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Wenn ein Zwilling im Mutterleib verschwindet – Vanishing Twin Syndrom

Zwillinge verbindet eine ganz besondere Beziehung – sie teilen den Mutterleib und in seltenen Fällen auch ihre DNA. Doch was passiert mit all jenen Schwangerschaften, die mit zwei Föten beginnen und schließlich nur ein Kind hervorbringen? Der vorgeburtliche Verlust hinterlässt Spuren.

Silke* (*Name geändert) war 40 Jahre alt, als sie sich in den Mutterleib zurückversetzen ließ. Weltweit tobte die Pandemie und Silke befand sich mitten in einer Trennung. Den Schmerz erlebte sie unverhältnismäßig intensiv. Mit dem Wunsch, sich selbst besser kennenzulernen und ihre Trauer zu verstehen, besuchte sie Angelika Heinkel. Heinkel ist Heilpraktikerin für Psychotherapie. In ihren Sitzungen legt sie einen besonderen Fokus auf vorgeburtliche Erlebnisse und Traumata.

Auch Silke spürte eines Tages im Rahmen ihrer Therapie in den Mutterleib hinein. Mithilfe einiger Kissen und Decken stellte sie in Heinkels Praxis die Gebärmutter nach. Ganz spontan griff sie nach einem kuscheligen Teddybären, der sie begleiten sollte. „Damit ich nicht allein bin“, sagte sie ihrer Therapeutin. Dann ging alles ganz schnell. Auf Heinkels Fragen, ob sie eineiig oder zweieiig waren und ob es ein Junge oder Mädchen war, antwortete Silke ganz intuitiv: „Zweieiig, ein Junge.“ Die Informationen kamen einfach aus ihr heraus. Von jetzt auf gleich wusste sie, dass sie einen Zwillingsbruder hatte, der sie noch vor der Geburt verlassen hatte. Keine der Unterlagen aus der Schwangerschaft ihrer Mutter bestätigen Silkes Erkenntnis. Und doch spürt sie ihren verlorenen Zwilling mit absoluter Sicherheit.

Die existenzielle Todeserfahrung im Mutterleib

Wenn ein Zwilling im Mutterleib verschwindet und sein Geschwisterkind zurückbleibt, sprechen Mediziner*innen vom Vanishing Twin Syndrom. Häufig geht ein Fötus bereits vor der ersten Ultraschalluntersuchung ab, – so bleibt seine Existenz unbemerkt. Daher variieren auch die Zahlen der embryologischen Forschung zum Vanishing Twin Syndrom stark. Etwa 12-30 % Prozent aller Schwangerschaften beginnen demnach als Zwillings- oder Mehrlingsschwangerschaften. Doch nur etwa zwei bis fünf Prozent der Zwillingspaare überleben die Schwangerschaft gemeinsam.

Einer der Föten hört im Fall eines alleingeborenen Zwillings einfach auf, zu wachsen, meist aufgrund von Entwicklungsstörungen oder genetischen Veränderungen. Der Fötus des verstorbenen Zwillings geht durch eine Blutung ab oder wird von der Plazenta oder dem Fötus des überlebenden Zwillings absorbiert. Gelegentlich tauchen einige der mumifizierten Körperteile auch bei der Geburt auf – den Eltern wird das jedoch häufig verschwiegen.

Wenn ein Zwilling im Mutterleib verschwindet und sein Geschwisterkind zurückbleibt, sprechen Mediziner*innen vom Vanishing Twin Syndrom. Bild: Bundesarchiv via Wikicommons

