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Wie Nacktselfies bei Jugendlichen zur sozialen Währung werden

Um im digitalen Raum ‘social’ zu sein, muss man visuell was zu bieten haben. Dabei werden Nutzer*innen immer jünger und die Hüllen fallen immer früher. Objektifizieren wir unsere Körper schon in der Jugend zur tauschbaren Ware?

„Ich weiß, dass eure Generation sich auf Blumen und eine väterliche Erlaubnis verlassen hat, aber wir schreiben das Jahr 2019 und (…) Nacktbilder sind die Währung der Liebe,“ propagiert Rue, Hauptfigur der HBO-Erfolgsserie ‘Euphoria’, im zynisch-abgestumpften Voiceover.

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Teenie-Shootingstar Zendaya mimt die 17-jährige Schülerin, die irgendwo zwischen Drogenabhängigkeit, Depression und Familiendrama nach Liebe und so etwas wie ‘Normalität’ sucht. Die Serie zeichnet das drastische Bild einer Generation, deren Jugend sich zum Großteil im Netz abspielt. Sie gelangen durch Chatrooms an illegale Drogen und werden in Bitcoin bezahlt, um als minderjährige Cam-Models zu arbeiten. Sie nutzen Dating-Apps, um sich mit Fremden zum Sex zu treffen und inszenieren ihre Körper in Nackt-Shootings, um für neue Lover begehrenswert (und volljährig) zu wirken.

Nackte Tatsachen

Diese Welt ist ein beängstigender Ort, nicht nur für Teenager. Auch wenn Übertreibung hier ein bewusstes Stilmittel der Geschichte darstellt, denke ich an meine Teenagerzeit zurück: Nacktselfies? – Ich war froh, dass mein altes HTC Handy überhaupt einen Touchscreen hatte. In gestreiften Boxershorts verpixelte Bilder vor meinem Ikea-Wellenspiegel aufzunehmen, kam mir damals nicht in den Sinn. Zum Glück.

„Haste auch XXX-Pics?“, diese Frage begegnete dann aber auch mir, irgendwann im Herbst 2014. Das Interface der Datingseite hatte ein angestaubtes 2000er-Blau, das sich dringend nach einem Facelift sehnte und der unbekannte Fragende schickte mir kurze Zeit später ohne jegliche Aufforderung ein schlecht ausgeleuchtetes Close-up seines Penis. Und egal was darauf folgte, im Vergleich zur schockierenden Teenie-Realität aus ‘Euphoria’ hat meine Geschichte einen entscheidenden Unterschied: Ich war bereits 22 Jahre alt und nicht 17, – oder gar 12!

Sind Nacktselfies unter Teenagern tatsächlich Alltag?

Sind Nacktselfies unter Teenagern tatsächlich Alltag? Bild: Igor Starkov

Zeig mir deins, ich zeig dir meins!

Die Markteinführung von Smartphones, insbesondere die des iPhone 4 im Jahr 2010, änderte die Art und Weise, wie wir Bilder sehen, aufnehmen und miteinander teilen. Durch die Frontkamera wurden Smartphone-Selbstporträts regelrecht zum Kinderspiel. Das ‘Selfie’ eröffnete uns neue Möglichkeiten zu experimentieren, – ohne den Weg zum nächsten Drogeriemarkt für eine Rolle Fotos auf uns zu nehmen.

So ein Bild war schnell gemacht und schnell gelöscht. Das hat Suchtpotenzial. Genauso schnell fanden die Schnappschüsse dann ihren Weg auf eine der Dutzenden sozialen Plattformen, die ungefähr zum gleichen Zeitpunkt die Welt eroberten: #selfie, #filter, #me, #like. Spezielle Fotosharing-Plattformen, wie Instagram, Snapchat und Tumblr veränderten im Verlauf des letzten Jahrzehnts die Art und Weise, wie wir unsere Leben dokumentieren, archivieren und inszenieren. Über 1 Mrd. Menschen nutzen allein Instagram weltweit, davon über 21 Mio. Nutzer*innen in Deutschland – ein nie da gewesener Einfluss.

