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Bild: © Jamie Diamond

Skin Hunger – Wenn Berührungsarmut krank macht

“Skin Hunger” beschreibt die Leere, die entsteht, wenn wir einen Mangel an Berührung erleben. Wie macht sich das bemerkbar? Und wie berühren wir uns in Zukunft?

Es ist der 5. August 2020. Fünf Monate sind ins Land gestrichen, seitdem die 85-jährige Rosa Luzia Lunardi einen anderen Menschen umarmt hat. Erst an diesem heißen Augusttag kann die Brasilianerin und Bewohnerin des Viva Bem Pflegeheims in São Paulo das erste Mal seit März wieder einen anderen Menschen in die Arme schließen. Der dänische Fotograf Mads Nissen hält den Moment, in dem Rosa von der Krankenschwester Adriana Silva da Costa Souza durch einen sogenannten “Hug Curtain” umarmt wird, fest. Sein Foto “The First Embrace” wird ein Jahr später zum World Press Photo 2021 gekürt. Es steht seitdem symbolisch für das, was während der Corona-Pandemie für viele Menschen am kürzesten kam: die Berührung. 

Bleibt sie aus, spricht man von Touch Starvation (Berührungsarmut) oder noch häufiger von Skin Hunger, was sinnbildlich den Hunger nach Haut bzw. eben nach Berührungen meint. Heute, im Jahr 2023, sind Lockdowns und Social Distancing Maßnahmen längst passé. Aber Berührungen sind nach wie vor ein Thema. Spätestens dann, wenn wir uns fragen müssen, ob uns die Berührungsdiät der letzten Jahre hungrig hinterlassen hat und wir das jetzt irgendwie kompensieren wollen.  

Berührung als Lebensmittel

Berührungen waren – zumindest bei den meisten Menschen – von Geburt an Teil des eigenen Lebens. Wer denkt, dass Berührungen erst im Erwachsenenalter eine Rolle spielen, der irrt. “Unsere ersten Jahre auf dieser Erde sind Jahre, in denen wir sehr viel körperlichen Kontakt zu unseren Nächsten haben”, erklärt Martin Grunwald, Professor an der Universität Leipzig, Leiter des dortigen Haptiklabors und Autor von Homos Hapticus: Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können. Wenn dieser frühe Kontakt fehlt, so Grunwald, könne das verheerende Folgen für die weitere Entwicklung haben – psychisch wie physisch. Denn jede Berührung löst biochemische Prozesse aus, die unser neuronales und biochemisches Wachstum anregen. 

Körperberührungen sind für uns schlicht und ergreifend ein Lebensmittel”, sagt Martin Grunwald, Professor an der Universität Leipzig und Leiter des dortigen Haptiklabors. Bild: Margarete Cane

Was viele dabei vielleicht gar nicht im Blick haben: Der erste Körperkontakt beginnt schon im Mutterleib. Das noch ungeborene Kind wird durch den Körper der Schwangeren bereits “umarmt”, bevor es überhaupt auf die Welt gekommen ist. Für nesthockende Säugetiere wie den Menschen gilt das Prinzip, dass man nur gesund und gut aufwachsen kann, wenn man einem ausreichenden Maß an Körperstimulationen ausgesetzt ist. “Das ist sozusagen ein biologisches Grundprinzip. Neurologisches und körperliches Wachstum bei unserer Spezies ist nach der Geburt davon abhängig, in welchem Umfang wir adäquat auch körperlich stimuliert werden. Körperberührungen sind für uns schlicht und ergreifend ein Lebensmittel”, sagt Grunwald. Sobald dieses Wachstum beendet ist – in der Regel ab dem 24. Lebensjahr –, sind Körperinteraktion vor allem wichtig, um biologische Entspannungsprozesse in Gang zu setzen. “Natürlich können wir auch entspannende Musik hören, einen Film angucken oder spazieren gehen. Aber Angstzustände, Betrübnis, leichte bis mittelgradige Depressionen – solche seelischen Zustände können eben vor allem durch einfache und auch durch kurzzeitige Körperberührungen, insbesondere von vertrauten Personen, ganz schnell verändert und verbessert werden”, meint Grunwald. 

