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Lena Smirnova und Thomas Hartung mit einem Gehirnorganoid auf dem Bildschirm. Bild: Johns Hopkins University

Organoid Intelligence: Wenn die Gehirnzelle Teil der KI wird

Ein neues Forschungsfeld mischt die Wissenschaft auf: Organoide Intelligenz (OI). Wissenschaftler:innen der Johns Hopkins University Baltimore basteln an der Idee eines Biocomputers, der von menschlichen Gehirnzellen angetrieben wird. 

Der Forscher und Professor Thomas Hartung träumt nachts von einer KI, die mit menschlichen Gehirnzellen kommuniziert. In Hartungs Träumen ergänzen und belehren sich Mensch und Maschine gegenseitig, statt sich zu übertrumpfen. Hartung ist überzeugt: In Wahrheit sind Mensch und Maschine keine Konkurrenten, denn in vielen Dingen ist das menschliche Gehirn einem Computer weit voraus.

Der leistungsstärkste Computer der Welt, die Frontier Maschine im Oak Ridge National Laboratory in den USA, hat so viel Leistungsstärke wie ein einziges menschliches Gehirn.

„Unser Gehirn hat ungefähr 2,5 Petabyte an Speicherkapazität“, sagt Hartung im Qiio-Interview. 2,5 Petabyte – das sind 2560 Terabyte. Würde man so viele Daten auf Festplatten speichern, könnte man einen ganzen Schiffscontainer mit Festplatten füllen. 

Worauf Hartung hinaus will: Der Computer konsumiert Millionen Mal mehr Energie als das menschliche Gehirn. Was wäre also, wenn künstliche Intelligenzen – statt das menschliche Gehirn nachzuahmen – sich gleich an der Quelle bedienen würden? Das ist die Vision eines Teams von Forscher:innen, angeleitet von Prof. Thomas Hartung, das an der Johns Hopkins University in Baltimore zu Gehirnorganoiden forscht. 

Organoid Intelligence – der Computer der Zukunft?

Ihr Konzept nennt sich Organoid Intelligence – kurz OI. Erst diesen Februar machten sie es in der Zeitschrift Frontiers in Science publik. In der OI-Vision wird der Computer der Zukunft von Millionen von menschlichen Gehirnzellen angetrieben. Die menschlichen Gehirnzellen wären sozusagen die Hardware des Computers, wodurch der Computer schneller, nachhaltiger und sparsamer wäre.

Organoide sind winzige Gewebestücke aus Stammzellen, die die Struktur und Funktionen beliebiger menschlicher Organe nachahmen können. Sie werden im Labor als Zellgruppen gezüchtet und sind sozusagen Miniatur-Modelle von Organen, die in der Wissenschaft, Medikamentenentwicklung und Medizin zum Einsatz kommen.

„Wir können mittlerweile fast jedes Organ bauen“, sagt Hartung. Denn bereits seit 2006, gebe es eine Technologie, mit der beliebige Zellen in Stammzellen „umprogrammiert“ werden können. „Das können Hautzellen oder Blutzellen sein, sogar aus Urin kann man das machen. Man braucht nur noch ein paar Zellen.“ Für diese Revolution in der Biomedizin wurden der Japaner Shinya Yamanaka und der Brite John Gurdon 2012 mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet.

Damit stand Hartungs Organoiden-Forschung nichts mehr im Weg. Er stellte ein Team aus Wissenschaftler:innen zusammen und begann, die Organoide massenweise zu produzieren. „Wir haben gleich gesehen, dass diese Organoide spontan elektrophysiologisch aktiv sind. Das heißt, die Zellen reden miteinander. Als ich das bei einer großen Wissenschaftskonferenz vorgestellt habe, war das eine Sensation. Wir haben es damit auf die Titelseite der Financial Times geschafft. Es passiert nicht oft, dass die Wissenschaft auf die Frontseite kommt, und dann auch noch in der Samstagsausgabe“, sagt Hartung. 

Schnell wurde klar: Die Mini-Gehirne wären theoretisch dazu in der Lage, zu lernen und sogar ein Langzeitgedächtnis zu entwickeln – und das mit relativ geringem energetischen Aufwand. Und nicht nur in Sachen Nachhaltigkeit sind Gehirnzellen dem Computer um Längen voraus. „Das Gehirn ist auch deutlich besser darin, mit unvollständigen Informationen umzugehen, also das, was wir als Intuition bezeichnen. Dass wir einfach manchmal wissen, was zu tun ist und damit oft richtig liegen. Während der Computer noch rechnet, können wir schon was tun“, so Hartung. 

Wegen der versteckten Superkräfte in unseren Zellen versprechen sich die Wissenschaftler:innen von der OI-Forschung immenses Potenzial. Konkret sieht Hartung drei übergeordnete Forschungslinien: „Die erste ist Neurowissenschaft: Das Gehirn verstehen. Die zweite ist Pharmakologie und Toxikologie: Krankheiten heilen und Gründe für Erkrankungen des Gehirns finden. Und die dritte ist Computation: Durch das Verständnis, wie das Gehirn arbeitet, die Architektur unserer Rechner verbessern, also den Computer mehr wie ein Gehirn aufzubauen“, sagt Hartung. Langfristig könnte sich durch die OI-Forschung sogar ein völlig neuer Zugang zur Wissenschaft entwickeln, wenn die Gehirnorganoide in der Lage sind, mit künstlichen Intelligenzen zu kommunizieren. 

