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Gianni Jovanovic, Vorstandsvorsitzender Queer Roma, auf dem CSD. Foto: © Pascal Amos Rest

Sinti und Roma: seit 700 Jahren in Europa und immer noch massiv diskriminiert

Es gilt, die negative Grundhaltung gegenüber Sinti und Roma zu beseitigen, durch Stereotype geprägte Bilder zu verbannen und ein Miteinander zu schaffen. Was die Gesellschaft hierfür benötigt? Einen Wandel im Denken.

Hand aufs Herz: Habt ihr schon einmal weggehört, als sich jemand rassistisch über Sinti und Roma (Gender-Schreibweise: Sinti*zze und Rom*nja) geäußert hat? Weggeschaut, als in der Öffentlichkeit Stereotype reproduziert oder in Medien immer wieder aufs Neue nur Menschen am Rande der Gesellschaft gezeigt wurden? Es ist erschreckend, wie sehr sich die Ausgrenzung und Diskriminierung dieser Minderheit hierzulande normalisiert zu haben scheint. Manche verschweigen ihre Zugehörigkeit zu der Bevölkerungsgruppe sogar, um den Feindbildern und Vorurteilen zu entkommen.

Eine Studie ergab, dass in Deutschland keiner anderen Bevölkerungsgruppe weniger Sympathie entgegengebracht wird als den Sinti*zze und Rom*nja. Diese negative Grundhaltung hat eine lange und tragische Geschichte: In der NS-Zeit wurden schätzungsweise 500.000 Sinti*zze und Rom*nja systematisch ermordet. Die Minderheit erlebte dadurch einen enormen Identitätsverlust. In der Geschichtsschreibung ist der Völkermord noch immer nicht vollständig aufgearbeitet.

Roxanna-Lorraine Witt ist die ehemalige Leiterin des Referats für Bildung beim Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma, ihre Großmutter sowie deren Familie sind Sinti*zze und dem Holocaust entkommen. Foto: Chad Evans Wyatt für RomaRising.

Heute leben etwa 70.000 Sinti*zze und Rom*nja in Deutschland, die Bürger*innen dieses Staates sind. Viele von ihnen sind Vorreiter*innen, wenn es darum geht, die Minderheit in der Gesellschaft sichtbar zu machen. Sie engagieren sich in selbstorganisierten Gruppen, leisten wichtige Bildungsarbeit, sind Künstler*innen oder anderweitig kreativ tätig. Worauf ich hinaus will: Der Dialog kann nur vorangetrieben werden, wenn wir bereit dazu sind, hinzuschauen, zuzuhören, positive Gegenbilder zu schaffen – und diese eben auch anzuerkennen.

Wir haben darüber mit Roxanna-Lorraine Witt gesprochen. Sie war lange Zeit die Leiterin des Referats für Bildung beim Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma, ihre Großmutter sowie deren Familie sind Sinti*zze und dem Holocaust entkommen.

Hinweis: Sinti und Roma sind sogenannte „umbrella terms“, die eine Vielzahl von Gruppen beschreiben und auch Untergruppen erfassen. Deren Geschichten, kulturelle Elemente, Sprache und Historie sind teils unterschiedlich.

Frau Witt, in Deutschland herrscht noch immer sehr großes Unwissen, was diese Bevölkerungsgruppe angeht. Wozu hat das geführt?

Viele Menschen wissen nichts oder nur wenig über die Lebensrealität und Historie der Sinti*zze und Roma*nja. Dadurch entsteht ein Konstrukt von „ewigen Fremden“, auf die alle möglichen Ängste und Stereotype projiziert werden. Hier in Deutschland leben Sinti*zze und Rom*nja schon seit fast 700 Jahren. Sie haben die Gesellschaft und das Leben in diesem Land – wie in jedem anderen, in dem sie anzutreffen sind – erheblich mitgestaltet. Die Vorurteile und Stereotype aufzulösen ist nur möglich, indem die Mehrheitsgesellschaft Aufklärung erfährt und indem derselben das entsprechende Wissen vermittelt wird. Dann werden aus den „Fremden“ Nachbar*innen, Mitschüler*innen, Kolleg*innen.

