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Kindheit im Fitness-Wahn – Warum Gen Z sich in die Depression trainiert

Gen Z ist im Fitnesswahn: Immer mehr Teenager beugen sich dem Körperkult und machen exzessiv Sport, um ein bestimmtes Körperbild zu erreichen. Die eigene Gesundheit ist dabei eher zweitrangig. Macht unser Körperbild einen Schritt vor und zwei Schritte zurück?

Jede Generation erlebt eine andere Kindheit. Doch es ist die Pubertät, die zeigt, was unsere gesellschaftlichen Trends für einen Einfluss auf junge Menschen haben. Eine Studie des University College London fand heraus, dass Gen Z Teenager sich eher als übergewichtig bezeichnen als vorherige Generationen.

„Obwohl Jugendliche heute nicht unbedingt mehr Sport treiben als frühere Generationen, deuten unsere Ergebnisse darauf hin, dass sie zunehmend Sport treiben, um ihr Gewicht zu reduzieren oder zu kontrollieren,“ schreiben die Forscherinnen Dr. Francesca Solmi und Dr. Praveetha Patalay.

„Obwohl Jugendliche heute nicht unbedingt mehr Sport treiben als frühere Generationen, deuten unsere Ergebnisse darauf hin, dass sie zunehmend Sport treiben, um ihr Gewicht zu reduzieren oder zu kontrollieren,“ schreiben die Forscherinnen Dr. Francesca Solmi und Dr. Praveetha Patalay. Bild: Huha Inc

Während im Jahr 1986 allein 7 % der befragten 14-Jährigen versuchten, ihr Gewicht durch Sport zu reduzieren oder Muskelmasse aufzubauen, waren es im Jahr 2005 bereits 30 % und im Jahr 2015 60 %. „Der Wunsch nach Gewichtskontrolle ist außerdem zunehmend mit ihrer mentalen Gesundheit verknüpft,“ so die Forscherinnen. Denn laut der Studie weisen Jugendliche, die sich für übergewichtig halten, häufiger Symptome von Depressionen auf, als vorherige Generationen.

Dass sich in fast 30 Jahren die Zahlen um das Zehnfache erhöht haben, scheint aber keinen wirklich zu alarmieren. Denn die Erwartungen an Gen Z gingen in eine ganz andere Richtung. Die Generation, die den festgefahrenen Millennials zeigen sollte, wo’s lang geht: progressiver, offener und aufgeklärter.

Waren wir nicht schon weiter?

Der Begriff ‘Body Positivity’ – einst bezeichnend für eine radikale Bewegung – ist heute Mainstream-Vokabular, das von Influencern und normalen Usern routiniert in ihren Content eingebaut wird. Unter dem Schlagwort #bodypositivity erscheinen allein auf Instagram 9,1 Millionen Beiträge. Auf TikTok bekommt der Hashtag 16,4 Milliarden Aufrufe.

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„Der Begriff (…) ist kommerzialisiert,“ sagt die Schwarze plus-size Sängerin Lizzo – eigentlich eine Ikone der Bewegung – in der US-amerikanischen Vogue. „Wenn man sich den Hashtag ‘Body Positive’ anschaut, sieht man zierliche Mädchen, kurvige Mädchen, weiße Mädchen.“

Der Begriff habe seine radikale Aussagekraft verloren, so Lizzo, und unterstütze nicht mehr jene, die er einst empowern sollte, – insbesondere Frauen* ‘of Color’. Zwar gleicht das zeitgenössische weibliche Schönheitsideal nicht länger einer dürren 90er-Jahre Claudia Schiffer, doch bleibt das vermeintlich diverse Ideal ebenso einseitig und unerreichbar.

Der Kardashian-Effekt

Britische Mädchen fühlen sich bspw. unter Druck gesetzt, eine Körperform zu erreichen, die im Englischen ‘slim-thick’ genannt wird (zu Dt. etwa ‘schlank-kurvig’). Das fand eine Studie der Universität Birmingham heraus. Gemeint ist damit eine unmöglich schmale Taille, gepaart mit einem ebenso überproportional großen Hintern. Körperliche Attribute, für die insbesondere Schwarze Frauen* jahrzehntelang Diskriminierung erfahren haben, werden heute zelebriert – an weißen Körpern.

Die Person, die diesem Aussehen am nächsten kommt, ist Influencer-Mogul Kim Kardashian, aber auch der deutsche Rap-Shootingstar Shirin David reproduziert dieses Ideal. Dass sich die wandelnde Schönheitsoperation Kim Kardashian derweil als Schirmherrin der Body-Positivity-Bewegung inszeniert, ist bezeichnend für die zunehmende Bedeutungslosigkeit des Begriffs.