Es war eine Sensation, als Hartung und sein Team nachweisen konnten, dass die Gehirnorganoide elektrophysiologisch aktiv sind. “Wir haben es damit auf die Titelseite der Financial Times geschafft. Es passiert nicht oft, dass die Wissenschaft auf die Frontseite kommt, und dann auch noch in der Samstagsausgabe“, sagt Hartung. Bild: Thomas Hartung, Johns Hopkins University

Eine ungewisse Zukunft 

Doch dieses Szenario wird wohl vorerst in Hartungs Träumen bleiben. Denn um mit den Gehirnorganoiden kommunizieren zu können, müssen diese zunächst einmal vergrößert werden, sodass genügend Elektroden als Input und Output angebracht werden können. „Im Augenblick sind unsere Gehirnorganoide etwa einen halben Millimeter groß, also so groß wie eine Schneeflocke. Man kann sie sehen, man kann sie auch handhaben, aber eigentlich sind sie zu klein, als dass es sich lohnen würde, sie zu trainieren“, erklärt Hartung. 

Bis der OI-angetriebene Laptop also bei Amazon verfügbar ist, wird es noch lange dauern. „Da reden wir von Jahrzehnten“, sagt Hartung. Vielmehr ginge es jetzt erstmal um einfache Formen des Lernens und Erinnerns und um sinnvolle Verarbeitung von Informationen. Demnach werde OI zunächst Anwendung in der Biologie, der Medikamentenentwicklung oder Pharmazie haben. „Aber die Vision eines miniaturisierten Systems, das einfache Formen des Lernens realisiert, ist zumindest sehr nah. Da streitet man sich schon darum, ob das Intelligenz ist.“

Denn was wäre, wenn ein OI-Computer plötzlich nicht nur lernt, mit seinem Umfeld interagiert und ein Langzeitgedächtnis hat, sondern auch ein Bewusstsein entwickelt? Und wo fängt Bewusstsein überhaupt an? Hartung sagt, das sei vor allem eine terminologische Frage, da es viele Stufen des Bewusstseins gebe. „Wir müssen uns fragen: Was ist denn eigentlich der Beweis dafür, dass da tatsächlich ein intelligentes System entsteht? Natürlich kann ich die Zellen dazu bringen, ein Reiz-Antwort-System aufzubauen – das ist aber nicht intelligent. Das liest nicht irgendwann die Zeitung“, sagt Hartung. 

Langfristig könnte sich durch die OI-Forschung ein völlig neuer Zugang zur Wissenschaft entwickeln, vermuten die Forscher:innen. Bild: Johns Hopkins University

Zudem hänge es auch davon ab, womit man das System füttere. „Denn wenn ich so ein System nur Pong spielen lasse, sehe ich nicht, wie es leiden, Emotionen entwickeln, oder sich darüber ärgern kann, dass es schon wieder verloren hat. Das ist schwer vorstellbar“, so Hartung.

Neben den ethischen Fragen rund um Bewusstsein und Intelligenz wirft die OI-Forschung aber auch Fragen rund um die Nutzung menschlicher Zellen auf. Welche Rechte hätten einzelne Personen zum Beispiel an Organoiden, die aus ihren Zellen entwickelt wurden? Und welche Verpflichtungen ergeben sich für die Forscher:innen durch die Forschung an den menschlichen Zellen? Müssten sie etwa die Spender:innen warnen, wenn sie in ihren Zellen ein seltenes Virus oder Alzheimer fänden? Viele dieser Fragen sind noch ungeklärt und werden wohl erst im Laufe der Forschung beantwortet werden. Trotzdem betont Hartung, dass die Forscher:innen diese Fragen nicht erst stellen wollen, wenn sie ein Produkt haben – zu groß ist die Verantwortung. 

Das Team rund um Prof. Thomas Hartung hat sich deshalb in der Baltimore Declaration ausdrücklich für einen ethischen und sozial verantwortlichen Umgang mit OI ausgesprochen. Die wissenschaftliche Community rufen sie zu mehr Forschung rund um OI und Biocomputing auf, um das volle Potenzial der Technologie ausschöpfen zu können. Bis der Biocomputer einsatzfähig wird, wird es aber noch Jahrzehnte dauern. 

Thomas Hartung ist Forscher und Professor an der Johns Hopkins Universität Baltimore und an der Universität Konstanz. Zu seinen Forschungsgebieten gehören neben der Organoiden-Forschung unter anderem Künstliche Intelligenz, Toxikologie, Pharmakologie, Alternativen zu Tierversuchen und Zellbiologie.

Möchtet ihr tiefer in die Diskussion um OI einsteigen? Am 21.06.23 veranstalten die Studienautor:innen Prof. Thomas Hartung und Dr. Lena Smirnova ein Webinar zu Organoid Intelligence. Zur Anmeldung geht’s hier.