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Foto: Adam Koziol

Tattoos – Spirituelle Illustrationen für hypermoderne Körper

Augen, Dreiecke und Tarotkarten: Ist der Trend zum spirituellen Tattoo nur eine oberflächliche Verschönerung oder gehen die Bilder auch im übertragenen Sinne bis unter die Haut; illustrieren sie nicht auch eine geistige Haltung? 

Tätowierungen gehören zum Erbe der Menschheit

Der Tätowierung haftet noch immer der verruchte Vibe von Verbrechern, Seefahrern und Unterweltlern an. Ich selbst muss mir als tätowierte Person eingestehen: Rough auszusehen kann Spaß machen. Das ist allerdings nur eine Facette von Tattoos.

Schon ein Blick in den Ursprung des Wortes Tattoo zeigt, wie komplex die Geschichte der unter die Haut gestochenen Bilder ist. Auf rein sprachlicher Ebene betrachtet, stammt das Tattoo von dem samoanischen Begriff tatau ab. Gesprochen wird die Sprache auf den samoanischen Inseln im Südpazifik. Körperbemalungen durch Tinte sind aber keine zeitlich eindeutig datierbare Erfindung: Sie kommen in vielen Kulturen dieser Welt vor. Die ältesten aktuell bekannten Funde lassen sich in der Haut von Mumien finden, die vor 10.000 Jahren in Europa gelebt haben. Die Tattoos erfüllen dabei immer eine bestimmte Funktion, die wir oft im Nachhinein nur noch bedingt rekonstruieren können. Sie erzählen von der Zugehörigkeit zu einem Stamm, bestimmten Ereignissen im Leben der Tätowierten oder dem Andenken an die Ahnen. Im Vergleich zur heutigen Zeit, scheinen die Ursprünge der Tätowierungen auf deutlich spirituellere Motive zurückzugehen. Wer selbst tätowiert ist, der weiß um die spezielle Verbindung, die man zu seinem Tätowierer aufbaut. Es gehört viel Vertrauen dazu, sich von jemandem eine Wunde zufügen zu lassen, die als Bild abheilt.

Foto: Adam Koziol

Foto: Adam Koziol

Die traditionellen Tätowierungen sterben aus

Vertrauen braucht man allerdings auch, wenn es darum geht, die eigenen Tätowierungen fremden Menschen  zu zeigen. Der Fotograf Adam Koziol ist fasziniert von den verschiedenen Formen der Körpermodifikation und des Körperschmucks von Ureinwohnern auf der ganzen Welt. Der junge polnische Fotograf wirkt nicht wie der typische Tattoo-Jäger: Mit 23 Jahren startete Koziol, der aus dem westlichen Poznan stammt, ein ambitioniertes Projekt. Er machte sich zum Ziel die sterbenden Riten und Kulturen indigener Stämme zu dokumentieren. Während einer Recherchereise durch Taiwan hatte er die Möglichkeit, mit zwei Frauen des Atayal-Stammes zu sprechen, der zu den größten indigenen Stämmen Taiwans gehört. Die beiden Frauen, beide schon über 100 Jahre alt, trugen als einzige ihres Stammes noch die letzten Gesichtstätowierungen. Sie waren die letzten Zeugen einer jahrhundertealten Tradition, die mit ihnen verschwinden wird.

„One of them was 103 years old and the other one 108. The younger woman died this year. It was a big experience for me when the family asked me to send them her photo so that they have Iwanu’s [eine der beiden Porträtierten] picture at the funeral. I felt that the huge centuries-old Atayal tradition, one of the biggest indigenous tribes in Taiwan, was dying during a small funeral ceremony being forgotten in nowadays civilization.“

Die Porträts von Koziol zeigen intime Momente von Menschen, die auf ihrer Haut ihre eigene Kulturgeschichte tragen. In Koziols Welt sind Tätowierungen aber zugleich eine Spielart der Körperveränderung. Sie steht gleichbedeutend neben Schmuck, Piercings und Vernarbungen. Sie alle dekorieren die Körper der Menschen, die sie tragen. Doch neben der reinen Schmuckfunktion unterscheiden und markieren sie die Menschen. Sie verleihen ihren Körpern eine Identität, die sofort lesbar wird.

Foto: Adam Koziol

Foto: Adam Koziol

Hippes Tattoo, spirituelle Haltung

„Bis vor kurzem waren Tattoos im Westen noch Stigmata der Verbrecher und Kriminellen. Heute sind sie einfach nur ein weiteres Modeaccessoire, gezeigt von David Beckham auf Plakaten und in Unterwäsche“, heißt es in einem DIY-Zine über Hygiene beim Tätowieren, dessen Autor anonym bleiben möchte. Das Zitat veranschaulicht, wie sehr sich die Rolle der Tätowierungen verändert hat. Sie sind zum Beispiel zugänglicher geworden: Mehr Menschen denn je haben Bilder unter der Haut und zu manchen Subkulturen gehören sie dazu, wie der Kampfhund zum Punk. Als ich mir mein erstes Tattoo stechen ließ, musste ich meine Mutter noch um Erlaubnis bitten und um meine Karriere fürchten. Jetzt haben die meisten Menschen um mich herum eine Tätowierung, wenn auch nicht immer sichtbar.

