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Bild: Frank Schröder

Musik als innere Forschungsreise: Experiment versucht Musik auch für Taube spürbar zu machen

Ist Musik mehr als nur die Abwechslung von Klang und Stille? Der*die Taube Politiker*in und Gebärdensprachdozent*in Martin Vahemäe-Zierold, dessen Pronomen im Englischen They/Them sind, hat bei einem Musikexperiment der Berliner Staatsoper mitgemacht und erklärt im Gespräch, wie Musik inklusiver gestaltet werden kann.

Wenn man sich bei Wikipedia oder im Duden die Definitionen von „Musik“ anschaut, muss man kurz mal schmunzeln. Laut Wikipedia ist Musik eine Kunstgattung, deren Werke aus organisierten Schallereignissen bestehen. Auch der Duden versteht Musik ähnlich: Tonkunst, bei der „Töne in bestimmter Gesetzmäßigkeit (…) zu einer Gruppe von Klängen und zu einer stilistisch eigenständigen Komposition“ geordnet werden. 

Die meisten hörenden Menschen haben sich vermutlich noch nie mit einer Definition von Musik beschäftigt. Die Sinneserfahrung ist für uns so universal, dass wir sie gar nicht brauchen. Doch de facto sind die obigen Definitionen unzureichend. Denn sie lassen alle körperlichen und visuellen Aspekte von Musik außen vor und betonen die Vorherrschaft von Klang in Musik, die in unserer Kultur der Hörenden üblich ist. 

Die Berliner Staatsoper und das Magazin iHeartBerlin haben fünf Musikliebhaber*innen darum gebeten, für ein Musikexperiment auf die Bühne der Staatsoper kommen. Ziel war, die emotionale Kraft der Stimme so ungefiltert wie möglich auf die Teilnehmer*innen wirken zu lassen und sie die Musik spüren zu lassen. Bild: Frank Schröder

Dabei hat Musik mehr Eigenschaften als Schall und Töne. In der Kultur von Tauben Menschen spielen vor allem visuelle Aspekte und Vibrationen eine wichtige Rolle bei der Wahrnehmung von Musik. Das erfahren wir im Gespräch mit Martin Vahemäe-Zierold. 

Zierold ist nonbinär, Politiker*in und Gebärdensprachdozent*in und seit der Geburt Taub. Zierold zieht den Begriff „Taub“, mit großem T, dem Begriff „gehörlos“ vor. Zudem möchte Zierold, dass wir auf Pronomen verzichten, da es diese in der Gebärdensprache nicht gibt. Wir verwenden deshalb stattdessen immer Zierolds Namen. 

Martin Vahemäe-Zierold ist queer, Politiker*in und Gebärdensprachdozent*in und seit der Geburt Taub. Bild: Frank Schröder

„Das Wort ‘gehörlos’ ist sehr defizitorientiert“, sagt Zierold im telefonischen Interview, bei dem eine Dolmetscherin übersetzt. „‘Taub’ kommt von dem amerikanischen Begriff ‘Deaf’. Das D wird großgeschrieben, weil es sich um eine Identität und Kultur handelt. Die Gebärdensprache ist die Identität von Tauben Personen und darauf sind wir stolz. ‘Gehörlos’ impliziert, dass etwas verloren ist, dass es einen Mangel gibt, das ist sehr negativ konnotiert.“ 

Ein Musikexperiment in der Staatsoper versucht, Musik spürbar zu machen 

Anlässlich des 200. Geburtstags des Berliner Staatsopernchors haben die Staatsoper und das Magazin iHeartBerlin fünf Musikliebhaber*innen darum gebeten, für ein Musikexperiment auf die große Bühne der Staatsoper kommen. Den Teilnehmer*innen wurde lediglich gesagt, dass sich das Experiment mit der Wahrnehmung von Musik beschäftigt. Unter ihnen auch Martin Vahemäe-Zierold, der Musik zuvor eigentlich eher skeptisch gegenüber stand. Vor diesem Erlebnis war Zierold noch nie in der Oper. „Das ist gar nicht so meine Welt und meine Kultur“.

Vor dem Experiment wurden die Teilnehmer*innen darum gebeten, ihre Augen zu schließen. Zierold legte sich mit einem Luftballon in den Armen in die Mitte des Bühnenbodens. In dem Moment, als alle die Augen schlossen, betrat der Staatsopernchor die Bühne und stellte sich im Kreis von allen Seiten um die Teilnehmer*innen herum. Dann begannen sie zu singen. 

„Als der Chor angefangen hat, zu singen, hat dieser Luftballon in meinen Händen stark vibriert. Das ging durch meinen ganzen Körper. Das war ein ganz berührendes Gefühl, weil der Schall von allen Seiten kam und tief durch mich hindurch ging“, erzählt Zierold.

Das Ziel des Musikexperiments war, die emotionale Kraft der Stimme so ungefiltert wie möglich auf die Teilnehmer*innen wirken zu lassen und sie die Musik spüren zu lassen. „Operngesang ist gesungenes Gefühl“, sagt der Psychologe und Regisseur Claudio Rimmele, der das Konzept für das Experiment entwickelt hat. Mit dem Experiment möchte die Oper filmisch dokumentieren, was Musik in verschiedenen Menschen auslösen kann, wenn sie mit ihr direkt physisch konfrontiert werden.„Viele assoziieren Oper mit Prunk, Samt und Abendgarderobe. Ein verstaubtes Kulturgut, was junge Generationen nicht mehr anspricht. Aber eigentlich sind Opernhäuser lebendige Archive von menschlicher Kultur. Sie pflegen und bewahren diese speziellen Talente, die nur hier in dieser Art erlebbar sind“, ergänzt Rimmele. 

