Nichts ist so kontrovers diskutiert wie Tierversuche in der Medizin. Autor und Forscher Michael Thelen überlegt, wie Aliens von einem fernen Planeten zu dieser Debatte stehen könnten.
Angenommen ein UFO mit außerirdischen Insassen landet zufällig direkt auf einer tierexperimentellen Abteilung eines in Deutschland angesiedelten Forschungsinstituts. Durch ihre überlegene Tarntechnologie haben diese die Möglichkeit, unbemerkt die Arbeit der Forscher rund um seltene genetische Krankheiten zu verfolgen. Sie beobachten, wie Wissenschaftler genetisch modifizierte Mäuse züchten um diese zu erforschen, zu verstehen und im Idealfall zu heilen. Oder aber wie gesunde Mäuse, Hasen, Schafe und Schweine als Versuchskontrollen ihr Dasein fristen. Was würden Aliens von den sich Ihnen darbietenden Szenarien halten.
Tierversuche sind ein moralisch kontroverses Thema in der heutigen Forschung. Sie erinnern uns an vergangene Zeitalter. Sie scheinen mit unserer Vorstellung zu vorhandenen innovativen technologischen Möglichkeiten unvereinbar. Tierversuche sind deswegen so kontrovers diskutiert, weil sie auch ohne jeglichen Wissensstand über das Für und Wider Emotionen auslösen. Der Anblick eines hilflosen Tieres im Käfig eines Forschungslabors wird Menschen mit einer gesunden Psyche immer traurig oder gar verzweifelt stimmen. Denn was klar ist: An einem Tier zu experimentieren, ist eine grausame Angelegenheit.
Vielleicht würden Aliens diese Grausamkeit aber auch ganzheitlich betrachten. Denn das zugefügte Leid durch einzelne Experimente kann größeres Leid auf dem Planeten lindern. Vielleicht würden sie sich aber auch dem Druck der Öffentlichkeit anschließen, der dazu beiträgt, Tierversuche mehr einzuschränken. Ist es überhaupt sinnvoll, am Tiermodell zu experimentieren? Sind tierische Organismen überhaupt geeignet, den menschlichen Körper zu imitieren? Aus Forschungssicht überwiegt die Ähnlichkeit. Weniger als 3 % des genetischen Codes unterscheiden Nager vom Menschen.
Einige Medikamente, die heute auf dem Markt sind, wären im Tierversuch gescheitert. Unter anderem Aspirin, Insulin und sogar das bahnbrechende Antibiotikum Penicillin zeigten bei Tieren keine oder negative Effekte. Aber ein medizinischer Versuch direkt am Patienten und die Risiken, die damit einhergehen, stehen für viele Forscher und Ärzte nicht im Verhältnis. Würden Aliens verstehen, warum man auf der Erde ohne Tierversuche in der heutigen Forschung nicht auskommt? Auch wenn die
Stammzellforschung, Human-on-a-Chip-Systeme und computerbasierte Simulationen auf dem Vormarsch sind, kann bisher keine dieser Methoden die Komplexität eines Organismus erfassen.
Trotz vieler Argumente, welche für das Verständnis von Tierexperimenten zählen, wäre die Forderung nachvollziehbar, Tierversuche unmittelbar zu beenden. Doch eine unreflektierte Entscheidung hätte nicht nur einen Stopp der Entwicklung und Zulassung neuartiger Behandlungen und Medikamente zur Folge, sondern könnte notwendige Grundlagenforschung gefährden. Würden die extraterrestrischen Besucher sich in einen Forscher hineinversetzen und einen Versuch starten, um den moralischen Antrieb der zur Diskussion gestellten Arbeit nachzuvollziehen?
Heutzutage ist Forschung ein moralischer Tanz auf Messers Schneide. Für den Forscher besteht die Kunst darin, nicht sein eigenes Wohl als physiologisch durchschnittlich gesunder Mensch als ethischen Kompass zu nutzen, sondern die Lebensqualität der Mitmenschen zu verbessern, welche unter dem gesundheitlichen Durchschnitt liegen. Das Leiden kranker und alter Mitmenschen sollte als Maß für die Rechtfertigung von Tierversuchen gesetzt werden. Oft vergisst der gesunde Mensch, dass für ihn selbst die Basis der medizinischen Versorgung bereits gesichert und erforscht wurde. Patienten, welche durch genetische Dispositionen, dem altersbedingten Verschleiß des Körpers, oder aber durch Krankheiten wie Diabetes, Parkinson und Krebs aus dem Raster fallen, benötigen spezifisch angepasste Therapien. Diese müssen erforscht oder optimiert werden, um betroffene Personen zu heilen oder ihr Leiden zu lindern.
Die Frage, welche sich jeder Forscher und auch die Aliens stellen müssen, ist: Sind die neu gewonnenen Erkenntnisse zur Leidreduktion von Mensch und Tier, welche aus Tierversuchen gewonnen werden, mehr wert als das unter Umständen erzeugte Leid der Labortiere?