Der erste Körperkontakt beginnt schon im Mutterleib: Das noch ungeborene Kind wird durch den Körper der Schwangeren bereits “umarmt”, bevor es überhaupt auf die Welt gekommen ist. Bild: Parinda Shaan

Leer, leerer, Skin Hunger: Was Berührungsarmut mit uns macht

Dass sich eine Umarmung, ein Handschlag oder eine Massage gut anfühlen, liegt an einem bestimmten Botenstoff: Oxytocin, ein Glückshormon, das sich im Gehirn bei Berührungsreizen bildet. Es gelangt über die Blutbahn in andere Bereiche des Körpers und wirkt sich positiv auf unseren Organismus aus. Unsere Herzfrequenz wird langsamer, Blutgefäße erweitern sich, der Blutdruck sinkt – und das sogenannte Stresshormon Cortison wird weniger ausgeschüttet. Grunwald fasst zusammen: “Sowohl auf neuronaler als auch auf biologischer Ebene leitet Oxytocin alle uns bekannten Entspannungsprozesse ein.”

Was aber, wenn diese positive Wirkung monate- oder gar jahrelang ausbleibt, wie es in der jüngsten Menschheitsgeschichte der Fall war? Dann kann es zu aggressivem Verhalten, Körperbildstörungen, einem erhöhten Stresspegel, Bindungsängsten, sexuellen Dysfunktionen, Einsamkeit und Erkrankungen wie Depressionen kommen. Das sind jedenfalls die grundlegenden Folgen von Skin Hunger. “Wir wissen, dass die Zahl der psychischen Erkrankungen weltweit, primär im Jugendbereich, durch die Decke gegangen sind”, sagt Martin Grunwald. Die Pandemiezeit sei jedoch nicht ausschließlich negativ zu bewerten. Nicht jede:r habe an einem Berührungsmangel gelitten, einfach, weil der Berührungsbedarf hochgradig individuell ist. Zudem sind viele Menschen trotz Pandemie mit anderen in Kontakt gekommen, etwa mit Familie oder Partner:in. Positiv bewertet der Psychologe, dass sich bedingt durch Isolationsmaßnahmen ein Bewusstsein für den elementaren Charakter der alltäglichen Körperkommunikation gebildet habe. “Viele haben festgestellt, dass halt ein Tag ohne eine Umarmung oder ohne einen Handschlag irgendwie auch kein guter Tag ist. Und dass die virtuelle und technische Welt das menschliche Miteinander im echten Leben nicht unbedingt ersetzen kann”, so Grunwald.  

Zukunft zum Anfassen: Von haptischem Feedback, künstlicher Haut und umarmenden Robotern

Blicken wir gen Technik, begegnen wir auf den ersten Blick vor allem einer zunehmenden Leichtigkeit der Berührung: Smartphone, Tablet und Smartwatch funktionieren bereits seit Jahren nicht mehr per Knopfdruck, sondern per Touch. Wo einst mit einem gewissen Nachdruck eine Taste gedrückt werden musste, reicht seit geraumer Zeit schon ein Hauch an Kontakt zwischen Haut und Device. Dass auch die technischen und virtuellen Welten mehr Körperkontakt brauchen, zeigen aktuelle Forschungsvorhaben. So arbeiten Forscher:innen zum Beispiel bereits an einer Möglichkeit, haptisches Feedback in Online-Käufe zu integrieren. Oder sie versuchen, künstliche Produkte durch menschenähnliche Haut echter und dadurch berührungsintensiver zu machen. Auch HuggieBots, also Roboter, die Menschen optimal umarmen können, werden bereits in den Laboren dieser Welt entwickelt. Sogenannte Streichelroboter gibt es sogar schon. Martin Grunwald blickt diesen Bemühungen kritisch entgegen: “Ingenieur:innen möchten den Tastsinn gerne technisch nachbauen. Das Bestreben danach gibt es schon seit Jahrzehnten. Aber ich sehe das momentan nicht, weil ich immer wieder feststelle, wie stark wir an die biologischen Grenzen gebunden sind. Das biologische System mit all seinen Rezeptoren und Nervensträngen nachzubauen, ist eigentlich unvorstellbar.” 

