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Foto: Guillaume Jaillet

Plazenta zum Frühstück? Ein Blick auf einen umstrittenen Healthtrend

Die eigene Plazenta nach Entbindung zu essen, soll gegen postpartale Depressionen helfen. Mittlerweile gibt es sogar spezialisierte Plazenta-Köch*innen. Doch noch gibt es keine medizinische Forschung, die das bestätigt.

50 bis 80% aller frisch gebackenen Mütter leiden in den ersten Wochen nach der Entbindung an dem sogenannten Baby Blues, der als eine „kurz dauernde depressive Verstimmung“ definiert wird. Meistens klingt der Babyblues nach einigen Tagen wieder von alleine ab. Tut er das nicht, spricht man von einer postpartalen Depression (PPD), die eine schwerere, andauernde und behandlungsbedürftige Erkrankung ist. 10 bis 15% aller Mütter sind nach Angaben der Deutschen Depressionshilfe betroffen. Zu den Symptomen gehören unter anderem emotionale Labilität, Gefühllosigkeit dem Neugeborenen gegenüber, Versagensängste und Stillprobleme. 

Mutter sein – der Traum jeder Frau. Kinder haben, das größte Geschenk. Oder? 

Frauengesundheit wird in unserer Gesellschaft immer noch stark tabuisiert. Mit der 2015 erschienen Studie „Regretting Motherhood“ sorgte die israelische Soziologin Orna Donath vor allem in Deutschland für Furore und rückte einen bis dato in der Gesellschaft bagatellisierten Aspekt ins Rampenlicht. Mutter sein, das ist eben nicht nur schön. Frauen seien „(…) unter sozialem Druck, die ‘richtige’ Entscheidung zu treffen und Mütter zu werden“, schreibt Donath in dem gleichnamigen Buch.

Wie wird man eine Plazenta-Köchin?

Die in Los Angeles lebende Valerie Rosas beschreibt ihre eigene Schwangerschaft als nicht einfach. „Ich mochte es nicht, schwanger zu sein und ich sprach darüber offen. Meinem Umfeld hat das nicht gefallen, sie sagten Dinge wie: ‚Sag das nicht laut, das Baby kann dich hören!’ Und ich dachte mir, are you kidding me? Es ist mir egal, ob das Baby mich hören kann. Das Baby ist der Grund, wieso ich mich schlecht fühle!“ 

Valerie Rosas hat bis dato mehr als 2022 Plazentas zubereitet. Foto: Valerie Rosas

Das Stillen war für Valerie Anfangs extrem schmerzhaft, ganz zu schweigen von der physischen Genesung nach der Entbindung. „Ich habe viel geweint“, gibt sie zu. Bereits während der Schwangerschaft empfahl ihr Therapeut ihr, Antidepressiva einzunehmen, doch sie wollte es ohne Arzneimittel versuchen. Dann erzählte ihre Hebamme ihr von Plazentophagie, also der Praxis, nach der Entbindung die eigene Plazenta zu konsumieren. Es helfe gegen die PPD. Valerie und ihr Ehemann Henry waren sofort begeistert. Es dauerte eine Woche bis Henry, der von Beruf Koch ist, nach der Geburt Valeries Plazenta zubereitete, pulverisierte und in Kapseln gefüllt hatte. „Das war die schlimmste Woche meines Lebens. Ich habe mich traurig und wertlos gefühlt, habe ständig geweint. Als ich begann, die Plazenta-Kapseln einzunehmen, ging es mir besser und ich hatte mehr Energie“, erinnert sich Valerie.

Promis schwören auf Plazentophalogie

Promis wie Hilary Duff oder die Kardashians haben die Plazentophagie salonfähig gemacht. „Der beste Smoothie, den ich jemals hatte“, beteuerte Hilary Duff 2018. Kourtney Kardashian bezeichnete die Erfahrung als life changing, ihre Schwester Kim schrieb 2015, dass sie jedes Mal, wenn sie eine Kapsel einnahm, einen Energie-Schub fühlte und es jeder Frau empfehlen würde. Die Liste der Pro-Plazentophagie-Celebs ist lang, doch die Praxis ist unter Wissenschaftlern und Ärzten äußerst umstritten, da es kaum Studien gibt, die beim Thema Plazentophagie zu aussagekräftigen Ergebnissen gekommen sind.