Liebe deinen Körper – oder spritze, straffe, sauge, bis er dir gefällt.

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Der Trend zum Muskelmann

Aber ‘Body-Issues’ sind nicht länger ein allein weibliches* Problem. Während Frauen* versuchen, ihren Körper in eine künstliche Sanduhr-Figur zu verformen, macht sich unter jungen Männern* ein anderes Schönheitsideal breit: Hypermuskulösität.

Das Ideal ist nicht neu – Stichwort: Arnold Schwarzenegger – doch ist es aus der Bodybuilder-Nische mittlerweile auf jedem Schulhof angekommen. Gefüttert wird der Wunsch nach Superhero-Körpern unter anderem durch die unbegrenzte Abrufbarkeit von Trainingsplänen und ‘Fachwissen’ im Internet. In zahllosen YouTube-Tutorials werden jungen Nutzer*innen „10 KG MUSKELMASSE“, „BRUTALE ARME“ und „4 % KÖRPERFETT” versprochen.

Muskelsucht: Die ‘männliche Anorexie’?

„90 Prozent der Jungs wissen doch heute gar nicht, wohin im Leben!,“ erklärt der selbst ernannte Fitness-Visionär und Life-Coach Karl Ess in der Süddeutschen Zeitung. „Mit Fitness haben die zum ersten Mal Kontrolle über irgendwas. Die sehen sofort Resultate. Das macht süchtig.“

Eine Sucht mit Folgen: Laut Statistiken der britischen ‘National Health Services’ ist die Zahl der Männer, die sich wegen Essstörungen in Behandlung begeben, zwischen 2010 und 2016 um 70 % gestiegen.

Bei Männern kommt es, als Äquivalent zur Magersucht, häufiger zur sogenannten Muskelsucht oder Muskeldysmorphie. „Die Patienten sind maximal muskulös, aber trainieren sich regelrecht kaputt. Weil sie sich im Spiegel als zu dünn wahrnehmen,“ beschreibt Barbara Mangweth-Matzek, Professorin an der Medizinischen Universität Innsbruck, in der SZ.

Social Media –– Katalysator eines künstlichen Schönheitsideals

Als im September 2021 interne Studien Facebooks bestätigten, wie gefährlich Instagram für die mentale Gesundheit junger Mädchen sei, war die mediale Reaktion: schockiert, aber wenig überrascht.

„Zweiunddreißig Prozent der Teenager-Mädchen gaben an, dass sie sich auf Instagram noch schlechter fühlten, wenn sie bereits Probleme mit ihrem Körper hatten,“ heißt es in den Dokumenten, die im Wall Street Journal veröffentlicht wurden.

Wie gefährlich TikTok, der Trendsetting-Newcomer unter den sozialen Medien, für die mentale Gesundheit junger Erwachsener ist, wurde noch nicht ausreichend wissenschaftlich untersucht. Virale Trends wie die ‘What I eat in a day’ Challenge und ‘Glow Up’ Vorher-Nachher-Videos lassen Dunkles erahnen.

Als Reaktion auf die zunehmende Kritik nach der Veröffentlichung der ‘Facebook-Files’ kündigte TikTok neue Ressourcen für Jugendliche an, bspw. lokale Support-Hotlines und Ratgeber zu Essstörungen und gesunder Ernährung. Doch im Zweifel wirken solche Anstrengungen eher wie kurzfristige, PR-wirksame Maßnahmen ohne langfristigen Effekt.

Die Entwicklungen verdeutlichen den mentalen Stress, dem Gen Z permanent ausgesetzt ist. Sie ist die erste Generation ‘echter’ Digital-Natives, die eine Welt ohne Internet, Smartphones und Social Media nicht kennt. Im Vergleich zu vorherigen Generationen hat sich die Zahl der Bilder, mit denen sie seit ihrer Geburt konfrontiert werden, vertausendfacht. Im endlosen Strom aus Filtern, Photoshop und plastischer Chirurgie, Schein und Realität auseinanderzuhalten, wird nahezu unmöglich.

Soziale Medien sind ein Katalysator von künstlichen Schönheitsidealen und treiben den verzerrten Körperkult an. Bild: Karsten Winegeart

Runter mit dem BMI –– koste es, was es wolle!

Doch der Druck, den eigenen Körper in eine fitte Schablone zu zwängen, hört nicht auf, wenn man das Handy zur Seite legt. Er begegnet einem in Nutri-Scores beim Lebensmitteleinkauf und fehlenden Übergrößen beim H&M-Shopping. Wenn NIKE „JUST DO IT“ von der nächsten Plakatwand schreit und Schock-Headlines schwere Verläufe des Coronavirus mit Übergewicht in Verbindung setzen.

