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Bild: Steffen Geldner

„Neurodivergent zu sein ist irgendwie geil”– Interview mit Kim Hoss

Kim Hoss ist keine „klassische“ Influencerin, die auf Bali einen Yoga-Retreat macht oder für Skincare Produkte wirbt. Aus ihrer Einsamkeit heraus hat Kim die sozialen Medien als Sprachrohr für sich entdeckt. Im Qiio-Gespräch erzählt Kim, warum sie jede Instagram-Nachricht beantwortet, was Frauen ab 30 unbedingt brauchen und wie sie mit ihrer ADHS-Diagnose umgeht.

Wie bist du dazu gekommen, Instagram als dein Sprachrohr zu nutzen und dort eine Community aufzubauen?

Die kürzeste Antwort auf diese Frage ist, dass ich mich oft in meinem Leben sehr einsam und nicht dazugehörig gefühlt habe. Ich habe immer versucht, meine Nische zu finden und habe das in der realen Welt nicht so richtig hingekriegt. Ich hatte zwar immer gute Freundinnen, aber ich konnte mit denen nicht so richtig über meine Probleme sprechen. 2016 habe ich angefangen, Snapchat zu benutzen und habe dort schnell eine kleine Community aufgebaut und dabei gemerkt: Wenn ich da irgendwas erzähle, dann akzeptieren die mich so, wie ich bin und finden es auch noch lustig, was ich da erzähle. Dadurch war ich mit anderen im Austausch und kam mir nicht mehr so alleine vor. So hat sich das langsam entwickelt und irgendwann habe ich gedacht, ich würde gerne damit Geld verdienen, wenn ich da schon so viel Zeit reinstecke. Mittlerweile kann ich davon ganz gut leben. Und es ist echt schön, einen Beruf zu haben, den man eigentlich gar nicht so richtig merkt.

Gab es einen Moment, in dem du bemerkt hast: Mit dem, was ich hier mache, erreiche ich richtig viele Menschen?

Ich habe immer wieder solche Momente. Vor allem, wenn ich Rückmeldungen bekomme wie: „Hey, ich habe jede Folge deines Podcasts gehört.“ Oder: „Ich folge dir jeden Tag auf Instagram, seit sechs Jahren.“ In solchen Momenten kann ich das auch mit echten, realen Personen verknüpfen, während ich vorher immer nur diese kleinen Profilbildchen vor Augen hatte und nie so richtig reale Personen dahinter vermutet habe. Ich kann gar nicht beschreiben, wie schön sich das anfühlt.

Das heißt, deine Community bedeutet dir viel?

Voll! Auch, wenn ich sie nicht kenne. Ich fühle mich gesehen und verstanden, das ist echt ein schönes Gefühl. Ich lese jede Nachricht, die ich bekomme. Und ich beantworte auch eigentlich fast jede (lacht). Mir ist wichtig, dass auch die anderen sich gesehen fühlen.

In deinem Podcast Herz und Sack sprichst du viel über Selbstliebe ab 30. Braucht man ab 30 mehr Selbstliebe als vorher?

(lacht) Das würde ich jetzt nicht so sagen, das ist eine steile These. Aber ich glaube, was man ab 30 unbedingt braucht, vor allem als Frau, ist einen festen Stand im Leben, denn sonst wird man in dieser Gesellschaft voller Erwartungen leicht umgehauen. Warum hast du noch keinen Mann, warum hast du noch keine Kinder? Warum hast du kein Haus und keinen „richtigen” Beruf? Diese Erwartungen haben mich erst mal überrollt, als ich 30 wurde. Ich hatte mich gerade getrennt und stand als Single, mit zwei Hunden und einem schlechten Gewissen alleine auf der Straße. Und da habe ich gemerkt, dass ich mir selbst ein Auffangnetz bauen muss, wo ich reinfallen kann. Die Gesellschaft sagt dir die ganze Zeit, du brauchst dies und jenes, um glücklich zu sein. Und das stimmt einfach nicht. Mit 30 habe ich erst geschnallt, dass ich auch ohne all das, was die Gesellschaft von mir erwartet, ein richtig geiler Mensch bin.

“Mit 30 habe ich erst geschnallt, dass ich auch ohne all das, was die Gesellschaft von mir erwartet, ein richtig geiler Mensch bin”, sagt Influencerin Kim Hoss. Bild: Steffen Geldner.