Aus anekdotischen Erfahrungsberichten einiger Alleingeborener geht hervor: Betroffene können später unter unerklärlichen Emotionen wie Trauer und Einsamkeit leiden. Laut den behandelnden Heilpraktiker*innen für Trauma- oder Psychotherapie stellt das vorgeburtliche Phänomen des Vanishing Twin Syndrom ein traumatisches Erlebnis für Betroffene dar, das diese nachhaltig prägen kann. „Erfahrungen, die man vorgeburtlich oder als Säugling und Kleinkind macht, können nicht im Großhirn oder im reiferen Alter verarbeitet werden“, sagt Dr. Ludwig Janus, psychoanalytischer Psychotherapeut aus Dossenheim. Als Pränatalpsychologe beschäftigt er sich mit vorgeburtlichen Erlebnissen. „Zu dem Zeitpunkt haben wir nur ein Eindrucksgedächtnis: das prozedurale Gedächtnis.“ Mit diesem prozeduralen Gedächtnis speichern wir Erinnerungen ab, ohne sie zu reflektieren. Rein existenziell macht ein allein geborener Zwilling auf diese Weise eine Todeserfahrung, die ihn nachhaltig prägen kann.

Können Betroffene über ihr Körpergedächtnis auf das pränatal Erlebte zugreifen?

Alleingeborene erleben den vorgeburtlichen Verlust zunächst als Eindruck in einem vorsprachlichen Setting – sprachlich kann er nicht verarbeitet werden. „Die psychologische Psychotherapie setzt methodisch bei der Entwicklung der Sprache an“, sagt Heinkel, die für ihre Patient*innen eine andere therapeutische Methode nutzt. Heilpraktiker*innen sind, anders als approbierte Therapeut*innen, in der Wahl der Therapiemethoden frei. Die angewandte Therapiemethode muss nicht wissenschaftlich anerkannt sein. Auch die Körperregression ist keine wissenschaftlich validierte Methode.

Betroffene vom Vanishing Twin Syndrom leiden später häufig unter unerklärlichen Emotionen wie Trauer und Einsamkeit. Bild: Milada Vigerova

„Alle Erinnerungen sind im Körpergedächtnis gespeichert. Über den Körper, das Körperempfinden und die -wahrnehmung können wir diese erinnern.“ Das geschieht mithilfe einer Körperregression. Hierbei begleitet Heinkel ihre Patient*innen zu vergangenen Erlebnissen, indem sie die Körperwahrnehmungen möglichst genau spüren lässt und zugleich dazu einlädt, aufsteigenden inneren Bildern und Gefühlen Raum zu geben. „So ist es möglich, in Kontakt mit unbewussten Gefühlen wie beispielsweise Schmerz, Schock und Einsamkeit zu kommen, die im Zusammenhang mit dem Verlust stehen“, sagt Heinkel.

Die psychologischen Auswirkungen des vorgeburtlichen Verlusts

Anfangs wollte Silke selbst nicht glauben, dass sie einen Zwilling hatte. Doch als sie sich mithilfe von Fachbüchern und Erfahrungsberichten ins Thema einlas, fand sie sich selbst, ihre Gedanken und Gefühle wieder. In den folgenden Wochen und Monaten bearbeitete sie aktiv die Trauer um ihren Zwillingsbruder. Sie weinte, malte, schrieb einen Abschiedsbrief und schenkte ihrem Zwilling ganz bewusst Raum in ihrem Leben. Ein kleiner Teddybär und selbstgemalte Bilder erinnern sie heute auch in den eigenen vier Wänden an ihren Bruder.

Auf die Trauer folgte Erleichterung. Endlich wusste Silke, wieso sie sich in partnerschaftlichen Beziehungen stets nach symbiotischer Nähe gesehnt hatte und warum ihr die Trennung so schwergefallen war. „Es war nicht nur der Trennungsschmerz von meinem Partner, sondern viel mehr“, sagt sie rückblickend. Mit dem Ende ihrer Beziehung durchlebte sie erneut den Verlust ihres Zwillings.

Für die Heilpraktikerin Heinkel ist dieses Verhaltensmuster als Symptom des pränatalen Zwillingsverlusts geläufig: „Man unterscheidet zwischen dem ‚Fluchtzwilling‘, der Angst vor Nähe hat, weil das zu bedrohlich erlebt wird, und dem ‚Schmelzzwilling‘, der mit dem*der Partner*in dauerhaft und tief verschmelzen möchte.“ Sie nennt eine ganze Reihe psychologischer Folgen des pränatalen Zwillingsverlusts. Unter anderem erleben Betroffene demnach ein Gefühl grundlegender, unerklärlicher Traurigkeit und Einsamkeit sowie starke Schuldgefühle und neigen zur Wahl von Partner*innen, die nicht zur Verfügung stehen – so wiederholt sich der vorgeburtlich erlebte Verlust immer wieder.

