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Foto: Thomas Kierok

Tokio Dreams: Von der Kunst des Träumens

Im endlosen Tokioter Nahverkehr ist es nicht unüblich, dass Menschen einfach einschlafen. Wovon träumen sie? Der Fotograf Thomas Kierok hat sie portraitiert.

Alle Menschen schlafen, aber jede Kultur schläft anders

Dass Schlaf etwas Kulturelles sein könnte, das dämmert uns erst seit kurzem. Auch wenn in westlichen Gesellschaften in der Regel acht Stunden Schlaf als ideal gelten, sind sie nicht das einzige Modell. Die südeuropäische Siesta stellt ein uns nahes Gegenbeispiel für einen anderen Umgang mit Schlaf dar. Wichtig ist, dass der Körper genug Ruhephasen bekommt, um unbewusste Prozesse in Gang zu setzen. Wenn wir schlafen, laufen viele kleine Prozesse ab. Das Immunsystem wird aktiv, das Gedächtnis strukturiert sich neu. Doch viele dieser Prozesse können wir auch in kurzen Schlafphasen bereits erreichen. So fand die NASA in Experimenten mit Astronauten heraus, dass ein Nickerchen das sogenannte Arbeitsgedächtnis stärkt. Dieser Teil des Gedächtnisses ist für das konzentrierte Ausführen von Aufgaben zuständig und hilft uns zugleich, die anderen Aufgaben im Hinterkopf zu behalten.

Die Kopfhörer dienen beim Metro-Schlaf als Barriere zur Außenwelt. Foto: Thomas Kierok

Das japanische Nickerchen: inemuri

In Japan ist es nicht unüblich, in öffentlichen Verkehrsmitteln zu schlafen. Wer schon mal in der Tokioter Metro stand, dem wird aufgefallen sein, wie ordentlich und leise es im Vergleich zu einer westeuropäischen Bahn zugeht. Die Menschen drängeln auch bei vollen Bahnen nicht, niemand spricht laut und es ist sogar in Ordnung beim Einnicken den Kopf auf der Schulter des Nachbarn ruhen zu lassen. Thomas Kierok widmet sich, fasziniert von dieser Praxis, in seiner Portraitserie „Tokio Dreams” den Menschen, die öffentlich schlafen. Mit dokumentarischer Genauigkeit zeigen seine Portraits einen Querschnitt durch die Gesellschaft der japanischen Hauptstadt. Über Generationengrenzen hinweg wird geschlafen: die einen dösen mit geradem Sitz, andere kippen richtig weg. Ein Pärchen liegt einander auf der Schulter. Viele haben Kopfhörer in den Ohren – als wollten sie sich von ihrer Umgebung abschotten. Andere halten mit geschlossenen Augen noch ihre Smartphones fest, wie eine Barriere gegen die Außenwelt. Thomas Kierok durchbricht diese Barriere mit seinen Bildern. „Acht Millionen Menschen fahren täglich in der Tokioter Metro”, sagt der Fotograf. „Dabei herrscht absolute Ruhe, Gelassenheit und Sauberkeit in dieser Enge.” Seine Bilder nähern sich den Menschen leise und lassen sie in ihrer Verwundbarkeit intakt. Sie sind bei weitem kein Akt des Voyeurismus. „Auch der Prozess des Fotografierens hat etwas Traumhaftes”, so Kierok.

Sind Nickerchen gesund?

Beim Nickerchen in der Metro kann nicht jeder so entspannen, dass der Schlaf die REM Phase erreicht. Foto: Thomas Kierok

Ob der kurze Schlaf gesund ist, hängt auch von der Qualität des Schlafes ab. Japanische Medien sind sich hier uneinig: So berichtet ein Artikel, dass die Qualität des Schlafes wichtig sei und eine Metro nicht der richtige Ort für Erholung. Im japanischen Wikipedia-Artikel zu diesem Thema finden sich auch nur westliche Quellen. Ist inemuri überhaupt eine japanische Eigenart? „Tatsächlich wird das Schlafen bereits im Kindesalter anerzogen und gerade in dieser Lebensphase prägen sich Schlafmuster ein”, sagte die Japanologin Hannah Janz. Weiter merkt sie an: „Ich kenne Menschen, die nur vier Stunden Schlaf pro Nacht benötigen”. Das sei leicht zu erklären, wenn man bedenkt, dass diese Menschen tagsüber kleine Einheiten von Schlaf haben und nachts somit weniger Schlaf notwendig ist. Eine andere Japanologin ist zur Koryphäe auf dem Gebiet geworden: Brigitte Steger hat sich in zwei Büchern mit dem Thema auseinandergesetzt. Ihre These: Japan gehört zu einer anderen Schlafkultur, die man auch in anderen Teilen Asiens und Ostasiens vorfindet. Sie unterscheidet sich von der „Monoschlafkultur” des Westens, dadurch, dass der Schlaf aufgeteilt wird. Wichtig sind die verschiedenen Phasen des Schlafes: Beim Nickerchen erreichen wir in der Regel nicht den Tiefschlaf, wohl aber die sogenannte REM-Phase. Hier verändert sich der Tonus von Muskeln und Skelett, wir erschlaffen bis hin zur Lähmung. Betrachtet man die Menschen in „Tokio Dreams”, die mit offenem Mund schlafen, bekommt man einen Eindruck von der Tiefe ihres Bewusstseinszustands.

Arbeitsethos und Druck machen die Menschen erfinderisch

Japanisch ist wahrscheinlich die einzige Sprache, die ein Wort für „Tod durch Überarbeitung” hat: karôshi. Das liegt zum einen an der einfachen Substantivbildung im Japanischen, das es, ähnlich dem Deutschen, erlaubt neue Wörter zu bilden. Aber der tragische Begriff stammt auch aus der harten japanischen Arbeitskultur: „Seht her, ich arbeite für Firma und Familie bis zur völligen Erschöpfung!” sei oft das Credo von japanischen Arbeitern, so Kierok. Entsprechend müsste der Schlafentzug, der durch Überstunden entsteht, nachgeholt werden. Zugleich steht das öffentliche Schlafen dann auch wie ein Statussymbol im sozialen Raum. Betrachtet man die Menschen aus Kieroks Serie, meint man ihnen die Müdigkeit anzusehen. Aber nicht alle sehen gestresst aus – sie wirken entspannt, trotz des Smartphones in der Hand.

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Eine andere, auch gängige Praxis, ist das sogenannte tanuki-neiri. Wörtlich lässt es sich als „sich schlafend stellen” übersetzen. So kann man sich sozialen Situationen, wie einem lästigen Gespräch in der Bahn, durch den vorgetäuschten Schlaf einfach entziehen. Zugleich beweist man, entsprechend des oben erwähnten japanischen Arbeitsethos, auch seinen Einsatz für Arbeit und Familie.

Das Aufwachen gelingt den meisten übrigens ziemlich leicht. So wachen die Schlafenden immer genau an der richtigen Haltestelle auf. Das Sounddesign der Tokioter Metro mag ihnen dabei zur Seite stehen, denn die meisten Stationen haben ihre eigene Melodie.