Manche Sinti*zze und Rom*nja leben aufgrund der Vorurteile ja sozusagen „unsichtbar“ in der Mitte der Gesellschaft …

Solange sie sich nicht als Angehörige der Minderheit zu erkennen geben, fallen sie als solche auch nicht auf. Erst, wenn sie sich dazu bekennen oder ihre Ethnizität thematisieren, erfahren sie Diskriminierung oder Ausgrenzung – obwohl sie immer noch dieselben Menschen sind und als solche vorher nicht negativ wahrgenommen wurden.

Wenn wir als Gesamtgesellschaft unser Wissen über die Menschen, mit denen wir zusammenleben, erweitern, können wir Xenophobie vorbeugen und xenophobe Verhältnisse auflösen. Wir machen die Erfahrung, dass sich diese Vorurteile und Stereotype schnell auflösen, wenn Menschen Aufklärung über die Historie sowie Lebenswirklichkeit der Sinti*zze und Rom*nja erfahren. Diejenigen, die vorher selbst voreingenommen waren, setzen sich proaktiv für die Angehörigen der Minderheit ein, indem sie ihr neu gewonnenes Wissen über die Wirklichkeit an andere herantragen und damit zum gesamtgesellschaftlichen Umdenken beitragen.

Stichwort Cultural Appreciation – vielen dürften die kulturellen Elemente der Sinti*zze und Rom*nja ebenfalls nicht bekannt sein. Gibt es bestimmte Traditionen, die von anderen Mitbürger*innen genutzt werden, ohne dass sie wissen, woher diese stammen?

Essen ist zum Beispiel ein großer Teil unserer Kultur. Traditionelle Gerichte sind etwa Sauerkraut, Knödel und Braten, wie man sie aus der deutschen Küche kennt. Die Art und Weise, wie man isst, und der Stellenwert, welchen Essen einnimmt, sind zwei der vornehmlichen Aspekte, die sich von der mehrheitsgesellschaftlichen Kultur unterscheiden.

Welche Elemente hat die Mehrheitsgesellschaft übernommen? Wenn wir das auf Europa beziehen, gibt es ganz starke Einflüsse der Kultur von Sinti*zze und Rom*nja, die man insbesondere im künstlerischen Bereich sieht – sowohl in der Malerei als auch in der Musik und im Tanz. Flamenco ist ein sehr bekanntes Beispiel. Dann gibt es den sogenannten Sinti-Swing oder den Musiker Django Reinhardt. Das alles hatte großen Einfluss auf die europäische Kultur.

Auch Sprache ist ein wichtiges kulturelles Element – in diesem Fall Romanes. Gibt es auch hier Verschmelzungen?

Es gab mal ein Plakat der CSU: Ein junger Politiker aus Bayern hat mit dem Spruch „Chabos wissen, wer der Babo ist“ geworben, der zuvor durch den Rapper Haftbefehl populär wurde. Chabos ist ein Wort aus dem Romanes und bedeutet „Jungs“. Er hat also ein Wort aus unserer Sprache adaptiert, das in der Jugendkultur beziehungsweise im Slang angekommen ist. Vor allem regionalbedingt ist es oft so, dass Begriffe aus dem Romanes adaptiert werden und Deutsche Lehnwörter benutzen, um diese in der Jugendkultur oder in der Umgangssprache zu verwenden. Viele wissen das nicht. Es ist übrigens auch umgekehrt so; da sieht man, dass sich die Kulturen gegenseitig beeinflussen.

Bild eines 8-jährigen Jungen (Gabriel J.).

Auf der anderen Seite kann Sprache auch eine Waffe sein. Viele Menschen benutzen für Sinti*zze und Rom*nja immer noch den rassistischen Begriff, den ich jetzt bewusst nicht ausspreche – auch ein Schnitzel und eine Soße tragen diesen Namen. Was möchten Sie Menschen mit auf den Weg geben, die eine Diskussion über einen reflektierten Sprachgebrauch nicht nachvollziehen können?

Die Angehörigen der Minderheit als gleichwertige Individuen anzuerkennen, bedeutet, ihnen das Recht auf Selbstbestimmung zuzugestehen und damit auch das Recht auf Selbstbezeichnung. Sie weiterhin mit einem Begriff zu adressieren, der historisch für ihre Unterdrückung steht, ist Ausdruck derselben und sorgt gleichzeitig für ein Fortbestehen des Machtgefälles, gegen das sich Sinti*zze und Rom*nja in jedem Land, in dem sie leben, kontinuierlich zur Wehr setzen müssen. Sprache ist eines der wirkungsvollsten Mittel, um derartige Machtgefälle zu konstruieren und am Leben zu erhalten – jedes faschistische Regime hat sich in der Vergangenheit eines Propagandaapparates bedient, um seine Macht zu wahren. Und auch in einer Demokratie zählen die Medien zu den wichtigsten Instanzen, die das politische Klima beeinflussen.

