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Bild: Paula Günther (Qiio Magazin) / MYA Network

Mythos vs. Wissenschaft: Wie frühe Schwangerschaften wirklich aussehen

Die meisten Menschen wissen nicht, wie die befruchtete Eizelle in den ersten Wochen der Schwangerschaft aussieht und sich entwickelt. Und doch denken alle, es zu wissen. Welche Konsequenzen hat dieses Unwissen für die Abtreibungsdebatte?

Als der Oberste Gerichtshof in den USA im Juni das Recht auf Abtreibung abschafft, tritt das eine Welle an Verboten los: In dreizehn Bundesstaaten stehen Frühabtreibungen seitdem unter Strafe. Und das, obwohl die Mehrheit der Amerikaner:innen sich für die legale Abtreibung ausspricht. 

Das geschichtsträchtige Urteil in den amerikanischen Staaten hat auch im Rest der Welt die Diskussionen über Schwangerschaftsabbrüche wieder befeuert. Seltsam ist nur, dass wir zwar alle über Abtreibungsrechte reden oder die Vor- und Nachteile auf Instagram debattieren – eigentlich aber nur sehr wenig darüber wissen. Vor allem der medizinische Blick gerät in diesen Gefechten vorschnell außer Acht. 

Das MYA-Network will das ändern: Das amerikanische Netzwerk von Ärzt:innen, Aktivist:innen und Patient:innen formierte sich während der Covid 19-Pandemie mit der Absicht, frühe Abtreibungen kulturell und medizinisch zu normalisieren. “Abortion Care” statt Stigmatisierung und Verbote sollen die Debatten leiten. Mit einer Reihe an Fotos wollen sie deshalb zunächst mit einem fest etablierten Mythos brechen: der Annahme, dass die befruchtete Eizelle von Anfang an ein Miniatur-Mensch ist.

So stellt das Netzwerk die Gretchen-Frage: “Weißt du, wie die ersten Stadien einer Schwangerschaft aussehen?” – und führen damit in das gesellschaftlich hochsensible Thema des Schwangerschaftsabbruchs ein. Oder wie das Netzwerk es umschreibt: The Issue of Tissue

Zum Schutz der Schwangeren

Neben The Guardian thematisierte auch die amerikanische Autorin, Journalistin und Pro-Choice-Aktivistin Jessica Valenti die MYA-Fotos auf ihrem TikTok Kanal. Sie machte darin ihrem Ärger darüber Luft, dass die kleinen weißen Gewebewölkchen vor dem Gesetz für wertvoller als das Leben einer schwangeren Person angesehen werden. Und sie hat recht mit dem Verweis auf den Schutz des Lebens der Schwangeren: Denn es sterben jedes Jahr etwa 200.000 Schwangere an den gesundheitlichen Folgen ihrer Schwangerschaft. 

Dokumentierte Todesursachen von schwangeren Frauen weltweit. Grafik: Our World in Data (CC BY 4.0)

Außerdem: Verbote verhindern nicht wirklich Abtreibungen, sondern erhöhen lediglich die Anzahl unsicherer, weil illegaler Schwangerschaftsabbrüche. Und die zählen laut WHO zu den häufigsten Ursachen für Müttersterblichkeit. Das ist nicht nur ein kritisches Problem der öffentlichen Gesundheit, sondern auch der Menschenrechte. 

Etwa 45 % aller Schwangerschaftsabbrüche sind nämlich nur deshalb unsicher, weil den Schwangeren der Zugang zu einer sicheren, rechtzeitigen, erschwinglichen und respektvollen Abtreibungsversorgung fehlt. Dabei ist ein früher Schwangerschaftsabbruch eigentlich eine einfache Maßnahme der Gesundheitsfürsorge, wenn sie von Gesundheitsfachkräften mit Hilfe von Medikamenten oder einem chirurgischen Eingriff wirksam und sicher durchgeführt wird.

Einen ersten Schritt Richtung Aufklärung geht MYA, indem sie anhand der Fotos die verschiedenen Entwicklungsstadien einer frühen Schwangerschaft zeigen. Und damit falschen Vorstellungen darüber, wie Frühschwangerschaften aussehen, mit klinischen Fakten entgegenwirken.

Die MYA-Fotos zeigen nichts Schlimmes oder Verstörendes. Abgebildet ist lediglich das Gewebe des Schwangerschaftssacks (die spätere Fruchtblase) nach Abtreibungen oder Fehlgeburten innerhalb der ersten 10 Schwangerschaftswochen – und zwar gereinigt und steril in Petrischalen mit Maßangabe. 