Während Millennials wie ich irgendwo in ihren Zwanzigern lernen mussten, mithilfe ihres Werte-, und Identitätskompass durch die Theater-Performance des eigenen Instagram-Feeds zu navigieren, kennen Gen Z-Teenager ein Leben ohne Social-Media nicht einmal. 73 % der 12-13-jährigen Kinder und Jugendliche in Deutschland besitzen ein Smartphone, 80-90 % davon nutzen Messenger wie Whatsapp. Instagram und TikTok folgen dicht danach. Diese digitale Kindheit verändert die Art und Weise, wie Jugendliche mit experimentellen Bildern ihrer selbst umgehen. Längst bleibt es nicht mehr bei der Nostalgie des aufreizenden Polaroids im Spind des Freundes. Ist die drastische Fiktion ‘Euphorias’ doch nicht so weit hergeholt?

73 % der 12-13-jährigen Kinder und Jugendliche in Deutschland besitzen ein Smartphone.Ist die drastische Fiktion ‘Euphorias’ doch nicht so weit hergeholt? Bild: Fauxels

Eine britische Studie, die im Journal of Gender Studies veröffentlicht wurde, untersuchte den Missbrauch des digitalen Austauschs sexueller Bilder unter Jugendlichen im Alter von 12 bis 16 Jahren. Die Studie kam zu dem erschreckenden Ergebnis, wie normalisiert der Missbrauch sexueller Inhalte von Altersgenossen unter Jugendlichen ist. Die Studie differenzierte dabei drei verschiedene Praktiken: 1. Das Einfordern von Nacktbildern durch aggressives Sexting, 2. ungewollt Nacktbilder verschicken, um im Gegenzug Nacktbilder zu erhalten und 3. die Nacktbilder anderer ungewollt weiterzuverbreiten.

Auffällig dabei – aber traurigerweise wenig überraschend – ist, dass die initiierenden Handlungen und der darauf folgende Missbrauch jedes Mal von männlichen* Jugendlichen ausgingen. Die Nacktbilder junger Mädchen* fungierten innerhalb ihres „homosozialen Gruppengefüges“ wie eine Währung, die in die Wahrnehmung ihrer Männlichkeit einzahle. „Kerle fragen nach Nacktbildern, nur damit sie ihren Freunden zeigen können: Ich habe dieses Mädchen dazu gebracht, das zu tun und es mir zu schicken, ich bin krass, oder?“, erklärt ein Teilnehmer namens James.

Laut einer britischen Studie geht der Missbrauch des digitalen Austauschs sexueller Bilder unter Jugendlichen immer von männlichen Jugendlichen aus.  Bild: Joel Mott

Mädchen* wiederum erfahren für ähnliches Verhalten oder allein für die Kooperation dauerhafte Stigmatisierung, falls die Bilder in Umlauf geraten: „Grace: Für Jungs ist es wie eine Trophäe, für Mädchen ist es eine Schande, sie zu teilen.“, „Lucy: Unser Freund hat ein Nacktfoto verschickt, und das ging in der ganzen Schule herum“, „Grace: Es wurde überall geteilt und jetzt kennt sie so ziemlich jeder, und wenn man sie nie getroffen hat, heißt es nur ‘das Mädchen mit dem Nacktbild.’“

– Sorry Rue, aber das klingt nicht gerade nach der „Währung der Liebe”.

Und die sexuelle Belästigung junger Frauen* durch Nacktfotos bleibt kein allein britisches Phänomen: Der Spiegel berichtete von der 13-jährigen Anna, die aufgrund eines Nacktbildes, das ihr damaliger Freund verbreitete, die Schule wechseln musste. In den USA machte bereits 2014 ein Fall Furore, als Dutzende Nacktselfies junger Mädchen* auf einem mysteriösen Instagram-Kanal auftauchten. Die Fotos seien im Vorhinein von einigen männlichen Mitschülern gesammelt und hochgeladen worden sein. Während Jungs* in meiner Schulzeit ‘Pokémon’ und ‘Magic’ Karten tauschten, werden heute also Nacktselfies von Mädchen* als Tauschware hin und her geschickt?

