Eine bettlägerige Großmutter, deren Leben der Hausarbeit gewidmet war, eine gesellige Mutter und elf Tanten: Die Künstlerin “Niceaunties” erlebte eine Kindheit, die von den vielen Frauen in ihrer Familie geprägt wurde. Frauen, die für sie ein Spektrum unterdrückter Talente, Leidenschaften und Träume verkörpern. Dank KI werden ihre Tanten in ihrem ganz eigenen Universum inszeniert: Willkommen im Auntieverse! Wir haben mit Niceaunties über ihre surrealen Bilderwelten und die Kraft von Künstlicher Intelligenz gesprochen.
In deinen Bilderwelten haben sogenannte “Aunties” (in dt. “Tantchen”) das beste Leben im “Auntieverse”. Was sind das für Frauen und woher nimmst du Inspiration für sie?
Nun, Aunties ist in Asien erstmal kein positives Wort. Jede:r, der:die sich wie Aunties verhält, kann als solche bezeichnet werden: eine ältere Frau, eine Nachbarin, ein junges Mädchen oder sogar ein Mann. Es bedeutet im Allgemeinen, dass die Person ziemlich altmodisch ist oder zur vorherigen Generation gehört. Oder dass die Person ziemlich nörgelig ist und unaufgefordert Kommentare abgibt, obwohl man sie gar nicht nach ihrer Meinung gefragt hat. Die meisten Leute in Asien mögen es also nicht, als Auntie bezeichnet zu werden, auch deshalb, weil es bedeutet, dass man altert. In meinem Projekt Auntieverse geht es deshalb darum, die Perspektive der Menschen zu ändern, indem ich eine lustige und unbeschwerte Sicht auf das Leben biete. Meine Aunties im Auntieverse sind im besten Sinne verrückt, wild und tun all die Dinge, die typische Aunties vielleicht nicht tun oder nicht jedem Menschen zeigen. Meine eigenen Tanten und meine Mutter zum Beispiel sind sehr lustig und sehr humorvoll und haben viele Persönlichkeiten – aber nur die Familie bekommt sie zu sehen. In meinem Projekt geht es also darum, diese lustige Seite zu zeigen, die jede:r hat, die aber vielleicht vor der Öffentlichkeit verborgen wird.
Es gibt also definitiv Unterschiede zwischen den realen “Tantchen” und denen, die du mit Hilfe der KI erschaffst?
Ja, meine sind wie eine surreale Version dessen, was ich mir als “Tantchen” vorstelle. Ich denke oft, dass die KI-generierten Aunties vielleicht genauso sind, wie ich einmal werden möchte, wenn ich alt bin.
Sind sie deine Art persönliche Superheldinnen?
Ich weiß nicht, ob sie unbedingt Superheldinnen sind. Wenn man sich die Themen vieler meiner Kunstwerke und Videos ansieht, stellt man fest, dass die Aunties sehr, sehr banale, alltägliche Dinge – wie Wäsche waschen, kochen und essen – machen. Es geht also wirklich um die kleinen Dinge des täglichen Lebens, nur anders und lustig gestaltet. Superheld:innen wiederum versuchen, mehr als normale Menschen zu sein oder über ihnen zu stehen. Bei meinem Projekt geht es eher darum, Aufmerksamkeit auf Dinge zu lenken, die wir nicht bemerken, einschließlich den Aunties selbst. Ich habe das Gefühl, dass Tanten eine manchmal vergessene Seite der Gesellschaft sind. So viele Frauen, vor allem die der Generation meiner Tanten und meiner Mutter, saßen oder sitzen zu Hause fest als Hausfrauen – und niemand schätzt sie für das, was sie tun.
Welche Rolle spielen Alter, Schönheit und persönliche Freiheit im Auntieverse?
Ich kommentiere darin die Welt und die Dinge, die ich beobachte, etwa Schönheitsnormen und Körperideale. Im Auntieverse gibt es zum Beispiel ein Kapitel mit dem Titel The Spa Menu, in dem die Tanten Essen und Akupunkturnadeln im Gesicht haben. Wenn man sich das Video anschaut, sehen die Tanten alle sehr glücklich aus, während sie das tun, aber eigentlich ist es eine ziemlich schmerzhafte Prozedur. Genau so sehe ich Frauen, die sich diesen Schönheitsbehandlungen in der realen Welt unterziehen. Diese Behandlungen sind sehr schmerzhaft, aber viele Frauen machen sie trotzdem, weil sie jung und schön aussehen wollen. Dabei bringen diese punktuellen Behandlungen nicht viel, wenn man nicht auch seinen gesamten Lebensstil ändert. Warum sich also die Mühe damit machen?
Es scheint gar keine Männer im Auntieverse zu geben. Warum ist das so?
Es gibt ein paar Onkel darin, aber die sind eher zufällig aufgetaucht und sehr selten. Ich fühle mich einfach wohler, wenn ich Geschichten mit Frauen als Hauptfiguren schreibe, weil sie mein Leben von klein auf geprägt haben. Ich bin hauptsächlich unter Frauen aufgewachsen, weil meine Oma zu Hause war und sich um mich gekümmert hat. Und dann waren da noch meine Tanten, die mir mit den Schulaufgaben halfen. Mein Vater war meist berufstätig und nur selten zu Hause, und mit meinen Onkeln hatte ich nur selten zu tun. Hinzu kommt, dass ich auf einer Mädchenschule war. Ich habe also das Gefühl, dass ich Männer nicht genug verstehe, um authentische Geschichten über sie zu erfinden.
