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In Zukunft ist Schönheit genderneutral – Drag Artist HUNGRY im Interview

Wenn man die Maximen der Schönheit durch die Jahrhunderte und in verschiedenen Kulturen vergleicht, wird schnell klar, dass es für Schönheit kein festgelegtes Ideal gibt. Von kurvig, zu mager, durchtrainiert oder aufgespritzt - perfekt schön wird immer wieder neu definiert. Im Gespräch mit dem Berliner Drag-Performer und Visual-Artist HUNGRY haben wir versucht, einen Blick in die Zukunft von Schönheitsnormen zu werfen.

Ich treffe Johannes, aka HUNGRY, in Kreuzberg auf einen Dreh für ein neues Video-Projekt. Seit längerem möchte ich mit ihm über Schönheitsnormen der Zukunft diskutieren. Denn der junge Künstler aus Berlin ist das beste Beispiel dafür, dass unsere Wahrnehmung von Schönheit nicht daran gekoppelt sein muss, was wir zu sehen gewohnt sind. Die Vielfalt seiner originellen Kreationen und Make-Up-Designs kann man auf Instagram entdecken, wo er bereits über 220.000 Follower hat. Nichts von seinen 100 Gesichtern ist typisch „hübsch” oder feminin und trotzdem sind sie alle atemberaubend schön. Er selber würde seinen Stil eher als „absurd” oder „bizarr” bezeichnen. Doch reagieren die meisten Menschen mit anderen Worten: „Du bist so hübsch!” sei die häufigste Reaktion seiner Bewunderer, erzählt HUNGRY erstaunt. Gerade, weil seine Kunst sowohl aus dem Konzept des üblichen Drags, als auch aus jeder Schönheitsnorm fällt, ist HUNGRY im letzten Jahr ins internationale Rampenlicht gerückt. Seine Schönheit ist nicht von dieser Welt und damit zieht er jede*n in seinen Bann.

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Die Kunstform des Drags: Dekonstruktion von tradierten Geschlechterrollen

Dabei begann für den jungen Modedesign-Studenten seine Drag-Karriere eher zufällig und ungeplant. 2014 entdeckte er Berlins wilde, alternative Drag-Szene als reine Spielwiese für seine Kreativität. Die häufig von queeren Männern betriebene Kunstform, versucht Geschlechterrollen durch künstlerischen Ausdruck und Performance zu dekonstruieren. Diese performative Darstellung zelebriert jedoch häufig eine sehr glamouröse Femininität. Eine Form des „Beauty Drags”, in dem sich HUNGRY nie wiedergefunden hat.

Auf der Suche nach seiner eigenen Interpretation dieser kreativen Ausdrucksform entwickelte er sein eigenes Genre des „Distorted Drags” („Entstellter Drag”), das sich über Gender-Konstruktion, Schönheitsnormen oder einen generellen Realitätsbezug hinwegsetzt. „Ich hab’ mir eine Nische in der Nische gesucht”, erzählt er. „Meine Arbeit ist eine rein visuelle Arbeit. Es ist nichts Politisches. Da halte ich mich raus. Aber ich bin Teil der ganzen Bewegung, weil ich gender-neutral arbeite.”

2014 entdeckte HUNGRY Berlins wilde, alternative Drag-Szene als Spielwiese für seine Kreativität. Foto: Frank Schröder

Augen wie Orchideen: Die Ästhetik der Natur

Gender-neutral bedeutet, dass seine Kreationen weder männlich noch eindeutig weiblich sind. Auch er selbst gibt seinem Alter Ego HUNGRY kein klares Geschlecht. Er erschafft ein überirdisches Wesen, das für einen kurzen Moment auf der Bühne oder in einem Fotoshooting zum Leben erwacht – unmenschlich und trotzdem schön. Doch warum finden wir dieses Wesen anziehend und nicht abschreckend? „Ich übernehme gerne Formen und Farbschemen aus der Natur, von Pflanzen und Blumen”, erzählt HUNGRY, als wir ihn nach seinen Inspirationen fragen. Egal, ob das Wesen nun eine Orchidee als Nase trägt, vier anstatt zwei Augen hat oder ein viktorianisches Kleid trägt, HUNGRY ist nicht ‘gewöhnlich’, jedoch für seine Follower schön und ästhetisch.

Digitale Aufmerksamkeit durch perfekte Illusionen

Zu Beginn seiner Karriere ging es ihm viel um Künstlichkeit. „Ich hab’ mir früher viele Sachen aufs Gesicht geklebt”, erzählt er. „Es ging mir um glaubwürdige Illusionen. Eine Art Illustration des Gesichts. Meine Augenform macht keinen Sinn als biologische Augenform, aber sie macht Sinn als Designelement.” Mit diesen exzellent durchgeführten Illusionen gewann der junge Berliner ein riesiges Following auf Instagram und die Aufmerksamkeit von Stars wie Björk und Nick Knight. Insbesondere seine Kollaboration mit der isländischen Sängerin machte HUNGRY im letzten Jahr schlagartig berühmt: Er entwarf das Make-Up-Design für ihres neuen Albums “Utopia”.

Extreme Künstlichkeit ist ein häufig eingesetztes Stilmittel der Drag-Szene. Jedoch wird perfekte Künstlichkeit auch zunehmend ein Mainstream-Trend auf Instagram, von dem sich HUNGRY distanzieren möchte. Durch Bühnen-Make-Up sähen Gesichter beinahe animiert aus, so der junge Make-Up-Artist. „Es funktioniert auf Fotos, aber im echten Leben halt eher weniger”, erzählt er, so werde die Diskrepanz zwischen gelebter Realität und Social Media immer größer. Doch versucht HUNGRY positiv zu bleiben: „Es gibt ja zu jeder Bewegung eine Gegenbewegung”, sagt er hoffnungsvoll. „Ich seh’ schon meine Looks etwas dezenter werden.” Doch bleibt abzuwarten, wie HUNGRYS Interpretation eines dezenten Looks aussieht.

Die Entwicklung von heutigen Schönheitsidealen findet HUNGRY bizarr. „Schönheits-OPs sind mittlerweile so akzeptiert, dass viele Leute fast wie Kim Kardashian aussehen”, sagt er. “Wir sind von Magermodels zu Kurven und jetzt hin zu riesengroßen Oberschenkeln gewechselt. Das wandelt sich hoffentlich wieder hin zu gesunden, kurvigen Körpern, die nicht so seltsam zusammengebaut aussehen.”

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The Future Has No Gender

Ob gewollt politisch motiviert oder intuitiv und ungewollt, HUNGRY zeigt einem internationalen Publikum, dass Schönheit in Zukunft abseits einer Kardashian-Popkultur existieren kann. Eine Schönheit, die kein Geschlecht, keine vorgeschriebene Form oder kulturelle Auslegung kennt. Seine Resonanz macht Hoffnung darauf, dass nicht nur ein einziges Ideal, sondern eine vielseitige Körperlichkeit Akzeptanz finden kann und die Gesellschaft vielleicht sogar mit Schönheit in Zukunft mehr Konzepte verknüpfen wird als sie es bisher tat.

 


Interview & Text: Frank Schröder & Andreas Dohmen