Was macht das mit dir, wenn du 30 bist und die Leute plötzlich anfangen zu fragen: Wo sind die Kinder? Wo ist der feste Arbeitsvertrag?

Es hat meine Kreativität getriggert. Ich habe Songs darüber geschrieben. Mein letzter Song Cowboy handelt genau davon: Die Oma beklagt sich, „Kim, deine Uhr tickt, wo sind denn jetzt die Enkel, du brauchst doch mal einen Mann.” Ich verpacke das dann in eine witzige künstlerische Botschaft, in Musik, in einem Podcast oder bei Instagram, und versuche, nicht an den Erwartungen der Gesellschaft zu ersticken.

Du hättest also lieber einen Cowboy als einen festen Arbeitsvertrag?

(lacht) Ich hätte schon gerne einen Cowboy, ja. Der Cowboy steht für mich für jemanden, der auf Geld und auf die gesellschaftlichen Erwartungen scheißt und einfach sein Leben so genießt, wie er es für sich bestimmt. Ich brauche jetzt niemanden, der zehn Kühe zu Hause hat. Der Cowboy ist eher ein Wunschbild von jemandem, der auch auf diese gesellschaftlichen Normen scheißt.

Wie gefällt deiner Oma der Song?

Sie liebt den. Ich habe noch nicht mit ihr dazu getanzt, aber das wird noch passieren. Das werde ich dann auch mit der Community teilen.

Uns haben viele Fragen unserer Community erreicht. Viele waren besonders neugierig, mehr über das Thema ADHS zu erfahren. Wann hast du herausgefunden, dass du ADHS hast?

Ich habe das schon seit 2020 vermutet, weil ich jemanden kennengelernt habe, der damit ganz offen umgegangen ist und ich viele Ähnlichkeiten zwischen uns bemerkt habe. Dann habe ich angefangen, mich zu informieren, zu belesen und mich mit anderen auszutauschen. Instagram und TikTok sind dafür tolle Communities. Und mit jedem Video, das ich dazu gesehen habe, wurde es eindeutiger. Also habe ich mich testen lassen. Den Befund habe ich im Oktober 2021 bekommen. Seitdem hat sich mein Leben sehr zum Guten verändert. Mein Leben war immer sehr chaotisch und ich wusste nie genau warum. Und jetzt habe ich einen Begriff dafür, auch wenn ADHS nicht eine ganz so schöne Bezeichnung ist. Aber ich weiß jetzt, dass ich im neurodivergenten Spektrum bin. Das ist irgendwie auch geil, da anzukommen und einfach zu wissen, wer ich bin. Es erleichtert vieles. Diese ganzen Gedanken, die man täglich hat: Wer bin ich eigentlich? Warum bin ich so dumm? Warum vergesse ich alles? Warum bin ich so faul? Warum kann ich das jetzt nicht einfach machen? Dafür eine Bezeichnung zu haben, ist voll geil für mich.

Gibt es Seiten dieser Diagnose, die du vorteilhaft findest und andere, die dir eher zu schaffen machen?

Es gibt natürlich viele Struggles, vor allem, wenn man es nicht weiß. Und vor allem, wenn man es als Frau nicht weiß. Da fühlt man sich ein bisschen alleingelassen in unserer Gesellschaft. Es hat auch dunkle Seiten, aber ich kann jetzt nicht sagen, dass es konkrete Nachteile hat, dass ich neurodivergent bin (Anm. d. Red.: Der Fachbegriff Neurodiversität versteht neurobiologische Unterschiede als natürliche Formen menschlicher Diversität, welche derselben gesellschaftlichen Dynamik unterliegen wie andere Formen der Diversität). Ich sehe eigentlich eher nur, dass es Vorteile mit sich bringt. Ich bin einfach krass kreativ. Wahrscheinlich wäre ich das auch ohne ADHS, aber dadurch, dass mein Gehirn ganz viele Sachen auf einmal verarbeiten kann, kann ich das auch in meinem Job sehr gut einbringen. Ich habe gelernt, damit gut umzugehen und diese Einbrüche, nachdem ich viel gemacht habe und hyperaktiv war, zu managen. Früher dachte ich dann immer, ich kriege einfach gar nichts hin. Und mittlerweile habe ich verstanden: Das Leben ist wie ein Zyklus und ich kann nicht nonstop durchballern. Ich gebe meinem Körper die Ruhephasen, die er braucht, nachdem er so viel und so schnell gearbeitet hat. Die Nachteile, die man von ADHS kennt, nutze ich für mich.