Wenn also über die Bedeutung eines ‘gesunden Gewichts’ gesprochen wird, muss ‘mentale Gesundheit’ Bestandteil des gleichen Diskurses sein. Ansonsten läuft insbesondere die junge Generation Gefahr, einen ‘gesunden’ BMI über eine gesunde Psyche zu stellen. Ein gestörtes Essverhalten und Körperunzufriedenheit mit negativen psychischen Folgen treten bei allen BMI-Werten auf, so die Forscherinnen vom University College London. Äußerlich fit und gesund zu erscheinen, macht nicht automatisch glücklich!

Gesunde Vorbilder gesucht!

Die Mammutaufgabe, diese endlosen und widersprüchlichen Botschaften zum eigenen Körper eigenständig zu entschlüsseln, kann von Kindern und jungen Erwachsenen nicht allein gemeistert werden.

Hätte man also ‘mehr’ von Gen Z erwarten können? Die Forderung erscheint kurzsichtig und ziemlich unfair. Waren Millennials wirklich weiter? Ihr Umgang mit dem eigenen Körper stammt schließlich aus einer anderen Welt; einer Kindheit ohne Internet und einer Jugend ohne Social Media. „Ihr habt uns schließlich nie darauf vorbereitet!“, könnte Gen Z genauso schnippisch antworten.

Millennials taumeln bis heute stundenlang durch ihren Instagram-Feed, ohne dessen Auswirkungen auf die eigene Psyche wirklich zu begreifen – während die Altersgruppe 50+ erst seit ein paar Jahren weiß, wie man überhaupt Facebook nutzt. Wenn Ältere im digitalen Raum ebenso Blindekuh spielen mit ihrer mentalen Gesundheit, von wem kann Gen Z dann pädagogische Führung erwarten?

Gen Z’s Umgang mit dem eigenen Körper stammt aus einer anderen Welt; einer Kindheit ohne Internet und einer Jugend ohne Social Media. Die Art und Weise, wie viele Teenager TikTok nutzen, verdeutlicht, dass Gen Z von selbst andere Wege finden möchte, ihre Körperlichkeit auszudrücken. Bild: Yoav Aziz

Learning by doing.

Die Art und Weise, wie viele Teenager TikTok nutzen, verdeutlicht, dass Gen Z von selbst andere Wege finden möchte, ihre Körperlichkeit auszudrücken. Auf der Videoplattform stehen Spontaneität, Unterhaltung und Originalität im Vordergrund. Die polierten Profile mancher Instagram-Influencer wirken im Vergleich nahezu bieder.

Wenn die führende Hand von Eltern und Pädagog*innen ausbleibt, sind es oft die eigenen Altersgenossen, die der jungen Community eine gesunde Beziehung zum eigenen Körper vermitteln. So bspw. TikTok-Star Brittani Lancester, die auf ihrem Kanal offen von ihrer früheren Essstörung berichtet und anderen Nutzer*innen als Inspiration dienen will.

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Dabei wäre die Zukunft so einfach: Kinder und Jugendliche lernen bereits in der Schule, die digitale Bilderflut richtig einzuordnen, bspw. durch Bildungsformate zu Medienkompetenz und mentaler Gesundheit. Doch bleibt das vorerst nur ein Gedankenspiel – ein konstruktiver Austausch über „What I eat in a day” Videos hat bisher den Weg in wenige deutsche Klassenzimmer gefunden. Dafür fehlt es an Fachpersonal und politischem Handlungswillen.

Mentale Gesundheit ist kein Kinderspiel.

Mehr als irgendeine andere Generation ist Gen Z geplagt von mentalen Problemen und gleichzeitig offen dafür, psychologische Beratung anzunehmen. Das ergab eine Studie der American Psychological Association. Doch kommt diese Hilfe zu selten tatsächlich bei ihnen an. Ihr Fitness-Wahn scheint wie der Versuch, Kontrolle zurückzugewinnen in einer Welt voller Unsicherheiten – zwischen Klimawandel, Populismus und Coronapandemie.

Gen Z ist eine Generation mit allen Voraussetzungen, um ein gesundes und vielseitiges Körperbild zu entwickeln, aber die Verantwortung dafür kann nicht bei ihnen allein liegen. Insbesondere in Zeiten, in denen es oft ausschließlich um das Wohlergehen älterer Menschen geht, darf die mentale Gesundheit junger Menschen nicht immer den Kürzeren ziehen.