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Eine Umfrage der University of Nevada ergab, dass 76% der Teilnehmerinnen positive Erfahrungen mit Plazentophagie machten. Sie gaben an, bessere Laune, mehr Energie und eine verbesserte Milchproduktion zu haben. Dafür gibt es jedoch noch keine aussagekräftigen wissenschaftlichen Beweise.

Auch in der Geschichte gibt es laut einer Studie der Anthropologen der University of Nevada keine Hinweise auf menschliche Plazentophagie, tatsächlich gibt es aber zahlreiche Hinweise auf andere Formen der medizinischen Nutzung der menschlichen Plazenta in verschiedenen Kulturen. Obwohl viele Säugetiere ihre Plazenta nach der Entbindung essen, sind Wissenschaftler sich immer noch nicht einig, warum genau sie das tun und wieso Menschen – abgesehen von den Kardashians – zu den wenigen Säugetieren gehören, die keinen natürlichen Drang dazu verspüren. Der US-Anthropologe Daniel Benyshek argumentiert, dass es dafür adaptiv-evolutionäre Gründe geben könnte. Wir müssen irgendwann aufgehört haben, die Plazenta zu essen, weil das nicht mehr vorteilhaft oder vielleicht sogar gefährlich war. Schenkt man seiner Feuer-Hypothese Glauben, könnten Menschen eine evolutionär bedingte Abneigung gegen Plazentophagie entwickelt haben, als sie lernten, das Feuer zu beherrschen, da die Plazenta durch Asche und Rauch mit schädlichen Toxinen und Schwermetallen angereichert wurde, die der Mutter schaden konnten. 

Eine Umfrage der University of Nevada ergab, dass 76% der Teilnehmerinnen positive Erfahrungen mit Plazentophagie machten. Foto: Valerie Rosas

Wundermittel gegen postpartale Depression?

Befürworter der Plazentophagie hingegen beteuern, dass die Praxis nicht nur die oben genannten Vorteile mit sich bringt, sondern gleichzeitig ein Wundermittel gegen die weitverbreitete postpartale Depression ist. Auch Valerie ist davon fest überzeugt. Nach der Einnahme ihrer eigenen Plazenta 2010 entdeckte sie ihre Leidenschaft für die Prozedur. Seit 2013 ist sie von Beruf Vollzeit Plazenta-Köchin. Gemeinsam mit ihrem Partner Henry führt sie The Feel Good Company. Diese Woche wurde sie regelrecht mit Plazentas bombardiert, erzählt sie am Telefon. Zehn Plazentas in nur fünf Tagen. Zu dem Zeitpunkt unseres Interviews hat sie 2022 Plazentas zubereitet; gekocht oder ungekocht als Kapsel oder roh mit Früchten als Smoothie. 

2013 gründete Valerie mit ihrem Partner Henry The Feel Good Company. Foto: Valerie Rosas

Es gibt verschiedene Arten der Zubereitung, aber grundsätzlich holt Valerie die Plazenta direkt nach der Entbindung ab, oder sie wird ihr gefroren zugeschickt. Dann macht sie entweder gleich einen Smoothie daraus oder gart, trocknet und pulverisiert die Plazenta. Auf Wunsch kann die Plazenta auch roh getrocknet und zu Kapseln verarbeitet werden, um weniger Nährstoffe zu verlieren. Das ganze Verfahren kostet dann zwischen 325 und 375 Dollar. „Ich hatte noch nie eine Kundin, die ihren Smoothie nicht mochte. Alle lieben es. Mütter, die ihn einmal bestellen, bestellen ihn bei der nächsten Schwangerschaft wieder“, sagt Valerie.

