In ihrem Buch Die Erschöpfung der Frauen (2021) schreibt die Autorin und Forscherin Franziska Schutzbach über ein System, das Frauen alles abverlangt und nichts zurückgibt. Wie wir das ändern könnten, erklärt sie im Interview.
Franziska Schutzbach ist Geschlechterforscherin, Soziologin, Buchautorin und feministische Aktivistin. Laut Schutzbach stecken wir inmitten einer Care-Krise: Der Bedarf an Care-Arbeit wird immer größer, aber die Menschen haben immer weniger Zeit, ihr nachzugehen. Das trifft die Schwächsten der Gesellschaft am härtesten. Warum wir ein gesamtgesellschaftliches Umdenken brauchen und warum wir progressive feministische Wirtschaftstheorien nicht länger ignorieren sollten.
Franziska, fühlst du dich in deinem Leben erschöpft?
Meine persönlichen Erschöpfungserfahrungen haben in meinem Buch eine Rolle gespielt. Dennoch habe ich auch den Anspruch, mit dem Buch über meine eigenen Erfahrungen hinauszugehen. Das versuche ich mit dem sogenannten intersektionalen Ansatz, indem ich in die Erschöpfungsbedingungen von verschiedenen Frauen eintauche – seien es etwa die Erfahrungen von Migrantinnen, Frauen of Color, queeren Frauen oder Care-Arbeiterinnen in privaten Haushalten. Ich beschreibe also auch Erschöpfungserfahrungen, die ich selbst nicht kenne.
Ist die ständige Verfügbarkeit, über die du auch in deinem Buch sprichst, etwas explizit Weibliches?
In der Geschlechter-Geschichte gab es eine starke Trennung: Die Frauen sind für alles Mütterliche, für die Gefühlswelt und die Fürsorge zuständig, während Männer für das Politische und die Berufswelt zuständig sind. Ich spreche hier natürlich aus einem europäischen Kontext heraus. Im traditionellen bürgerlichen Familienverständnis lebt die Frau in ökonomischer Abhängigkeit von einem Mann, der früher auch gesetzlich über ihre Arbeitskraft, über ihren Körper, Sexualität und Reproduktion verfügen konnte. In diesem patriarchalen Besitzverhältnis spielen auch alte Bilder eine Rolle, etwa, dass die Frau der Gesellschaft etwas schuldig ist, weil sie als „schuldig“ betrachtet wird. In der jüdisch-christlichen Erzählung ist Eva die Frauenfigur, die für das Scheitern der Menschen schuldig gemacht wurde. Sie ist die Schwache, die Sündige und sie ist schuld daran, dass die Menschen aus dem Paradies vertrieben wurden. Die Gleichsetzung von weiblich = schuldig führt zu der Annahme, dass Frauen der Gesellschaft immer etwas schulden. Sie müssen stets etwas leisten, um diese Schuld und ihre Schwäche abzubauen. Deshalb müssen sie quasi immer verfügbar sein. Diese Verknüpfung von Schuldigkeit und Weiblichkeit sehen wir auch in anderen mythischen Figuren, wie zum Beispiel der Pandora. Sie ist schuld daran, dass das Böse aus der Büchse befreit wird und sich auf der Welt verteilt. Die europäische Hexenverfolgung war ebenso stark von dieser Sündenbock-Dynamik geprägt: Mehrheitlich wurden damals Frauen für vieles, was in der Welt schiefläuft, schuldig gemacht: ob Missernten, Unwetter oder Krankheiten.
Welche Auswirkungen haben solche historischen Frauenbilder auf Frauen heute?