In Deutschland werden Tierversuche strengstens reguliert, auf ihre Notwendigkeit geprüft und auch im laufenden Versuch kontrolliert. Das ethische 3R Prinzip steht für Replace (Vermeiden), Reduce (Verringern) und Refine (Verbessern). Dieses Prinzip wurde bereits 1959 durch die Forscher William Russel und Rex Burch geprägt und in „The Principles of Humane Experimental Technique“ veröffentlicht. In diesem werden Handlungsgrundsätze beschrieben, durch welche die Quantität der Versuchstiere und das Leid der Tiere auf ein Minimum reduziert werden können. Natürlich werden die Standards laufend mit voranschreitenden Technologien und neuartigen Methoden angepasst.
Alle genehmigten Tierversuchsvorhaben in Deutschland unterliegen diesen Grundsätzen und werden mehrmals während des Genehmigungsprozesses durch unterschiedliche Instanzen darauf geprüft. Der vom Forscher verfasste Antrag wird im Zuge dessen dem institutsinternen Tierschutzbeauftragten vorgelegt und von diesem kritisch hinterfragt. Mit möglichen Verbesserungsvorschlägen geht der Antrag dann zurück an den Forscher. Dieser überarbeitet den Versuch und sendet den Antrag an die zuständige Tierschutzkommission der Landesbehörde. Die Tierschutzkommission besteht aus Wissenschaftlern und Vertretern von Tierschutzorganisationen. Falls diese der Notwendigkeit des Versuches zustimmt und grünes Licht gibt, kann der Forscher mit der Arbeit beginnen.
Die Forschungsgemeinde und der Staat arbeiten demnach Hand in Hand, um Tierversuche soweit wie möglich ethisch vertretbar zu gestalten und auf ein Minimum der nötigen Versuchstiere zu beschränken.
Für komplexe Organe wie Leber, Niere, Knochen, das zentrale Nerven- oder Immunsystem und viele andere gibt es heutzutage noch keinerlei Alternativen, um diese in vitro oder in silico zu modellieren und zu erforschen. Die moderne Stammzellforschung oder auch die Zellkultur an sich bieten jedoch in einigen Fällen eine gute Alternative als äquivalenten Ersatz zu Tierversuchen, wie z.B. für initiale Toxizitätstestungen. Dabei können neuartige Moleküle, welche unter anderem in der Pharmaindustrie eingesetzt werden sollen auf ihre Schädlichkeit getestet werden.
Im Zuge dessen, werden Zellkulturen z.B. auf erhöhte Chromosomenaberrationen analysiert. Diese geben bedeutende Hinweise auf erbgutverändernde Eigenschaften der „Substance of Interest“. Jedoch spiegeln negative Ergebnisse die Realität nicht gänzlich wider. Um verlässliche Daten zu erhalten, müssen oft Modelle genutzt werden, welche näher am menschlichen Organismus sind als zweidimensionale Zellkulturen. Techniken, wie der von der Technischen Universität in Berlin entwickelte „Human-on-a-Chip“, bei welchem in einem geschlossenen System mehrere gewebsspezifische Zelltypen hintereinander geschaltet sind, sind vielversprechende Alternativen jedoch noch weit davon entfernt, die Komplexität eines Säugetier-Organismus darzustellen.
Ob Außerirdische diese Verfahren eher belächeln oder doch mit großer Anerkennung honorieren bleibt offen.
Die Reduktion und strenge Kontrollen von Tierversuchen sowie das Tierwohl stehen in der Forschungsgemeinde im Mittelpunkt. Jedoch ist der Stand des Wissenshorizontes noch nicht an dem Punkt, die Komplexität von höher entwickelten Organismen zu erfassen und vor allem auch nachzuahmen.
Ich hoffe, dass dieses moralische Experiment dem ein oder anderen Leser einen neuen Blickwinkel auf bisher unersetzliche Tierversuche in der medizinischen Forschung aufzeigt. Ich bin mir sicher, dass nach genügend langer Beobachtungszeit die fiktiven Besucher der Forschungseinrichtung erkennen würden, dass die scheinbare unethische Arbeit aus einem holistischen Blickwinkel gar nicht so unethisch und verwerflich ist. Nichtsdestotrotz würde ich mich freuen, wenn die Erforschung von Alternativmethoden mit einem höheren Forschungsetat versehen würde, damit die Entkopplung vom Tiermodell noch schneller als bisher voranschreiten kann.
In 2018 werden viele Erfolg versprechende Methoden und Ansätze entwickelt, um die zurzeit jährlich drei Millionen Versuchstiere deutschlandweit nach und nach aus der Wissenschaft abzulösen. Auch, wenn dieser Vorgang noch Jahrzehnte dauern wird, bin ich mir sicher, er wird kommen.
Als letztes moralisches Gedankenexperiment und beantwortet euch selbst die folgende Frage:
Falls ihr euch während des Lesens gefragt habt, warum der Autor Tierversuche in der Kosmetikindustrie ausgespart hat, kann ich nur sagen: Weil es hier wirklich alternative Kosmetikprodukte gibt, die tierversuchsfrei sind. Dafür muss kein Tier im Labor leben und sterben. Das würden auch die Aliens so unterschreiben.