Um eine sichere und positive Zukunft zu gestalten, ist es sehr wichtig, die Vergangenheit aufzuarbeiten. Was muss an dieser Stelle geschehen? Ich kann mich zum Beispiel nicht daran erinnern, dass ich damals in der Schule vom Holocaust an Sinti*zze und Rom*nja gehört hätte.

Das ist richtig und das geht den meisten so. Wir kritisieren das stark und vertreten die Ansicht, dass dieser Aspekt in die Schulbücher und in den Rahmenlehrplan einfließen muss. Das ist natürlich ein Thema – dass die Geschichten und die Kulturen der Menschen, mit denen man zusammenlebt, gelehrt werden müssen. Was wir feststellen, ist, dass wir eine weiße Dominanzkultur haben, wodurch im Unterricht weiße Geschichte in den Vordergrund tritt. Deutschland ist aber seit jeher ein polyethnisches und multikulturelles Land.

Welche Themen sollten Ihrer Meinung nach in Bezug auf Sinti*zze und Rom*nja mehr besprochen werden und in der Öffentlichkeit mehr Beachtung finden?

Einerseits finde ich es wichtig, dass der Geschichtsunterricht dementsprechend angepasst wird. Dass Tage wie der Holocaust-Gedenktag nicht nur einmal im Jahr Betroffenheit auslösen. Dass viel mehr über alle Gruppen der Verfolgung aufgeklärt wird.

Andererseits würde ich mir wünschen, dass wir mehr über weiße Privilegien sprechen – nicht im Sinne einer Anklage. Wir haben ja das Problem, dass es nicht nur Rassismus gegen Sinti*zze und Rom*nja gibt, sondern auch gegen viele andere Gruppen. Alldem liegt ein Alltagsrassismus zugrunde, der unterschwellig im weißen Herrschaftsdenken begründet ist. Es gibt eine Menge Privilegien, mit denen Menschen geboren werden, derer sie sich aber nicht bewusst sind. Dafür können sie nichts, denn sie werden ja in ein System hineingeboren, in dem das schon vorher so war.

Um diesen ganz großen Apparat zu ändern, benötigt es Angebote der Emanzipation. Dafür brauchen wir mehr als nur ein paar Interessent*innen. Man sollte sich mit Sinti*zze und Rom*nja als Individuen befassen – und mit ihrer Kultur sowie Geschichte. Dazu bedarf es eines wirklich großen Wandels im Denken der Menschen.

Was könnte so einen Wandel vorantreiben?

Wir brauchen Menschen, die dazu bereit sind, ihre Privilegien zu teilen. Das kann bedeuten, einfach zuzuhören, anstatt zu denken, man wisse es besser. Zum Beispiel wenn es darum geht, wie Expertise über Rom*nja und Sinti*zze vermittelt wird oder von wem. Das kann heißen, bewusst Angehörige der Gruppe einzuladen und über sich selbst sprechen zu lassen. Das kann sich darin äußern, dass gezielte Förderangebote geschaffen oder Mittel zur Verfügung gestellt werden, damit Sinti*zze und Rom*nja sich organisieren können.

Letztendlich bedeutet es auch, als Arbeitgeber*in jemanden, der weniger Privilegien genießt, bevorzugt einzustellen, einer solchen Person einen Auftrag zu erteilen oder eine verantwortungsvolle Position zu überlassen, in die der oder diejenige dann hineinwachsen kann – auch wenn erst einmal jemand anderes auf dem Papier die erste Wahl hätte sein müssen. Damit gleicht man aktiv die Nachteile aus, die durch Diskriminierung und als Langzeitfolge des Holocaust entstanden sind und sich eben beispielsweise in Form von mittelmäßigen Noten oder einer Lücke im Lebenslauf niederschlagen.

Diese Art des Sinneswandels kommt am Ende nicht nur uns zugute, sondern allen Menschen.

Vielen Dank für das Gespräch!