Berühren wir in Zukunft mehr Maschinen als Menschen? HuggieBots, also Roboter, die Menschen optimal umarmen können, werden bereits in den Laboren dieser Welt entwickelt. Bild: Andy Kelly

Der Drang, authentische Berührungen durch technische Hilfsmittel zu erzeugen, zeigt uns vor allem, welche Rolle körperliche Interaktionen in Zukunft spielen können. “In dem Maße, wie wir uns in das technologische Zeitalter hineinbewegen, wird Intimität immer komplexer: Liebe, Freundschaft und emotionale Erfüllung nehmen viele verschiedene Erscheinungsformen an”, meint die Fotografin Jamie Diamond. In ihrer Arbeit “Skin Hunger”, die 2022 das erste Mal ausgestellt wurde, beschäftigt sie sich ausgehend von den pandemischen Jahren mit der Berührungsarmut. “Wir befinden uns aus vielen Gründen in einem kritischen Moment der Geschichte”, sagt Diamond. Auf meine Frage, warum sie sich mit einem Phänomen wie “Skin Hunger” auseinandersetzt, antwortet sie: “Kannst du dir eine Zukunft vorstellen, in der es keine Berührungen mehr gibt? Wir hatten für kurze Zeit eine Ahnung davon, aber kannst du dir eine Welt vorstellen, in der das alltäglich wird?” Die für unsere Entwicklung so wichtige Berührung verliert in den Augen der Künstlerin an Bedeutung und ist nicht mehr gewährleistet. Das sei aber nicht allein auf technische Innovationen zurückzuführen. Im Gegenteil: “Berührungen werden weniger und sie sind durch eine Vielzahl von Faktoren, von Infektionskrankheiten bis hin zu übergriffigen sexuellen Handlungen, nicht immer ungefährlich. Während die Technologie immer tiefer in die physische und soziale Welt eindringt, werden die persönlichen Grenzen neu gezogen und es entwickelt sich ein neues Verständnis von Einvernehmlichkeit.”

“Wir befinden uns aus vielen Gründen in einem kritischen Moment der Geschichte”, sagt die US-amerikanische Künstlerin Jamie Diamond. “Während die Technologie immer tiefer in die physische und soziale Welt eindringt, werden die persönlichen Grenzen neu gezogen und es entwickelt sich ein neues Verständnis von Einvernehmlichkeit.” In ihrer Arbeit “Skin Hunger”, die 2022 das erste Mal ausgestellt wurde, beschäftigt sie sich ausgehend von den pandemischen Jahren mit der Berührungsarmut. Bild: privat

Kuschel-Konsens – ein neues Berührungsbewusstsein durch die Cuddle Economy?

Deshalb untersucht sie mit ihrer Arbeit “Skin Hunger” das Aufkommen und die Explosion einer neuen Dienstleistungswirtschaft: die Cuddle Economy, also das Geschäft mit dem Kuscheln. Seit 2015 hat Diamond mit mehr als drei Dutzend professionellen Cuddlers (Kuschler:innen) im wirklichen Leben sowie virtuell zusammengearbeitet. In ihren Fotografien ist sie selbst zu sehen, wie sie das Kuschelangebot der Cuddler in Anspruch nimmt. “Die Dienstleistung, auf die ich mich [in Skin Hunger] konzentriere, ist die nicht-sexuelle Berührung, oder eben Kuscheln. Wenn du einen professionellen Berührungspraktiker engagierst, zahlst du einen Stundensatz sowohl für Berührung als auch für Grenzen, aber vor allem für die Verbindung.” Der gängige Stundenlohn liegt bei ca. 70 Euro pro Einzelstunde, Kuschelpakete mit mehreren Stunden oder Kuschelparties sind oft im Hunderterbereich angesiedelt. Mit Grenzen meint Diamond, dass nun einmal jede:r unterschiedliche Go’s und No-Go’s definiert. “Es gibt keine Pädagogik oder formale Ausbildung in unserer Erziehung, wenn es um Grenzen und Einvernehmlichkeit geht”, so die Künstlerin.

In ihrer Arbeit “Skin Hunger” untersucht die Künstlerin Jamie Diamond das Aufkommen und die Explosion einer neuen Dienstleistungswirtschaft: die Cuddle Economy, also das Geschäft mit dem Kuscheln. Seit 2015 hat Diamond mit mehr als drei Dutzend professionellen Cuddlers (Kuschler:innen) im wirklichen Leben sowie virtuell zusammengearbeitet. In ihren Fotografien ist sie selbst zu sehen, wie sie das Kuschelangebot der Cuddler in Anspruch nimmt. Bild: © Jamie Diamond