Viele Frauen haben wegen solcher uralten, frauenfeindlichen Kulturerzählungen in ihrem Alltag ein schlechtes Gewissen: Wenn sie die Bedürfnisse anderer nicht erfüllen, wenn sie nicht (emotional) verfügbar sind, wenn sie Grenzen ziehen oder nein sagen, haben sie das Gefühl, etwas Unangemessenes zu tun. Frauen haben deshalb oft das Gefühl, sie dürften ihre Verfügbarkeit nicht eingrenzen. Ich finde es wichtig zu verstehen, dass das mit historischen Geschlechterbildern zusammenhängt, aber natürlich auch mit einer kapitalistischen Wirtschaftsweise.
Wie meinst du das?
Neben den frauenfeindlichen Kulturerzählungen, hat auch der Kapitalismus ein Interesse daran, die Frau immer in der Rolle der Gebenden zu positionieren. Der profitorientierte Markt braucht die Frau als verfügbare Ressource, deren Liebe quasi endlos und gratis abschöpfbar ist. Das lohnt sich ökonomisch, denn wenn die Erzählung besagt, Frauen machen diese Liebesarbeit aus ihrer Natur heraus gerne und weil sie das so gut können, dann muss der Markt für die Sorgearbeit nicht aufkommen. Die Rolle der Frau als Gebende ist ökonomisch also höchst lukrativ: Pro Tag werden 16,4 Milliarden Stunden Haus- und Familienarbeit weltweit geleistet – also 16,4 Milliarden Stunden unbezahlte Arbeit. Drei Viertel davon wird von Frauen übernommen. Wenn man das bezahlen würde, müsste man Profite drastisch umverteilen. Und daran hat eine profitorientierte Wirtschaft kein Interesse. Deswegen gibt es ein ökonomisches Interesse daran, diese Bilder von weiblicher Fürsorglichkeit und Aufopferung aufrechtzuerhalten.
Heißt das, der Kapitalismus würde ohne die unbezahlte Arbeit von Frauen, ohne die Abarbeitung dieser Schuld gar nicht auskommen?
Dass die unbezahlte Sorgearbeit von Frauen die unsichtbare Voraussetzung des Marktes ist, wurde schon in den 1970er-Jahren von feministischen Theoretikerinnen analysiert. Wenn Menschen nicht geboren, aufgezogen, geliebt und umsorgt werden, kann auch niemand in einer Fabrik Produktionsarbeit leisten. Sorgearbeit ist die Voraussetzung, damit so etwas wie Wirtschaft überhaupt stattfinden kann. Das wird aber bis heute in den vorherrschenden Ökonomie-Theorien nicht berücksichtigt. Die volkswirtschaftlichen Lehren seit dem 18. Jahrhundert haben einen ausschließlichen Fokus auf Profit und Produktion – das wird als Wirtschaft definiert. Weil Sorgearbeit schlicht nicht als wirtschaftsrelevant gilt, kommt sie auch nicht im Bruttoinlandsprodukt vor. In der Schweiz wird insgesamt zum Beispiel mehr unbezahlt als bezahlt gearbeitet: Der monetäre Wert der unbezahlten Arbeit der Frauen in der Schweiz wird von Ökonominnen pro Jahr auf 248 Milliarden CHF geschätzt – das sind mehr als alle Ausgaben, die der Bund, alle Kantone und alle Gemeinden tätigen.
Welche Auswirkungen hat das?
Die Annahme, dass diese Arbeit nicht als wertschöpfend gilt, führt zu einer massiven Abwertung dieser Tätigkeit. Auch in den Pflegeberufen, die schlecht bezahlt werden, zeigt sich dieses Problem. Das wirkt sich fatal auf die Wirtschaftspolitik und auf die Menschen aus. Die wirtschaftliche Bedeutung der unbezahlten Sorgearbeit, aber auch die bezahlte Sorgearbeit in Krankenhäusern bleibt als Beitrag zu unserem Lebensstandard vollkommen unsichtbar und entwertet.
Inwiefern hat sich das Problem in den letzten Jahren zugespitzt?