“Ich bin einfach krass kreativ. Wahrscheinlich wäre ich das auch ohne ADHS, aber dadurch, dass mein Gehirn ganz viele Sachen auf einmal verarbeiten kann, kann ich das auch in meinem Job sehr gut einbringen.” Bild: Steffen Geldner.

Das muss man aber auch erst mal können.

Das muss man verstehen und dann auch lernen. Das ist nicht so easy, wie es klingt. Es hilft, mit anderen zu reden und sich auszutauschen. Wie schafft es jemand, der vielleicht einen ganz anderen Beruf hat? Kann man sich da was abgucken oder Tipps und Tricks austauschen? Es gibt viele Menschen, die gar nicht wissen, was ADHS bedeutet, obwohl sie es selbst haben – dann kommt es oft zu Komplikationen. Man muss sich viel mit sich selbst beschäftigen, weil ADHS im Einzelfall für jeden etwas anderes bedeutet. Jede Person mit ADHS tickt anders, man kann es gar nicht verallgemeinern, außer eben, dass das Gehirn etwas anders tickt. Es ist also viel Eigenarbeit gefragt, jede:r muss selbst herausfinden, was guttut und was nicht. Wer bin ich, was will ich, was brauche ich – das ist super wichtig, auch für Menschen, die nicht von ADHS betroffen sind. Das habe ich selbst erst mit 30 gecheckt.

Was hast du in diesen Momenten über dich herausgefunden?

Ich habe verstanden, dass ich am besten funktioniere, wenn ich mich wohlfühle. Und am wohlsten fühle ich mich mit Leuten, bei denen ich so sein kann, wie ich bin. Das versuche ich seit einigen Jahren umzusetzen. Intuitiv zu leben, auf meinen Körper zu achten. Weniger auf das zu hören, was andere sagen oder von mir erwarten, sondern einfach mein Ding zu machen. Sich mit sich selbst zu beschäftigen, macht einen tatsächlich, egal, was man für eine Diagnose hat, viel offener für die Welt, für andere Leute und für die Natur. Das war mein größtes Learning in den letzten Jahren.

Gibt es etwas, was du am Gesundheitssystem in Deutschland ändern würdest, wenn du könntest?

Ich glaube, es müsste einfach mehr Angebote geben, und zwar Angebote, die einfacher zu erreichen sind, vor allem für Menschen mit mentaler Krankheit. Denn da werden einem viele Steine in den Weg gelegt.

Was sollten andere Menschen über ADHS wissen?

Ich würde mir wünschen, dass mehr Menschen wissen, dass es auch eine dunkle Seite gibt. Denn darüber spricht kaum jemand. Die meisten verbinden mit ADHS nur, dass jemand hibbelig, laut oder unruhig ist und vielleicht kreativ und lustig. Aber diese dunkle Seite, dass man eigentlich nonstop jeden Tag an sich zweifelt, dass man manchmal eine Woche lang nichts machen kann, weil man so ausgepowert und energielos ist – dafür würde ich gerne noch mehr Bewusstsein schaffen. Ich habe mein Leben lang schon eine chronische Depression und wusste das lange nicht. Weil niemand darüber gesprochen hat, dass es auch Menschen gibt, die immer lustig sind, aber trotzdem ihr Leben lang eine heftige Depression mit sich rumschleppen können.

Die Diagnosen Depression und ADHS gehen ja auch oft miteinander einher, oder? Vielleicht gerade weil ein Gehirn, das, wie du sagst, „anders tickt”, sich auch mal schnell einsam fühlen kann, wie es bei dir der Fall war.

Absolut. Deshalb ist es auch wichtig, dass sich Menschen, die kein ADHS haben, darüber informieren. Es ist eben keine Diagnose, die man einfach so mit Pillen wegbehandelt. Es ist etwas, das man sein Leben lang hat und es hört nicht einfach auf oder wird irgendwann besser – es ist einfach das Leben. Deshalb finde ich es wichtig, dass auch andere das verstehen.