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Toxische Beziehungen – Modewort oder gesellschaftlicher Trend?

Bei Social Media liest und hört man immer wieder den Begriff „toxische Beziehung“. Wie aber, kann etwas Zwischenmenschliches toxisch, also giftig sein? Ist diese Bezeichnung passend für einen aktuellen Beziehungstrend oder eher eine mediale Modeerscheinung? Werden unsere Beziehungen wirklich immer giftiger oder hat sich unsere Wahrnehmung von Beziehungen einfach geändert? 

Toxisch ist altgriechisch: tò tóxon, „der Bogen“ und der Ausdruck toxikòn phármakon bezeichnete ursprünglich das Gift, in das Krieger ihre Pfeilspitzen tunkten, um ihre Feinde zu vergiften. Hatte Eros, der Gott der Liebe in der griechischen Mythologie, nicht auch immer Pfeil und Bogen dabei? Vielleicht wurde damals schon, zumindest in den Mythen, die toxischen Aspekte der Liebe mitgedacht. 

Bei der Beschreibung toxisch in Bezug auf Beziehungen, egal welcher Art, geht es um Verhaltensweisen zwischen zwei Menschen, welche für die Beziehung giftig sein können. Laut dem amerikanischen Lifestyle Magazin “Psychology Today” zeichnen sich toxische Beziehungen durch Unsicherheit, Kontrollsucht, Egoismus und vor allem herabwürdigenden Verhaltensweisen wie Kränkungen, Beleidigungen und Ignoranz aus. Diese können sowohl körperlich als auch psychisch geäußert und empfunden werden. Wenn in der Beziehung auch körperliche Gewalt ausgeübt wird, wird sie auch als destruktive Beziehung oder dysfunktionale Beziehung bezeichnet.

Hatte Eros, der Gott der Liebe in der griechischen Mythologie, nicht auch immer Pfeil und Bogen dabei? In dem Gemälde von William-Adolphe Bouguereau (1880) verteidigt sich ein junges Mädchen gegen Eros’ toxischen Liebespfeil. Bild: The Getty Center, Object 548.

Die drei Begriffe bedeuten im Kern genau dasselbe, nämlich, dass eine Beziehung zu nichts Positivem führt. Aber da hört es eigentlich schon auf. Denn eine klare Definition mit klaren Symptomen gibt es in der psychologischen Fachliteratur nicht. 

Toxische Beziehung – ein globalisiertes Internetphänomen? 

In diversen Foren zu dem Thema ist oft die Rede von einer gewissen Abhängigkeit, wie von einer Droge, die einen davon abhält, sich zu trennen und eigene Wege zu gehen. Immer dann, wenn der/die eine Partner*in das Gefühl hat, dass er oder sie sich trennen möchte, gibt der andere Mensch ganz viel, sodass die Kurve des Glücklich-seins immer wieder stark abfällt oder ansteigt.

Überhaupt zwischenmenschliche Interaktionen als etwas Giftiges zu bezeichnen, ist relativ neu und auch nicht so seriös, wie das sehr professionell klingende, griechische Wort suggerieren mag.

Der Begriff einer toxischen Beziehung wurde bereits 1972 von der American Academy of Psychotherapists genutzt und 1995 von der Autorin Dr. Lillian Glass in ihrem Buch Toxic People geprägt. Erst aber in der Ära des digitalen Clickbait-Journalismus erleben die toxischen Beziehungen in den Medien einen regelrechten Hype. Erst in den USA und dann natürlich auch im deutschsprachigen Raum. 

Angebliches Expertentum zum Thema toxische Beziehung lauert fast hinter jeder Ecke. Denn dieser Begriff ist so eingängig, dass jede*r meint, bereits mindestens eine solche Beziehung erlebt zu haben. Wir haben einen Experten gefragt, ob hinter dem klick-affinen Begriff eigentlich auch gesellschaftliche Substanz steckt. 

Sexualtherapeut und Diplom-Psychologe Umut C. Özdemir hat jahrelang an der Berliner Charité geforscht und gearbeitet und klärt heute über TikTok junge Menschen zu Sex und Beziehung auf. 