Während Jungs* früher ‘Pokémon’ und ‘Magic’ Karten austauschten, werden heute Nacktselfies von Mädchen* als Tauschware hin und her geschickt. Bild: Charles Deluvio

Der Rausch der Gruppe

Ein Blick in die Psyche von Teenagern verdeutlicht, warum dieses abstruse Horror-Szenario gar nicht so verwunderlich ist: In der Pubertät entwickeln wir eine neuartige Bewusstseinsebene: Wir werden uns unserer selbst bewusst und wie die Außenwelt uns beobachtet und beurteilt, beschreibt Professorin Leah H. Somerville vom Department of Psychology der Universität Harvard in “The Teenage Brain”. Teenager fühlten sich regelrecht verfolgt und würden sich permanent einbilden, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen.

Dieser Zustand unterstütze das Verlangen junger Menschen, noch stärker als dies bei Erwachsenen der Fall sei, von ihren Altersgenossen Wertschätzung und Zugehörigkeit erfahren zu wollen. Teenager erfahren zum ersten Mal den Rausch dieser sozialen Währung, die ihr Selbstbewusstseins-Konto auffüllt. Deshalb gehe das pubertierende Gehirn für das Glücksgefühl ‘dazuzugehören’ schneller Risiken ein, auch wenn dafür Werte und Ethik über Bord geworfen werden.

„Wenn ich das Bild nicht mache, mag er mich dann noch?“ – „Wenn ich das Bild nicht meinen Jungs zeige, bin ich dann noch cool?“

Doch die Teenie-Eigenheit, die Wahrnehmung anderer überzubewerten, macht das ungewollte Weiterverbreiten von Nacktfotos online – auch für Erwachsene mehr als unangenehm – für Jugendliche zum Höllentrip.

Das Perfide dieses Tauschhandels ist, dass misogyne und patriarchalische Machtstrukturen hier bereits in jungen Jahren reproduziert und verinnerlicht werden. Mädchen* müssen das viel zu oft buchstäblich am eigenen Leib erfahren.

„Wie eine Kuh, wenn’s donnert.“

Schon der Besitz eines solchen Bildes sei nicht erlaubt, erklärt Gesa Stückmann, Anwältin für Cybermobbing und Sexting, im Spiegelinterview, geschweige denn die Weiterverbreitung. Aber die rechtliche Unwissenheit vieler Erwachsener über das Onlineleben ihrer Kinder erstaune sie immer wieder. Wenige haben zum Beispiel nie gehört, dass Kinder unter 16 WhatsApp eigentlich nur mit ihrer Zustimmung benutzen dürfen. Wenn sie Eltern darüber aufkläre, säßen die oft erschrocken da „wie eine Kuh, wenn’s donnert”.

Das Internet ist für uns alle Neuland,” scheint – immer noch – die Reaktion vieler Eltern und Pädagog*innen auf die digitale Welt der Kinder zu sein. Aber die harte Realität vieler Jugendlicher sollte den Pioniergeist mancher beschleunigen: Laut KIM-Studie 2020 haben vier Prozent der Kinder zwischen sechs und 13 Jahren online schon einmal ‘Cybergrooming’ erlebt – damit wird der Versuch sexuellen Missbrauchs über das Internet beschrieben. Bei Mädchen* liegt die Anzahl um einige Prozentpunkte höher.

Übermäßige Kontrolle und panische Verbote stellen jedoch keine nachhaltige Lösung dar. „Wichtig ist, dass Eltern an der Online-Kommunikation ihres Kindes Interesse zeigen (…) und signalisieren, dass es sich bei Problemen jederzeit an sie wenden kann,” schreibt der Medienratgeber ‘Schau hin!

