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Foto: Jen Sladkov

Nackte Utopien: Vom entblößten Körper als Symbol der Freiheit

Der vermeintlich natürlichste Zustand unseres Körpers ist politisch, kulturell und ethisch besetzt. Die Lebensreformer sahen in der Nacktheit die Befreiung des Menschen und auch heute noch hat Nacktheit etwas Visionäres. Ein neugieriger Blick auf Nacktheit als Utopie. 

Lebensreformbewegung fordert einen neuen Blick auf den Körper

Während der Industrialisierung entfremden die großen Städte und riesigen Industrieanlagen die Menschen von ihrer bis dahin gewohnten Umgebung. In dieser Zeit kommt die Sehnsucht nach einem natürlichen Urzustand auf: Nach einem Zustand, in dem der Mensch noch mit der Natur im Einklang steht. Und ein Zustand, in dem der Mensch sich in seiner Haut wohlfühlt. Die ersten Theorien und Forderungen nach Nacktheit kamen in Deutschland im Kontext von Naturheilkunde und Lebensreformbewegung auf.

Nacktheit war in Deutschland ein Ausdruck von Natürlichkeit. Foto: Mubariz Mehdizadeh

Bekannte Lebensreformer wie Eduard Baltzer empfahlen eine vegetarische Lebensweise. Andere wie Johannes Guttzeit (1853–1935), Heinrich Pudor (1865–1943) und Richard Ungewitter (1868–1958) empfahlen ihren Anhängern das Lichttrinken: Vollkommen entblößt in der Sonne zu arbeiten und sich der Natur auszusetzen, solle ihnen bei Krankheiten helfen. Von Asthma bis Depression, wer nur genug Licht trinkt, würde wieder gesund. 

So heißt es bei Heinrich Pudor im Jahr 1906: „Ich will die Gesundung der Volkskraft, ich will dazu beitragen, dass wir ein starkes, zähes, ausdauerndes hartes lebensfähiges Volk (sic!) bekommen.“ Die Nudisten wurden mit dem jungen 20. Jahrhundert in Deutschland immer aktiver, allen voran in Berlin. Sie schlossen sich in Gruppen zusammen und sahen sich als Avantgarde. Kein Wunder, gehörten der Bewegung doch auch viele Künstler und Aktivisten an. Der Bruch mit dem Tabu der Nacktheit wurde zum kulturellen Kapital. Wer sich gesellschaftskritisch zeigen wollte, legte die Kleidung ab. 

Denn die Kleidung war ein wichtiger Faktor in der Disziplinierung der deutschen, wilhelminischen Gesellschaft: Vorschriften galten besonders für Frauen, die auch im Sommer knöchellange Röcke zu tragen hatten. Das Zeigen von Haut galt als vulgär, auch nach dem Ersten Weltkrieg lockerte sich die Kleiderordnung nur langsam. Für die Anhänger der Freikörperkultur, die uns bis heute als FKK bekannt ist, galt dabei bemerkenswerterweise der angezogene Mensch als unmoralisch, nicht der unbekleidete. Es sei eine moralische Verpflichtung des Menschen nackt zu sein, um nicht nur körperlich, sondern auch geistig zu gesunden. Dem Nacktsein kam eine fast magische Bedeutung zu. Diese Rhetorik war nicht ohne braune Färbung. So waren einige Stränge der FKK-Ideologie durchaus kompatibel mit der Körperkultur der Nazis. Doch auch wenn der nackte Körper meistens ein arischer Körper war, so schwang bereits hier schon die Sehnsucht nach einem Urzustand als Utopie mit. Und bei weitem waren nicht alle Nudisten völkische Ideologen, wie das Interesse der oben erwähnten Avantgarde an dieser neuen Lebensweise zeigt. 

In der der DDR war Nacktbaden sehr beliebt. FKK-Strand im Bezirk Cottbus im Jahr 1982 – Quelle: Bundesarchiv Foto: Weisflog

Mit dem Zweiten Weltkrieg tritt eine Zäsur ein. Während FKK im Westen weiterhin als Vereinsaktivität stattfindet, ist der Osten zunächst auch beim Baden bekleidet, bis in den 60ern schließlich eine DDR-weite Welle des Nacktbadens losgetreten wird. Endlich musste sich beim Baden keiner mehr umziehen. Der Nudismus wird auch hier wieder ideologisch aufgeladen: Wenn alle nackt sind, sind auch endlich alle gleich. Unterschiede werden beseitigt. 