Auf Instagram oder TikTok werden die Bilder nichtsdestotrotz sowohl von radikal-konservativen Pro-Lifern als auch von liberalen Pro-Choice Verfechter:innen kommentiert. Viele sind von ihnen irritiert und zweifeln ihre Echtheit an. So stößt man in den sozialen Netzwerken fast ausschließlich auf beharrliche Hinweise auf eine einfache Google-Suche oder Lehrbücher, die angeblich zeigen, wie der Fötus in den ersten Schwangerschaftswochen wirklich aussehe. Außerdem melden sich Frauen zu Wort, die behaupten, ihre eigene Fehlgeburt in den Händen gehalten zu haben, oder die auf Ultraschallbilder verweisen.

All diesen Meinungen gemein ist die geteilte Vorstellung darüber, wie ein Fötus in Frühschwangerschaften aussehen soll: nämlich wie ein kleines Baby. Auf die Twitter-Posts von Jessica Valenti antworten skeptische User:innen mit den Aufnahmen von Lennart Nilsson. Auch Fake-Bilder, die tatsächlich kleine Mini-Babys im frühen Stadium der Schwangerschaft zeigen sollen, werden immer wieder geteilt, um die Debatte zu verzerren. 

Abtreibungsgegner:innen nähren den Mythos, dass die befruchtete Eizelle von Anfang an ein Miniatur-Baby sei, vor allem durch Bilder, die angeblich genau das zeigen. Diese Fake-Bilder kursieren ohne Verifizierung im Netz. Das Gefährliche an ihnen: Sie verkörpern ein romantisiertes und idealisiertes Bild des Fötus als Mini-Baby. Das emotionalisiert nicht nur jegliche sachliche Debatte, sondern leugnet auch den medizinischen Blick auf frühe Schwangerschaften. Bild: Collage aus Screenshots

Der Irrtum mit den Mini-Babys

Dabei ist längst bekannt, dass Nilssons Bilder mannigfach vergrößerte Fehlgeburten in künstlich inszenierten Umgebungen abbilden und die Echtheit vieler anderer Bilder niemals überprüft wurde. Medizinische Expert:innen des MYA Network weisen zudem auf einen einfachen, aber oftmals ausgeblendeten Tatbestand hin: Ultraschallbilder zeigen in den ersten SSW nur deshalb überhaupt etwas, weil sie starke Vergrößerungen sind. Bis ein Embryo mit dem bloßen Auge wahrnehmbar ist, kann es dementsprechend Monate dauern.

Der Shitstorm in den sozialen Netzwerken zeigt letztlich also vor allem eins: die Wahrnehmungsverzerrung, die viele im Hinblick auf frühe Schwangerschaften haben. Die Vorstellung, dass die befruchtete Eizelle von Anfang an ein Mini-Baby ist, hat Konsequenzen. Sie erschwert dabei nicht nur die konstruktive und wissenschaftlich fundierte Diskussion über Abtreibung. Sie ist eines der Hauptargumente von Pro-Life-Aktivist:innen. Da können medizinisch fundierte Fotos wie die des MYA Networks helfen, zumindest diesen Mythos aufzuklären. 

Das amerikanische Netzwerk MYA verfolgt die Absicht, frühe Abtreibungen kulturell und medizinisch zu normalisieren. Mit den Gewebe-Fotos zeigen sie, wie die Entwicklungsstadien einer Frühschwangerschaft für das bloße Auge wirklich aussehen. Bild: Paula Günther (Qiio Magazin) / MYA Network

Mehr Sicherheit durch Wissenstransfer

Dass die Fotos trotzdem so viele Reaktionen auslösen, zeigt, wie mangelhaft der Wissenstransfer in den letzten Jahrzehnten war: Vielen sind solche Bilder früher Entwicklungsstadien von befruchteten Eizellen bisher nicht begegnet – weshalb es für einige schwer ist, ihre Authentizität zu akzeptieren.

Die MYA Fotos machen nämlich sichtbar, was normalerweise unsichtbar bleibt und sie zeigen uns vor allem: Medizinische Erkenntnisse für alle öffentlich anschaulich zu machen, ist essenziell für unser zukünftiges Miteinander. Abtreibungsrechte ermöglichen medizinische Grundrechte für 50% der Menschheit und sollten daher nicht auf der Basis von Unwissen einfach kippbar sein. 

Die Fotos des Netzwerkes sind dabei ein erster Schritt zur Entmystifizierung der befruchteten Eizelle – und damit wegbereitend für die Normalisierung von sicheren Frühabtreibungen.