Erkenntnis, Akzeptanz, Abschied

Ein Schmetterlingsbäumchen in Katrins Garten erinnert an ihre Zwillingsschwester. „Ich habe immer eine unerklärliche Traurigkeit gespürt, so ein Allein- und Verlassen-Sein“, sagt Katrin. Auch sie wollte sich mit 31 Jahren in den Mutterleib zurückversetzen lassen. Nachdem sie Mal um Mal abbrach, weil die Vorstellung sie gruselte, stieg in Katrin eine Vermutung auf: Sie konnte im Mutterleib nicht allein gewesen sein.

Katrin begann zu recherchieren und inhalierte jede Information, die sie finden konnte. In Fachbüchern entdeckte sie ihre eigenen Symptome, – niedergeschrieben von Expert*innen und Betroffenen. Ihre eigene Gewissheit festigte sich immer mehr: Sie hatte eine Zwillingsschwester, die bereits vor der Geburt gestorben war. Katrin war zunächst erleichtert, – schließlich hatte sie die Wurzel ihrer Symptome gefunden. Doch bald begann auch für sie ein Prozess tiefer Trauer. Ihren nächsten Geburtstag richtete sie für sich und ihre Schwester aus. Auf Zwillingstreffen versuchte sie, die Beziehung zu verstehen, die Menschen verbindet, die den Mutterleib geteilt haben. Im Krankenhaus erkundigte sich Katrin nach ihrer verstorbenen Schwester. Aber nach mehr als 30 Jahren konnte ihr niemand mehr Auskunft erteilen. Bald gab Katrin ihrem Zwilling einen Namen: Michelle. Im Garten unter dem Schmetterlingsbäumchen führte Kathrin schließlich eine Beerdigungszeremonie durch.

Katrin war sich ihres verlorenen Zwillings längst sicher, als sie ihre Eltern vorsichtig konfrontierte. Was sie aus der Schwangerschaft ihrer Mutter erfuhr, bekräftigte sie in ihrer Identität als Alleingeborene: Lange Zeit war der behandelnde Arzt ihrer Mutter von einer Zwillingsschwangerschaft ausgegangen. Im sechsten Monat sagte er dann, er habe sich geirrt, es handele sich wohl doch lediglich um einen Fötus. Ultraschall-Untersuchungen gab es keine.

Alles nur Humbug?

Katrin und Silke haben keine Belege für ihren pränatalen Verlust. Auf dem Papier gab es ihre Zwillinge nie. Der eine verschwand, noch bevor er wahrgenommen werden konnte. Die andere wurde als Irrtum abgetan, nachdem ihr Fötus aufgehört hatte, sich zu entwickeln. Doch Katrin und Silke sind sich nach ihren Rückführungen sicher: Sie sind alleingeborene Zwillinge und tragen den pränatalen Verlust in all seinen Konsequenzen seit jeher mit sich herum. Katrin geht sogar davon aus, dass sie und ihre Schwester eineiige Zwillinge waren. Aber weder die angewandte Methode der Körperregression noch die psychologischen Symptome, die Betroffenen des Vanishing Twin Syndroms zugeschrieben werden, fundieren auf wissenschaftlichen Erkenntnissen. Den psychologischen Auswirkungen des pränatalen Verlusts fehlt es an soliden Studien.