Auntlantis, Modern Museum of Aunties, oder Tofu Engineered Sushi Luxury Autos (kurz: TESLA) – Du spielst in deinen fiktiven Bilderwelten immer mit deutlichen Bezügen zur realen Welt und Gesellschaft.
Ich denke, um die Menschen zu erreichen, müssen sie verstehen. Und die Menschen verstehen meine Kunst, wenn sie einen Bezug zu etwas Realem hat, das sie bereits kennen. Deshalb mache ich meine surrealen Kunstwerke erstens sehr fotorealistisch. Und zweitens gibt es all diese Wortspiele wie Tesla und MoMA, damit meine Auntie-Geschichten wie eine alternative Realität wirken. Außerdem macht es mir persönlich Spaß, mir vorzustellen, wie bestimmte Dinge in Parallelwelten existieren könnten.
KI spielt eine zentrale Rolle in deiner Arbeit. Welche Möglichkeiten eröffnet dir der Einsatz von künstlicher Intelligenz?
Vor allem spart der Einsatz Zeit. Dieses Projekt hätte viel länger gedauert und wäre vielleicht gar nicht erst begonnen worden, weil ich neben meinem Vollzeitjob gar keine Zeit gehabt hätte, das alles selbst zu entwerfen. In so vielen Bereichen, wie zum Beispiel der Architektur, dauert es Tage oder Wochen, eine Idee zu zeichnen und sie dann auf das Niveau zu bringen, das Künstliche Intelligenz in fünf Minuten schafft. Davon abgesehen: Man kann mit KI einfach wahnsinnig tolle Geschichten erzählen und sich selbst als so viele andere Figuren vorstellen. Wahrscheinlich hätte ich das Auntieverse auch ohne KI machen können, aber das hätte einfach viele, viele Jahre gedauert und ich hätte vermutlich irgendwann das Interesse verloren, da ich einfach eine sehr kurze Aufmerksamkeitsspanne habe. Aber durch die KI bleibt das Projekt spannend.
Es gibt eine allgemeine Debatte über KI in der Welt, die sich um ihre Sicherheit und auch um Urheberrechtsfragen dreht. Es gibt bereits eine ganze Reihe von Kreativen und Künstler:innen, die über ihre Bedenken in Bezug auf die KI sprechen oder die befürchten, dass die KI ihnen letztendlich die Arbeitsplätze oder Aufträge wegnehmen könnte. Teilst du diese Sorgen?
Nein. Die Idee kommt letztlich doch immer noch von einem selbst, oder? Und wenn man Prompts eingibt, muss man keine Namen von Künstler:innen verwenden, um deren Arbeit oder Stil zu kopieren. Das ist gar nicht nötig. Ich versuche, buchstäblich nur meine Idee zu prompten, indem ich genau beschreibe, was ich will, mit den Kameraeinstellungen, die ich verwenden würde, wenn ich eine Kamera benutzen würde, und dann die Beleuchtung und die Umgebung, die ich mir vorstelle, sowie die Details… Wenn dieser Input, die Beschreibung und die Idee von einem selbst kommen, was der wichtigste Teil ist – die Essenz des Bildes -, wie kann das dann jemand anderem die kreative Kraft nehmen?
Auntieverse zeigt uns Zukunftsvisionen, in denen Gemeinschaft und persönliche Freiheit Hand in Hand gehen. Was für eine Zukunft wünschst du dir für die Realität?
Es gibt diesen Futuristen, Ray Kurzweil. Er hat bei TED darüber gesprochen, wie das menschliche Leben durch den Fortschritt der Technologie stark verlängert werden könnte. Mit jedem Jahr, das wir älter werden, gewinnen wir tatsächlich vier Jahre zurück. Wir gehen also gewissermaßen in der Zeit zurück und werden jünger, während wir altern. Der Gedanke ist also, dass sich das menschliche Leben verlängern wird und wir mit der Zeit viel mehr alte Menschen sehen werden. Ich denke, eines der Ziele von Auntieverse ist es, auf ähnliche Weise wie der Gedanke von Kurzweil, die Art, wie wir das Altern und unsere Einstellung zum Leben betrachten, zu überdenken. Die Perspektive auf das Leben und die Menschen um uns herum im Allgemeinen neu zu sehen. Für die Zukunft hoffe ich, dass das Auntiverse auch im wirklichen Leben umgesetzt werden kann. Ich weiß noch nicht genau, wie, aber ich bin dabei, das zu erforschen.
Niceaunties (@niceaunties) ist eine in Singapur lebende Künstlerin und Designerin. Sie wurde in den 1980er Jahren geboren, in den Jahren des nationalen Aufbaus Singapurs, und erlebte eine Kindheit, die stark von den Frauen im Haushalt beeinflusst wurde, da die kulturellen Normen ihnen die Hauptrolle bei der Kinderbetreuung zuwiesen. In Auntieverse setzt sie sich mit Themen wie Altern, Schönheit, persönlicher Freiheit und dem Alltagsleben durch KI-Kunst auseinander. Beeinflusst vom Surrealismus, der Fantasie im Allgemeinen und der Kawaii-Kultur, steht Niceaunties’ Kunst für Selbstbestimmung und Selbstdarstellung. Ihre Arbeiten wurden weltweit ausgestellt, unter anderem auf der Art Basel, der PhotoVogue und bei einem TED-Talk in Vancouver. Als Fellowship-Künstlerin sind ihre KI-Videoarbeiten im daily.xyz-Projekt von Fellowship zu sehen. Sie war an der Christie’s Wohltätigkeitsauktion “Creating Connections” im Jahr 2023 beteiligt. Ihre Kunst wurde in Forbes, der Business Times und auf der Titelseite des Telescope Magazine vorgestellt.