Laut KIM-Studie 2020 haben vier Prozent der Kinder zwischen sechs und 13 Jahren online schon einmal ‘Cybergrooming’ erlebt – damit wird der Versuch sexuellen Missbrauchs über das Internet beschrieben. Bei Mädchen* liegt die Anzahl um einige Prozentpunkte höher. Bild: Hannah Xu

Toxische Muster durchbrechen

„Teenager werden in eine Sexualkultur hineingezogen, die auf einer schädlichen Prämisse beruht,” schreibt die Psychologin Lisa Damour in der New York Times. „Auf dem heterosexuellen Spielfeld spielen Jungen in der Regel die Offensive und Mädchen die Defensive.” Das Problem seien nicht Nacktbilder, sondern der sexualisierte Machtmissbrauch durch Männer*, der sie umgebe.

Insbesondere die Coronapandemie und die damit verbundene Einsamkeit vieler Jugendlicher verstärke diese Dynamiken zusätzlich. Sexting nehme explizitere Formen an als üblich, beschreibt Shafia Zaloom, da sich viele Schüler*innen über lange Zeiträume nicht physisch sehen könnten. „Es fühlt sich einfach gut an, zu wissen, dass die Leute mich nicht vergessen haben,“ erklärt eine junge Studentin der Sexualpädagogin.

Während wir die sexuelle Machtdynamik zwischen erwachsenen Männern* und Frauen* zunehmend hinterfragen und neu ausloten, werden Teenager zu wenig in diesen Diskurs mit einbezogen. Dabei setzen sie in gleicher Weise die Weichen dafür, wie unsere Gesellschaft in Zukunft ihre Sexualität und Körperlichkeit aushandelt.

„Ich verbiete dir, Nacktbilder zu machen!“ – wäre Jugendlichen durch solche Aussagen geholfen? Den eigenen Körper und dessen Erforschung bereits in jungen Jahren als schambehafteten Fehler zu konnotieren, wirkt in gleicher Weise toxisch wie junge Männer*, die sich für den Missbrauch von Nacktbildern gegenseitig auf die Schulter klopfen. Welche Beziehung sollten wir in Zukunft zu Aufnahmen unseres nackten Körpers haben?

Hüllenlose Selbstfindung

Jugendlichen zu verbieten, Nacktfotos zu machenen und den eigenen Körper und dessen Erforschung bereits in jungen Jahren als schambehafteten Fehler zu konnotieren, ist genauso toxisch wie junge Männer*, die sich für den Missbrauch von Nacktbildern gegenseitig auf die Schulter klopfen. Bild: Szabolcs Toth

Den eigenen, unbedeckten Körper zu fotografieren, ist ein persönlicher Akt – angsteinflößend wie befähigend. Das Foto kann als Instrument dienen, um ein Bewusstsein für das eigene Selbst zu entwickeln oder um die eigene Selbstverwirklichung zu dokumentieren. Egal ob dabei eine Veränderung feststellbar ist, oder man schlichtweg Foto für Foto lernt, sich so zu akzeptieren, wie man ist. Doch sollte es aus eigenem Impuls entstehen, nicht durch Druck von außen, nicht für ein paar Likes und schon gar nicht durch ein unaufgefordertes Schwanzbild.

Eine Zukunft, in der Abbildungen nackter Körper eine Tauschware darstellen, durch die insbesondere Männer* in ihrem sozialen Gefüge ihr Ego polieren, ist beängstigend und abstoßend. Eine Zukunft, in der wir durch (private) Aufnahmen unseres nackten Körpers Selbstreflexion und Selbstakzeptanz stärken, ist eine Chance.

Rue, vielleicht sind Nacktselfies tatsächlich die Währung der Liebe, – der Selbstliebe.

Denn kein positiver Zuspruch anderer wird jemals so viel wert sein, wie einen wohlwollenden Blick auf sich selbst zu werfen und dabei zu denken:

„Siehst du gut aus!“