Jetzt, wo auch Frauen zunehmend in die Erwerbstätigkeit eingestiegen sind, steht die Sorgearbeit massiv unter Druck, da auch Frauen zunehmend Geld verdienen müssen. Das führt dazu, dass Frauen nun eine „doppelte Schicht” absolvieren, wie die Soziologin Arlie Hochschild in den 1980er-Jahren feststellte. Sie verdienen Geld, und wenn sie nach Hause kommen, machen sie noch eine Schicht Care-Arbeit. Das sogenannte Ein-Ernährer-Modell können sich heute die wenigsten Menschen noch leisten. Frauen müssen und wollen erwerbstätig sein, aber wer holt dann die Kinder aus der Kita, putzt und macht die Wäsche? Es gibt immer weniger Zeit für diese Sorgetätigkeit. Das ist die Folge eines einseitigen ökonomischen Profit-Ideals, in dem Sorgearbeit nicht als ebenbürtig und systemrelevant gilt und folglich ausgebeutet wird. Dadurch entsteht immer mehr Erschöpfung, weil die Sorgearbeit nicht weniger wird, sondern mehr: Die Menschen werden immer älter, das Gesundheitssystem spart an allen Ecken und Enden und während der Pandemie wurde Sorgearbeit automatisch ins Private delegiert. Viele Menschen aus den unteren und mittleren Einkommensschichten kommen mit ihren Löhnen finanziell kaum über die Runden, sie müssen ihre gesamte Zeit und Energie in die Erwerbstätigkeit stecken. Gleichzeitig wollen sie ihre Kinder nicht vernachlässigen und versuchen alles, um ihren Kindern ein gutes Leben zu ermöglichen. Daher kommt der zugenommene Stress.
Und gleichzeitig sollen Frauen heute tolle Karrieren machen…
Genau, Frauen sollen Karrieren machen, werden als emanzipiert gefeiert, gleichzeitig übernehmen sie zu Hause immer noch die Hauptverantwortung, dürfen aber noch nicht mal zeigen, dass sie Sorgearbeit leisten. Sie müssen auch im Beruf Allzuständigkeit und Dauerverfügbarkeit signalisieren. Dadurch ergibt sich eine paradoxe Gleichzeitigkeit von Fortschritten und Persistenzen: Frauen können Karriere machen, aber gleichzeitig ändert sich auf der Seite der Zuständigkeit für Sorgearbeit nichts. Die Gesellschaft hat ein ähnlich ausbeuterisches Verhältnis zur weiblichen Sorgearbeit wie zum Planeten: Wir tun so, als wäre sie einfach vorhanden und könnte ausgeschöpft werden. Da brauchen wir dringend ein Umdenken.
Welche Konsequenzen hat diese Mehrfachbelastung für berufstätige Frauen?
Die mangelnde Zeit für Sorgearbeit in den Familien führt dazu, dass diejenigen, die es sich leisten können, die Care-Arbeit an immer schwächere Gesellschaftsmitglieder delegieren. In der Schweiz sind das beispielsweise oft Frauen aus osteuropäischen Ländern, die oft mit einem Visum einreisen, das nur drei Monate gültig ist. Dann gehen sie wieder zurück, bis die nächste Frau kommt. Diese Frauen wiederum hinterlassen auch in ihren eigenen Familien wieder massive Sorge-Lücken, wo wiederum Frauen einspringen, wie die Großmutter oder Tante. Jovita Dos Santos Pinto, eine Historikerin in der Schweiz, spricht von einem rassifizierten Kapitalismus. Wenn es um Care-Arbeit geht, müssen wir zum einen die Geschlechterperspektive betrachten, aber auch die Reproduktion von Rassismus berücksichtigen. Wem wird die sogenannte gesellschaftliche Drecksarbeit am Ende des Tages zugeschanzt? Unter welchen Bedingungen? Dass in der Care-Krise Sorgearbeit immer an die Schwächsten delegiert wird, ist Teil von diesem erschöpfenden System.
Also her mit der umfassenden System- und Kulturänderung.