Operngesang ist gesungenes Gefühl“, sagt der Psychologe und Regisseur Claudio Rimmele, der das Konzept für das Experiment entwickelt hat. Bild: Frank Schröder

Das Experiment in der Staatsoper hat Zierolds Beziehung zu Musik verändert, wie Zierold im Gespräch erzählt. Ich hatte das Gefühl, Musik zum ersten Mal verstanden zu haben. In der Mitte der Bühne zu sitzen, umringt von Musiker*innen, und wie ein König so viel Aufmerksamkeit zu bekommen, das war ein ganz tolles Gefühl und ganz anders, als zum Beispiel unten im Publikum zu sitzen.“

Als Tauber Mensch hat Zierold schon in der Schule Diskriminierung durch Musik erfahren und hatte deshalb wenig Interesse an ihr. „Wir sollten dann irgendetwas trommeln oder performen, was wir ja nicht gehört haben“, erinnert sich Zierold. Damals wurde Musik noch nicht gedolmetscht und war deshalb kein inklusives Medium. Auch das Abitur konnte Zierold nicht absolvieren, weil es damals keinen Unterricht in Gebärdensprache gab. 2001 wurde Zierold der*die erste Taube Politiker*in einem deutschen Parlament. Heute ist es Zierold ein Anliegen, Inklusion im Kulturbereich stärker zu fördern.

Inklusion statt Integration

In Deutschland leben über 80.000 Taube Menschen. Trotzdem steht Integration im Gegensatz zu Inklusion immer noch stärker im Mittelpunkt: So werden Tauben Menschen Hörgeräte zur Verfügung gestellt, damit sie sich hörenden Menschen anpassen können, obwohl sie untereinander nur in Gebärdensprache kommunizieren. Dass hörende Menschen Gebärdensprache lernen, ist immer noch unüblich. Menschen mit Behinderung werden nach wie vor auf ihre Beeinträchtigung reduziert.

Auch Gebärdensprachdolmetscher*innen, deren Muttersprache die jeweilige Gebärdensprache ist, sind bei Musikveranstaltungen eher eine Seltenheit. Dass Taube Menschen Musik nicht hören können, impliziert jedoch keineswegs, dass sie Musik nicht wahrnehmen können. 

Das Experiment hat Zierold für Musik geöffnet. Auch für die Sänger*innen war es berührend, Zierolds Rückmeldung zu bekommen und zu erfahren, wie Zierold die Musik wahrgenommen hat. Bild: Frank Schröder

Seit Musik häufiger gedolmetscht wird, habe sich die Akzeptanz und das Interesse an Musik in der Tauben-Community erhöht, so Zierold. „Natürlich wird Musik von uns nicht akustisch wahrgenommen, sondern visuell und durch die Vibrationen, die man im Körper spürt. Wenn das Visuelle und die Vibrationen mit dem Dolmetschen kombiniert werden, dann stößt Musik auf jeden Fall auf mehr Akzeptanz in der Tauben-Community.“ 

Die Perspektive von Tauben Menschen macht die unterschiedlichen Facetten von Musik deutlich. Zierold betont, dass unterschiedliche Klänge von unterschiedlichen Instrumenten, die Stimme als Instrument mit inbegriffen, anders im Körper wahrgenommen werden. „Musik im Körper zu spüren geht auf verschiedenen Ebenen. Das kommt auf das Instrument an, manche Instrumente spüre ich weiter oben, andere weiter unten. Für mich ist das wie eine innere Forschungsreise, wenn die Aufmerksamkeit in den eigenen Körper reingeht und ich Entspannung durch die Musik erlebe.“

Für Zierold ist das Erleben von Musik wie eine innere Forschungsreise, wenn die Aufmerksamkeit in den eigenen Körper reingeht und ich Entspannung durch die Musik erlebe.“ Bild: Frank Schröder

Das Experiment habe Zierold auch mehr für Musik geöffnet. Auch für die Sänger*innen war es berührend, Zierolds Rückmeldung zu bekommen und zu erfahren, wie Zierold die Musik wahrgenommen hat. Für die Zukunft wünscht sich Zierold mehr Inklusion in der Kulturwelt: „Ich glaube, es wäre einfach schön, wenn Taube Menschen noch mehr dabei sein könnten und in die Welt der Musik eingeladen wären, dass mehr Zusammenarbeit zwischen Tauben und hörenden Menschen stattfindet.“

Aus Musik wird Vusik

Wie bessere Inklusion im Musikbereich aussehen kann, erfahren wir ebenso. Vor zwei Wochen besuchte Zierold während einer Fachtagung für Taube Menschen eine Visual Vernacular Performance. Dabei bekamen Taube Performer*innen die Möglichkeit, auf der Bühne zu stehen und Musik barrierefrei darzustellen. Bei der Kunstform Visual Vernacular (VV) stellen Performer*innen Musik durch expressive Interpretationen visuell dar. Diese spezielle Kunstform hat sich bereits auf der ganzen Welt ausgebreitet, online findet man unzählige Performances. 

„VV ist eine ganz bestimmte Kunstform in der Gebärdensprache“, erklärt Zierold. „In der Musik ist der Fokus auf Sprechen und Hören, sie ist erstmal wenig visuell. Man kann Musik aber auch anders definieren und das M mit einem V für visuell ersetzen. Dann wird Musik zu Vusik und Musikalität zu Vusikalität. Dabei ist der Fokus nicht mehr nur auf Sprechen und Hören. Stattdessen ist der ganze Körper mit inbegriffen – das ist für mich Inklusion.“