Diese Einschätzung bestätigt auch der Touch Test, der von der Goldsmiths University of London online durchgeführt wurde. Die digitale Umfrage wollte herausfinden, ob wir neben einer Gesundheitskrise auch in einer Berührungskrise stecken. Dazu gab es unter anderem Fragen dazu, wo, wie und von wem die Teilnehmenden gerne berührt werden. Die Ergebnisse machten deutlich, dass Menschen, die sich nach mehr Berührungen sehnen und der Meinung sind, dass die heutige Welt nicht genug Gelegenheiten dafür bietet, als häufigsten Grund die Frage der Einvernehmlichkeit nannten. Das Forschungsteam sieht vor allem Bewegungen wie #metoo als möglichen Anhaltspunkt dafür, dass einige Menschen in Sachen Körperkontakt mit anderen vorsichtiger geworden sind. Jamie Diamond versucht deshalb, mit ihren Bildern sowie dem Film, an dem sie gerade arbeitet, den Diskurs rund um die Berührungen von Neuem zu entfachen. “Was ich mir von diesem Projekt erhoffe, ist, dass der Betrachter mit einem Bewusstsein und einer Achtsamkeit für das, was wir vermissen, für das, wonach wir uns sehnen, auch wenn wir es vielleicht nicht wissen, nach Hause geht. Denn wenn wir heute nicht damit anfangen, werden wir vielleicht bald alle an Skin Hunger leiden.”

“Es gibt keine Pädagogik oder formale Ausbildung in unserer Erziehung, wenn es um Grenzen und Einvernehmlichkeit geht”, so die Künstlerin Jamie Diamond. Professionelle Kuschler:innen könnten uns lehren, diese Grenzen zu kommunizieren. Bild: © Jamie Diamond

Martin Grunwald sieht im Kuschelgeschäft viel Potenzial. Denn noch immer sei die Berührung einem gewissen Vorurteil unterworfen. “Viele machen den Kurzschluss, Berührungen zwischen zwei Menschen, egal welchen Geschlechts, seien immer sexuell. Es ist aber nicht richtig, jeder Berührung eine sexuelle Intention zuzusprechen”, meint der Psychologe. Doch gerade davon berichten viele Kuschler:innen unabhängig voneinander immer wieder. Zu oft wird ihre Arbeit vorschnell mit Sexarbeit gleichgesetzt  – zumindest von Außenstehenden. Und was bei der Recherche nach Kuschelplattformen sofort auffällt, ist, dass es vorrangig Frauen oder weiblich gelesene Menschen zu sein scheinen, die ihren Kund:innen den einvernehmlichen platonischen Körperkontakt anbieten. Bei einem der größten Anbieter, der direkt Deutschland, Österreich und die Schweiz abdeckt, sind fast 70% der Kuschler:innen weiblich. Ist das Kuschelgeschäft also eine weitere körpernahe Dienstleistung in unserer Gesellschaft, die vornehmlich von Frauen ausgeübt wird? Studien legen nahe, dass Frauen durch Kuscheln nicht nur glücklicher als Männer werden, sondern dabei auch auf die Empfänger:innen der Schmuse-Einheiten mitfühlender wirken – wobei offen bleibt, ob letzteres ein Resultat vorherrschender Geschlechtsstereotypen ist. Dass Frauen jahrhundertelang in eine Rolle gedrängt wurden, die die Fürsorge um andere zum Zentrum ihres Daseins machte, ist keine neue Erkenntnis. Die Frage ist, ob das im Fall der professionellen Kuschlerinnen auch zutrifft. Sind diese Frauen vielleicht nur im Kuschelbusiness, weil auch sie mit den Stereotypen der weiblichen Fürsorgerin sozialisiert wurden? 

Folgt man Jamie Diamond nach ihrem Selbstexperiment mit den professionellen Cuddlers, kommt man zu einer anderen Einschätzung. Kuscheldienstleister:innen tragen mit ihrer Arbeit maßgeblich dazu bei, ihre Kund:innen in deren Umgang mit Berührung zu schulen. Sie können uns also lehren, wie wir um einvernehmliche Berührungen bitten und diese empfangen können. Dass es vor allem Frauen sind, die nun diese Pionieraufgabe im professionellen Kuschelbusiness übernehmen, verwundert vor diesem Hintergrund nicht. Denn noch immer haben vornehmlich sie mit unerwünschten Berührungen zu kämpfen. Und noch immer sind sie es, die spätestens seit der Me-Too-Bewegung die Frage nach der Einvernehmlichkeit einer Berührung öffentlich zur Debatte stellen.