 

Im Gespräch über das Thema toxische Beziehung stellt er erstmal für uns klar, dass es keinerlei feste Definition gibt und auch keine äquivalente psychologische Diagnostik. Das ist prinzipiell für ihn auch das Tückischste an dem Begriff. Erstmal pathologisiert dieses Label. Ich finde dieses Label furchtbar – unter anderem auch, weil es auf Social Media oft im Zusammenhang mit psychischen Diagnosen erwähnt wird und Menschen als krankhaft dargestellt werden bzw. Menschen mit Diagnosen allgemein als „toxisch“ vorverurteilt werden”, sagt Özdemir.

Auch für die Beziehungsdynamik kann der Begriff schwierig werden, denn grundsätzlich kann in der Fülle an Informationen, die es über toxische Beziehungen gibt, theoretisch jeder sich selbst oder seine Partnerschaft wiedererkennen. “Schwierig wird es, wenn Menschen ihre Beziehung infrage stellen, nur weil beim Lesen eines Insta-Posts oder einer Zeitschrift die 10 Merkmale einer toxischen Beziehung irgendwie wiedererkannt wurden.”

Zwar kann es Anzeichen geben, dass eine Beziehung mehr Energie raubt, als sie gibt, genauso könnte man dieses Phänomen aber auch anders bezeichnen. Somit ist nicht jede Beziehung, die gerade mal nicht perfekt läuft, gleich toxisch. Genauso sollte aber auch nicht alles in Beziehungen akzeptiert werden. Was macht es also mit unseren Beziehungen, wenn dieses Label existiert? 

Mehr Thematisierung von Liebes-Beziehungen in den Medien ist eine gute Entwicklung

“Die Wortkombination toxische Beziehung ist allein sprachlich ein starkes Bild. Es ist durchaus denkbar, dass Menschen durch dieses Bild überhaupt ihre Beziehung hinterfragen und dadurch erst überhaupt ihr Leiden wahrnehmen.” Diesen positiven Aspekt des Trendwortes räumt Özdemir ein. Dem privaten Szenario einen Namen geben zu können, erleichtert vielen Menschen sich vor Augen zu führen, dass Machtspiele und Verletzungen nicht Teil einer gesunden  Beziehung sind, sondern eben für sie auf Dauer giftig sind. 

“Die Wortkombination toxische Beziehung ist allein sprachlich ein starkes Bild”, sagt Sexualtherapeut und Diplom-Psychologe Umut C. Özdemir. Bild: Claudio Rimmele

Erst seit 1997 ist in Deutschland die Vergewaltigung in der Ehe strafbar. Auch bei Gewalt in der Partnerschaft nimmt man an, dass viel mehr Taten zur Anzeige gebracht werden, als noch vor 30 Jahren. Leider ist gerade in diesem Bereich sowohl juristisch als auch psychologisch die Dunkelziffer der Betroffenen hoch. Umso wichtiger, beteuert Özdemir, sei die Präsenz des Beziehungsthemas in Medien und Öffentlichkeit. Selbst ein Insta-Post oder ein TikTok-Video kann einen wichtigen Beitrag leisten, um Menschen zu ermutigen, aus leidvollen Beziehungen auszubrechen. 

Sprache verharmlost bisher Beziehungsgewalt

In der deutschen Sprache gibt es einige Wortkombinationen, die Beziehungsprobleme bezeichnen und bisher oft eher verharmlosen. Zurecht weisen immer mehr Aktivist*innen darauf hin, dass wenn in der Presse von Familiendrama die Rede ist, wenn beispielsweise der  Ehemann seine ganze Familie ermordet, die Täterschaft sprachlich verschwindet. Auch die Kombination “häusliche Gewalt” ist ein Euphemismus, sagt zum Beispiel stellvertretende Chef-Redakteurin der Zeit, Sabine Rückert im Zeit-Verbrechen Podcast. Eine Wortkombination, die echte Verbrechen in eine angebliche Privatsphäre rückt, wo die Gesellschaft und der Staat lieber wegschauen sollten. Vielleicht ist toxische Beziehung keine psychologisch genaue Bezeichnung und sie hat definitiv auch in ihrer Pauschalität ihre Schattenseiten. Falls sie aber hilft, Beziehungsgewalt und Beziehungsleiden in die Öffentlichkeit zu rücken und vor allem die Betroffenen stärkt, sich Hilfe zu suchen, dann hat sie ihre Berechtigung. Daher sollte von einem Modewort nicht die Rede sein, sondern eher von einem Wandel der Gesellschaft, die langsam lernt, dass es wichtig ist, hinter die Fassaden der Privatsphäre zu schauen. Und da helfen, wo Hilfe gebraucht wird.