Ob ihr die skeptische Haltung der Wissenschaft gegenüber Plazentophagie keine Sorgen mache, möchte ich von Valerie wissen. Keine ihrer Kundinnen sei jemals krank geworden, entgegnet sie. „Die Leute wollen es und ich habe keinen Kundenmangel“, fügt sie hinzu. Valerie schätzt, dass sie mit ungefähr drei Viertel ihrer Kundinnen in Kontakt bleibt. Von denen berichtet angeblich die Mehrheit von gesundheitlichen Vorteilen. Der am meisten erwähnte Vorteil ist Energiezunahme. „Ich hatte Mütter, die angaben, es sei wie ein Espresso-Shot. Bei manchen mussten wir sogar die Dosis verringern, da sie nachts nicht einschlafen konnten.“

Die wichtigsten Nährstoffe in der Plazenta, die der Mutter Energie geben sollen, sind Vitamin B, Eisen und das „Love Hormon“ Oxytocin, erklärt Valerie. Eine Übersichtsarbeit der bayrischen Gesellschaft für Geburtshilfe und Frauenheilkunde aus dem Jahr 2018, die den akademischen Stand zum Thema Plazentophagie zusammenfasst, kam tatsächlich zu dem Ergebnis, dass die Plazenta Eisen, Selen, Oxytocin sowie die Vitamine B1, B2, B5, B6, B7, B9, B12 enthält. Auch das getrocknete Plazentapulver enthält Spurenelemente von Eisen und Selen, das führe jedoch zu „keiner signifikanten Änderung des maternalen Eisengehalts im Blut“. Außerdem wurden „sehr geringe“ Konzentrationen an potenziell toxischen Spurenelementen wie Arsen, Quecksilber und Blei nachgewiesen. Auch die Hormone Oxytocin, Östrogen und Progesteron wurden sowohl in roher Plazenta, als auch in pulverisierter Form nachgewiesen, jedoch wird die Hormonkonzentration durch das Erhitzen stark reduziert. 

„Ich hatte noch nie eine Kundin, die ihren Smoothie nicht mochte.“ Foto: Valerie Rosas

Was sind die Risiken von Plazentophagie?

Laut derselben wissenschaftlichen Arbeit ist das größte Risiko der Plazentophagie die Tatsache, dass die Plazenta nicht steril ist und bakterielle oder virale Infektionen daher nicht ausgeschlossen werden können. Das Risiko einer solchen Infektion wird jedoch als niedrig eingeschätzt. Das Wichtigste: „Eindeutige Effekte auf mütterliche Bindung, Fatigue und die Gemütslage post partum konnten in einer randomisierten, placebokontrollierten, doppelblinden klinischen Pilotstudie nach der Einnahme von verarbeitetem und erhitztem Plazentagewebe nicht nachgewiesen werden.“ Dennoch kommt die Arbeit zu dem Schluss, dass „Plazentagewebe eine Quelle natürlicher Hormone, Spurenelemente und essenzieller Aminosäuren ist – die Einnahme roher oder dehydrierter Plazenta könnte die postpartale Genesung, Laktation, Gemütslage und Rückbildung beeinflussen.“

„Ich denke, wir befinden uns in einer Zeit, in der die Menschen sich von der Schulmedizin weiter wegbewegen wollen. Die Leute sind heutzutage einfach offener“, findet Valerie. Der Trend hin zu „natürlichen“ Heilmitteln ist kein neuer, doch angesichts der widersprüchlichen wissenschaftlichen Lage und den Herausforderungen, die eine Plazenthophagie-Untersuchung mit sich bringt, da jede Plazenta anders ist, ist es schwierig, bei dem Thema zu einheitlichen Ergebnissen zu kommen. Um eindeutig sagen zu können, ob Mütter wirklich von Plazentophagie profitieren können, müssen weitere Studien durchgeführt werden. Bis dahin wird das Thema wohl eher ein Promi-Trend bleiben.