Bild: Andrés Aragoneses (Instagram @aa.ttoo)

Andrés Aragoneses ist erst seit einem Jahr Teil der Berliner Tattoo-Szene. Trotz seiner jungen Karriere ist seine Haltung ist klar: „Tattoos zeigen auch die Verwundbarkeit des Menschen und vermitteln nach außen hin eine Message.“ Auf die Frage, was an einem Tattoo spirituell ist, antwortet er: „Spiritualität hat auch immer mit deinem Inneren, mit der Konfrontation mit Traumata zu tun. Tattoos machen dein Inneres zum Äußeren.“

Ähnlich sieht es Anna Zachariades, die schon lange kunstvolle Bilder unter die Haut von Menschen bringt. „Wenn die Menschen sich für ein Bild entscheiden, dann nicht ohne Grund. Was dir gefällt, hat auch damit zu tun, was gerade in dir vorgeht.“ Was so plausibel und simpel klingt, hat bei Tattoos einen besonderen Stellenwert. Was dich in einem Moment anspricht und in deine Haut gestochen wird, bleibt dort schließlich den Rest deines Lebens. Bauchentscheidungen können ins schwarze Treffen – aber auch daneben liegen. Zachariades gibt zu bedenken, dass das aber nicht für jeden gelten muss: „Für manche sind Tattoos einfach eine Verschönerung. Ich denke aber schon, dass es die Aufgabe des Tätowierers ist, den Leuten das auf den Weg mitzugeben, was zu ihnen passt: innen wie außen.“ Betrachtet man die Illustration und Tattoos der beiden, so sieht man in der Symbolik ein Nebeneinander von Mythologie, Tarot und Esoterik. Sie bringen die verschiedensten Einflüsse zusammen, ohne dabei auf Kultur- oder Zeitgrenzen zu achten. Das Internet liefert ihnen unendliche Quellen der

Foto: Anna Zachariades (Instagram @zachariades.tattoo)

Inspiration. Sind Tattoos deswegen schon spirituell, weil sie eine besondere Bildsprache sprechen? Oder gehört mehr dazu?

Der Prozess des Tätowierens selbst ist ein Ritual

Der intensive Schmerz, der unweigerlich mit dem Stechen eines Tattoos einhergeht, konfrontiert uns mit unserem eigenen Körper und unserem Geist. Ein Tattoo auszuhalten ist auch immer eine Frage der körperlichen Disposition. „Manche mögen den rituellen Aspekt [des Tätowierens], andere hadern mit dem Schmerz.“ Damit dieser Prozess so angenehm wie möglich gestaltet werden kann, ist besagtes Vertrauen und eine Beziehung zwischen dem Tätowierer und dem Tätowierten entscheidend. Diese persönliche Bindung wird ergänzt durch die emotionale Resonanz, die die Tätowierten mit den gewählten Motiven haben. Es lässt sich also kritisch fragen: Müssen Rituale immer fremd, also aus anderen Kulturen und so durch Zeit und Raum von uns getrennt sein?

Eine endgültige Antwort darauf kann es nicht geben: Tattoos sind allein durch den Prozess selbst schon ein Ritual. Sie erlauben den Menschen, auch in der westlichen Welt, sich zu bestimmten Gruppen zugehörig zu fühlen und sich so in ihrer sexuellen und kulturellen Identität über die gesellschaftliche Grenzen hinweg zu verbinden. Queere Tattoos, feministische Tattoos, politische Tattoos: Die Gegenwart gibt vielen die Möglichkeit, sich durch ihre Tätowierungen einer bestimmten Gruppe zu verschreiben. Die Zugehörigkeit zu einem postmodernen Stamm, einer Subkultur oder einer Wertegemeinschaft lässt sich auf den tätowierten Körpern einfach ablesen. Seit die Tattoo-Styles sich immer weiter auffächern, ist die Diversität an tätowierten Gruppen größer denn je.

Foto: Adam Koziol

Auf der einen Seite reist Adam Koziol um die halbe Welt, um Menschen zu fotografieren, die mit ihren Tattoos Traditionen bewahren. Zugleich hält der Diversifizierungstrend der Tattoo-Kultur durch das Internet stetig an. So bilden Tattoos in ihrer ganzen Verspieltheit die Projektionsfläche für gegenwärtige Sehnsucht nach Spiritualität und Individualität. Die Ahnen der Menschheit, die schon vor hunderten von Jahren mit Tattoos verziert wurden: Sie leben in uns allen weiter, ob wir uns dessen bewusst sind, oder nicht.

Mehr zum Thema Spiritualität findest du in unserem Kompendium: Business der Spiritualität