Verpixelte Nippel und politische Illustrationen

Als amerikanisches Unternehmen ist Facebook, und damit auch Instagram, amerikanischer Prüderie unterworfen. Nacktheit wird unterdrückt und wer und was zensiert wird, zeigt klar, wie Geschlechterverhältnisse benutzt werden. Während männliche Nippel niemanden scheren, sind weibliche Nippel sofort wieder offline. Doch das Internet ist voll von nackter Haut; auch außerhalb von Pornographie. Die Darstellung von Body positivity in digitalen Medien funktioniert nur mit entblößten Körperteilen. Ein neues Körperbild entsteht erst durch die Abbildung von Körpern. So wird die Gesundung des Geistes wieder eine Frage der Nacktheit, wie schon bei der Lebensreformbewegung. Doch anstatt des arischen Körpers, der zumeist auch ein männlicher, aber immer ein weißer war, sind es jetzt diskriminierte Minderheiten, die ihre Körper ausstellen: Der Körper zur Antwort auf die Frage: Was ist Schönheit? Und was ist Ideal?

Unser persönliches Verhältnis zu unserem Körper entpuppt sich als Spiegelbild der uns anerzogenen Körperbilder. So positioniert sich Aktivistin Ruby Rare in ihrem Instagram-Profil mit dem Satz, sie sei 95% der Zeit nackt. In einem Diskurs, in dem streng reglementiert wird, wer nackt sein darf, eine starke Aussage. So sind es vielleicht nicht mehr die arischen Körper, die sich zeigen sollen, aber dennoch die weißen, die dünnen und die normierten. 

Die Illustratorin Christine Emily Yahya geht einen ähnlichen Weg: Sie zeichnet die Körperteile, die wir verstecken sollen, wie sie selbst sagt. Auf ihrem Account @pink_bits zeigt sie queer-feministische Zeichnungen von Frauen und ihren Körpern. Sie speist darüber Bilder in den Feed ihrer Follower, die als Fotografie wahrscheinlich keinen Platz fänden. Sie zeigt stillende Mütter und mit Periodenblut beschmierte Unterwäsche. Als Illustrationen entgehen sie der digitalen Zensur. 

Mehr Haut zeigen, wenn der Planet sich erhitzt 

Irgendwann fahren alle nackt in die Arbeit? Beim World Naked Bike Ride in London wurde diese Utopie bereits ausgetestet. Foto: Chmee2 CC BY-SA 3.0

Dass der Planet sich aufheizt, gilt als unumstößlich. Die Klimakrise stellt uns vor neue Herausforderungen und hinterlässt dabei die Frage: Wie gehen wir künftig mit Kleidung und Nacktheit um? Einen interessanten Ansatz finden wir in der Soziologie der Mode, wie sie Mi Young Son von der Korea National Open University in Seoul vorschlägt. 

Son geht davon aus, dass Mode immer auch ein System ist, das sich gesellschaftlichen Gegebenheiten und Umwelteinflüssen anpassen muss. Damit wird Mode zugleich zum Ausdruck einer Veränderung und zum Motor von Veränderungen. Mode muss nachhaltiger werden, weil die Produktionsweise sonst der Umwelt schadet. Und Mode muss sich neuen Gegebenheiten anpassen. Spinnen wir diese Idee weiter, gehen wir davon aus, dass es wärmer wird – warum nicht auch nackter? In Berlin ist das Nacktbaden an vielen Orten erlaubt. In Parks gibt es gekennzeichnete Nacktbereiche. Wenn der Sommer so heiß ist, dass man am liebsten nichts am Leib tragen würde, warum dann nicht gleich nackt in den Alltag?

Denken wir zurück an die Industrialisierung. Sie ist zugleich der Beginn der globalen Erwärmung und der Ursprung der politischen Nacktheit, von Nacktheit als Utopie. Die Lebensreformbewegung sah darin die Antwort auf die Entfremdung von der Natur. Vielleicht kann das Dilemma eines Planeten in der Krise, wenn schon nicht abgewendet, zumindest doch kulturell fruchtbar gemacht werden. Begrüßen wir den Klimawandel mit nackter Brust, egal welches Geschlecht wir bekleiden. So wird aus der Antwort auf die Entfremdung eine Antwort auf die Veränderung der Natur. Und was wir nicht tragen, müssen wir nicht wegwerfen. Das Versprechen von der Nacktheit als Utopie könnte so eingelöst werden.

In Zukunft Nacktsein um mehr Naturbewußtsein zu erlangen? Foto: Ihar Paulau