Den ungeborenen Zwilling gibt es auf dem Papier nicht. Betroffene des Vanishing Twin Syndroms haben deshalb für ihre Verluste meistens keinerlei Belege. Das könnte sich durch neue Forschung aber bald ändern. Bild: Aditya Romansa

Neue DNA-Forschung ermöglichen Studien zu dem Syndrom

Das könnte sich bald ändern, – zumindest eineiige Zwillinge können ihren pränatalen Verlust in Zukunft beweisen und damit zu einer verbesserten Studienlage beitragen. Denn vor Kurzem haben Forscher*innen eine Markierung entdeckt, die sich auf der DNA eineiiger Zwillinge befindet. Mit einem entsprechenden Test könnten Betroffene herausfinden, ob sie einen eineiigen Zwilling hatten, der vor der Geburt abging. Ein solcher Gen-Test stellt eine wichtige Chance für Alleingeborene dar, die ihren pränatalen Verlust zwar vermuten, jedoch keinerlei Belege dafür finden. Denn das Bewusstsein um den verlorenen Zwilling kann Erleichterung und neue Lebenskraft hervorbringen.

Der DNA-Marker könnte auch die pränatalpsychologische Forschung voranbringen, – könnte man eine breitere Masse von Betroffenen identifizieren, könnten psychologische Auswirkungen eines vorgeburtlichen Verlusts weiter untersucht werden. Die Folgen des Vanishing Twin Syndrom könnten gar als psychische Störung mit eigener Klassifikation anerkannt oder in der psychologischen Psychotherapie doch zumindest (fundierter) behandelt werden. Denn momentan gilt das Thema in der psychologischen Psychotherapie laut dem Pränatalpsychologen Janus als Humbug: „Die Pränatalpsychologie ist der einzige Wissenschaftsbereich, in dem die Auswirkungen des pränatalen Zwillingsverlusts erforscht und gewürdigt werden. In der gesamten übrigen Psychotherapie hält man das alles für Fantasien.“ Die negative Haltung scheint einen gesamtgesellschaftlichen Konsens widerzuspiegeln, den auch Betroffene immer wieder zu spüren bekommen. Katrin führt seit zehn Jahren einen Blog über den pränatalen Zwillingsverlust und kommt so in Kontakt mit Betroffenen. Viele schildern ihr das mangelnde Verständnis, das sie erleben. „Du warst doch noch so winzig klein, das kann ja keine Auswirkungen auf dich haben“, kriegen sie zu hören.

Ob Humbug oder nicht: Ein Umdenken ist dringend notwendig. Auf Blogs und in Selbsthilfegruppen tummeln sich Betroffene, die unter ihrem pränatalen Verlust leiden, – mit und ohne Beweisen. Ihr Schmerz zeigt sich in diesen Safer Spaces ganz offen und macht deutlich: Die Wissenschaft ist ihnen Antworten und Behandlungsmethoden schuldig. Auch weil der pränatale Verlust in den nächsten Jahren immer relevanter werden könnte.

Die Zwillingsraten steigen in Deutschland seit den 1980ern stetig. 1977 war jedes 56. Neugeborene ein Mehrlingskind, 2019 schon jedes 27. Das liegt einerseits am Altersdurchschnitt der Mütter zur Zeit der Geburt, – der wird höher und fördert Zwillingsschwangerschaften, von denen einige mit einem alleingeborenen Kind enden. Die moderne Reproduktionsmedizin tut ihr Übriges: Bei der künstlichen Befruchtung durch In-vitro-Fertilisation werden häufig direkt mehrere befruchtete Embryonen in die Gebärmutter eingepflanzt.

Zugespitzt könnte man sagen: Wir steuern auf eine ganze Generation von Zwillingen und Alleingeborenen zu. Je höher die Zahl der pränatalen Zwillingsverluste, desto höher die Zahl potenziell Betroffener der psychologischen Auswirkungen. Es braucht ein gesellschaftliches Bewusstsein und mehr fundierte psychotherapeutische Ansätze für den Umgang mit dem vorgeburtlichen Verlust. Damit all jene, die an ihre Identität als Alleingeborene glauben, Gewissheit erlangen. Und jene, deren Existenz tatsächlich zu zweit begann und sich allein fortsetzte, heilen können – von der Trauer, Einsamkeit und ihren selbstsabotierenden Beziehungsmustern.

*Name geändert