Wir brauchen sowohl einen ökonomischen als auch einen kulturellen Paradigmenwechsel. Wenn wir Sorgearbeit nicht aufwerten, zerstören wir unsere eigenen Grundlagen. Auf der ökonomischen Ebene wäre meine Forderung: Teilzeit für alle, damit genug Zeit für Care-Arbeit ist. Wir brauchen Lohnerhöhungen, damit genug verdient werden kann, um auch Zeit und Energie für Sorgearbeit zu haben. Alle Menschen n genug Zeit und Ressourcen, um Fürsorge für andere leisten zu können, aber es braucht auch Zeit für Selbstfürsorge und für politische Arbeit – all das sind wirtschaftsrelevante Tätigkeiten. Wenn wir Demokratie ernst nehmen, brauchen Menschen auch Zeit, um sich zu engagieren. Wir brauchen also eine andere Definition von Arbeit und neue Zeitmodelle, in denen wir Care-Arbeit endlich ins Zentrum stellen. Das bedeutet auch, dass wir das Paradigma vom Homo oeconomicus hinterfragen, also dieses falsche Menschenbild von einem allzeit produktiven, an Konkurrenz orientierten, ökonomischen Mann, der ja das Ideal von allen vorherrschenden ökonomischen Modellen ist. Nicht zuletzt sind alle Menschen bedürftig und brauchen die meiste Zeit ihres Lebens Betreuung. Wir müssen akzeptieren, dass Menschen verletzlich und abhängig sind – das, und nicht Funktionstüchtigkeit und andauernde Stärke sollten die Ausgangspunkte unseres Denkens und Wirtschaftens sein. Die feministische Denkerin Ina Praetorius sagte in einem Vortrag: Wir sollten nicht leben, um zu wirtschaften, sondern wirtschaften, um gut leben zu können.
Gibt es noch einen Tipp, den du jungen Frauen mitgeben würdest, wie man mit dieser Erschöpfung umgehen kann?
Wichtig ist, die strukturelle Dimension dahinter zu verstehen. Es ist nicht die Schuld der Einzelnen, dass sie nicht genug Yoga macht oder irgendwelche Work-Life-Balance-Programme nicht gut genug umsetzt. Egal, wie viel Yoga wir machen, das Problem ist systeminhärent, weil die profitorientierte Wirtschaftsweise und die Digitalisierung Menschen massiv unter Druck setzen. Es ist nicht die Schuld der Einzelnen, dass sie erschöpft ist. Und ich glaube, das kann schon etwas sehr empowerndes haben, die ökonomischen Grundstrukturen hinter bestimmten Erschöpfungsformen zu verstehen. Ich plädiere dafür, sich gesellschaftspolitisches Wissen anzueignen. Das ist für die Psyche sehr entlastend. Gerade Frauen tendieren dazu, das Problem bei sich zu suchen. Ich wollte mit meinem Buch nicht noch mehr Druck auferlegen, das ist leider oft der Effekt von Optimierungsratgebern. Deshalb ist es hilfreich, auch die Strukturen und Zusammenhänge zu kennen. Gerade in heterosexuellen Beziehungen hilft es, sich dieses System gemeinsam anzugucken. Wie sind Frauen sozialisiert? Wie sind Männer sozialisiert? Das sollte man besprechen. Auch Familienarbeit ist nicht einfach etwas, das sich automatisch von selbst erledigt. Es braucht wie jede andere Arbeit Planung und „Management“, am besten schon vor der Geburt eines Kindes. Besonders von Männern würde ich einfordern, dass sie nicht einfach ins Familienleben stolpern, sondern sich zu dem Thema bilden.
Wollt ihr euch noch mehr über das Thema informieren? Hier sind ein paar Büchertipps von Franziska Schutzbach:
Patricia Cammarata: Die Mental Load Falle
Tobias Moorstedt: Wir schlechten guten Väter
Mareike Fallwickl: Die Wut, die bleibt