuzulassen und nicht mehr vor ihnen wegzurennen. Ich sehe, dass die Leute, die am meisten versuchen, andere zu kontrollieren, auch die sind, die selbst Wunden tragen und ihre Wunden nicht anschauen können. Ich sehe, wie Minderheiten, wie queere Menschen oder auch BIPoCs, um überhaupt existieren zu können und nicht wahnsinnig zu werden, viel Selbstheilungsarbeit leisten. Und ich glaube auch, dass jetzt die Zeit ist, in der wir Minderheiten so wichtig werden, weil wir eine Fähigkeit haben. Und zwar die Fähigkeit, zu leiden, durch den Schmerz zu gehen und zu heilen. Und das ist etwas, das die Gesamtgesellschaft braucht.

Ist das eine Zauberkraft?

Ich glaube schon, ja.

Du sagst, die wissenschaftliche Erforschung der Welt reicht dir nicht und du brauchst Magie? Warum ist das so?

Ich bin nicht zivilisationspessimistisch und sage alles an Wissenschaft und Fortschritt ist schlecht, überhaupt nicht. Aber wir können von Kulturen, die enger mit der Natur leben, lernen. Gleichzeitig ist die moderne Wissenschaft ebenso wichtig. Eine meiner besten Freundinnen ist Tante geworden und das Kind wäre nach der Geburt fast gestorben, wenn es keinen Zugang zu modernster Medizin gehabt hätte.

Was bedeutet Magie für dich?

Für mich bedeutet Magie, die Dinge, wie sie sind, zu verändern. Das klingt groß und weit und unbestimmt, was es auch ist. Magie ist für mich das Allerundogmatischste, was es gibt, um in Beziehung zu kommen, um Verknüpfungen (wieder)herzustellen. Ich glaube, dieses System, in dem wir sind, funktioniert darüber, Verbindungen kaputt zu schlagen. Und zwar allerlei Verbindungen: zu uns selbst, zu anderen Menschen, zu anderen Geschlechtern, zu anderen Kulturen, zur Natur, zur Erde. Beispielsweise war die Hexenverfolgung ein Mittel, in dem Patriarchat, Kolonialismus, Kapitalismus zusammengekommen sind und dann die moderne Ausprägung erfahren haben, dass Weiblichkeit als etwas Gefährliches konstruiert wurde. Die Spaltung von Geschlechtern und Verteufelung von Weiblichkeit, die Abwertung von Armen und die Verteufelung, Dämonisierung von nicht-westlichem Leben – das kam alles zusammen. Die Hexerei ist für mich weiblich, aber auch queer und versucht, wie auch mein Text, alles wieder zusammen zu verweben. Es ist eine textile Arbeit, alles wieder zu verknüpfen und wieder zu spüren, was eigentlich gerade wichtig ist.

Du erlebst seit dem Buchpreis viel Widerstand und Anfeindungen für deine Person und deinen Körper. Selbst Morddrohungen sind ausgesprochen worden. Wie kommen wir gegen den Hass an?

Ich glaube, der Hass ist schon da und manifestiert sich jetzt einfach. Ich sehe schon einen gewissen Fortschritt, dass jetzt beispielsweise cis Frauen weniger Hass erfahren, wenn sie in der Öffentlichkeit stehen. Und es ist ja auch ein Fortschritt, dass ein Mitglied einer sehr rechten Partei wie der Schweizer Bundesrat Ueli Maurer sagt, es sei ihm egal, ob sein Amt von einem Mann oder einer Frau bekleidet wird.

Welche Rolle werden Wahlfamilien in Zukunft spielen? Kim de l’Horizon baut darauf, dass alternative Familienkonzepte in Zukunft gesellschaftlich anerkannt werden. Bild: Anne Morgenstern

Die brasilianische Trans-Aktivistin Renata Carvalho meinte einmal zu mir, dass mediale Sichtbarkeit für trans und nicht binäre Körper erst einmal zu einer höheren Bedrohungslage für sie führt und sie daher Sichtbarkeit nicht immer gutheißt. Wie stehst du zu diesem Dilemma?

Ich für meinen Teil denke, wir müssen da durch und wir schaffen das. Es bringt zwar Gefahr, aber ich glaube, wir fokussieren uns immer so auf die Gefahr und den Hass. Ich wurde beispielsweise noch nicht gefragt, was denn eigentlich Liebe ist. Ich glaube, dass unsere Sichtbarkeit den Hass zwar hervorlockt, dass er aber einfach schon immer da saß und wir dadurch auch die Chance haben, Unterstützung zu bekommen. Außerdem hätte ich selbst ohne Sichtbarkeit von anderen trans und nicht-binären Menschen vor mir vermutlich nie den Mut gehabt, diesen Weg für mich zu gehen.

Also hat dich selbst die Sichtbarkeit anderer eigentlich erst einmal empowered?

Ja. Und Liebe.

Genau, und was ist Liebe?

Da zitiere ich gerne bell hooks: Liebe ist kein Gefühl, sondern eine Praxis. Es ist kein Feuer, das uns überkommt und dann wieder ausgeht. Wir können und müssen uns für Liebe entscheiden. Und das dann praktizieren. Und was heißt es, zu praktizieren? Liebe zu praktizieren heißt für mich, wie Donna Haraway sagt: „Staying with the trouble“ – die Schwierigkeiten anzunehmen und zu versuchen, sich selbst, die geliebte Person und die Verbindung durch diese Liebe ins Wachsen zu bringen. Und das ist für mich eigentlich auch etwas Spirituelles. Manchmal bedeutet das aber auch, dass selbst wenn wir eine Person wahnsinnig lieben und wir uns beim Wachsen helfen, wir eben auch in verschiedene Richtungen wachsen können. Und das heißt dann nicht, dass die Liebe gescheitert ist, sondern dass die Liebe uns dazu bringt, andere Wege zu gehen.

Kim de l’Horizon ist der diesjährige Gewinner des Deutschen Buchpreises. Der Deutsche Buchpreis zeichnet seit 2005 den „Roman des Jahres“ aus und ist schon bald nach seiner Einführung zu einem der beliebtesten Preise für deutschsprachige Literatur avanciert. Bereits seit 2014 ist die Deutsche Bank Stiftung Hauptförderer der Auszeichnung. Mit ihrem Engagement und eigenen Lesungsformaten eröffnet sie Räume für einen lebendigen literarischen Diskurs.