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Kirill Fedorov, 21, blutet im Gesicht nachdem national-konservative Extremisten ihn und seine Freunde bei einem Gay Pride Event in Sankt Petersburg umzingelt und geschlagen haben. Foto: Mads Nissen.

Zwischen Mut und Paranoia: Fotos dokumentieren Homophobie und gleichgeschlechtliche Liebe in Russland

Als ein schwuler Freund des dänischen Fotografen Mads Nissen bei einem Gay Pride Event in Sankt Petersburg vor seinen Augen brutal ins Gesicht geschlagen wurde, wird Nissen klar: Er muss etwas tun. Aus seiner Recherche entstand das einzigartige Fotoprojekt Homophobia in Russia.

Zwei Männer. Ein Liebespaar im Halbdunkeln, Zärtlichkeiten austauschend. Wie in einem Bild von Caravaggio. So sieht das Gewinnerfoto des World Press Photo-Awards 2014 aus. Der dänische Fotograf Mads Nissen wollte damit auf die Diskriminierung von gleichgeschlechtlicher Liebe in Russland aufmerksam machen. 2013 erließ Russland ein Gesetz, das die “Propaganda von nicht-traditionellen sexuellen Beziehungen” verbietet. 

In seiner Fotoserie Homophobia in Russia, die wirklich unter die Haut geht, wollte Nissen nicht nur Gewalt und Unterdrückung zeigen, sondern eben auch Liebe und Zuneigung. Das Foto entstand zu Hause, in einem intimen Moment des jungen Liebespaars Jon und Alex. Im Interview spricht Nissen darüber, warum er in Russland paranoid wurde und was das Geheimnis hinter seinen berührenden Bildern ist. 

Das Gewinnerfoto des World Press Photos 2015: Jon, 21, and Alex, 25 in einem intimen Moment. Foto: Mads Nissen.

Warum bist du Fotograf geworden?

Als ich ein Teenager war, hatte ich drei große Interessen. Das eine war, kreativ zu sein – das mochte ich immer. Das zweite war, dass ich mich von klein auf für Politik und Gesellschaft interessiert habe. Ich habe immer eine große Ungerechtigkeit auf der Welt gespürt und einen Drang danach, auf die Ungerechtigkeiten der Welt zu reagieren. Also wurde ich Aktivist. Das dritte war die Neugierde. Ich bin auf dem Land in Dänemark aufgewachsen, wo nicht viel abgeht. Ich hatte das Gefühl, die Welt sei größer als mein kleines Dorf. Ich wollte andere Menschen kennenlernen und versuchen, zu verstehen, wie es ist, sie zu sein. Als ich 19 Jahre alt war, reiste ich nach Venezuela. Dort hatte ich den Erleuchtungsmoment: Ich dachte mir, mit dieser Kamera kann ich alle drei Interessen miteinander verbinden. Und seitdem fotografiere ich.

Deine Fotos sind sehr bewegend, oft traurig. Wie entstehen diese emotionalen Bilder? Hast du ein natürliches Talent dafür, oder ist das etwas, was du mit der Zeit gelernt hast? 

Ich glaube an Talent und daran, dass man in manchen Dingen einfach gut ist. Jemand, der lange Beine hat, ist wahrscheinlich ein guter Läufer und jemand, der muskulös ist, ist wahrscheinlich ein guter Gewichteheber. Da ist etwas in meiner Persönlichkeit, das wirklich gut mit der Fotografie funktioniert.

Warum wolltest du ein Projekt über die russische LGBTQ+ Community machen?

Ich habe damals in den Nachrichten mitbekommen, dass Russland gerade dabei war, dieses neue homophobe Gesetz zu erlassen. Als ich 2014 ein paar Fotos bei der Gay Pride in Sankt Petersburg gemacht habe, traf ich einen Bekannten von mir, Pavel. Ein junger netter Mann, mit dem ich mich am Tag davor noch unterhalten hatte. Er hatte sich gerade erst geoutet. Plötzlich kam ein homophober Mann auf Pavel zu und schrie ihm ins Gesicht: ‘Du Schwuchtel’. Er schlug Pavel mitten ins Gesicht, während ich daneben stand. Das hat mich so wütend und traurig gemacht, dass ich den Drang spürte, etwas dagegen zu tun. Zeuge davon zu sein, hat mich auch in die Verantwortung gezogen.

Was bedeutet es im Alltag in Russland, Teil der LGTBQ+ Community zu sein?

Diese Frage sollten am besten Mitglieder der LGBTQ+ Community beantworten. Die meisten LGBTQ+ Russ:innen, die ich kenne, haben entweder das Land verlassen oder versuchen, dies zu tun. Was übrigens nicht so einfach ist, weil man als Russ:in in den meisten Ländern ein Visum braucht und es nicht einfach ist, als LGBTQ+ Person Asyl zu bekommen. Trotz all der Diskriminierung gibt es in Russland queere Clubs, Pride Events und Aktivist:innen. Aber queere Russ:innen leben in ständiger Bedrohung und Ausgrenzung.

Dmitry Chizhevskiy, 27, hat kein linkes Auge mehr, nachdem er 2013 bei einem privaten Treffen von einer drei bewaffneten, homophoben Männern angegriffen wurde. Foto: Mads Nissen.

Welche Begegnung während dieses Projekts in Russland hat dich am meisten bewegt?

Dieser Moment, als Pavel auf der Gay Pride angegriffen wurde, war für mich sehr prägend. Das hat alles für mich verändert, weil es einfach so falsch war. Außerdem war für mich auch das Treffen mit einer homophoben Gruppe sehr prägend, die LGBTQ+ Menschen entführt, foltert und davon Videos ins Netz stellt. Als ich an dem Thema gearbeitet habe, habe ich ein paar dieser online Videos gesehen. Diese Gruppen geben sich auf queeren Dating-Plattformen als junge, schwule Männer aus, die auf der Suche nach einem Date sind. Wenn die Person zu dem Date erscheint, nehmen sie ihn gefangen, foltern und demütigen ihn stundenlang, filmen alles und stellen die Videos online. Solchen Hass zu sehen, hat mich zu Tränen gebracht. Was mich hingegen beeindruckt, ist der Mut von Menschen wie Jon und Alex, dem Liebespaar, das ich für das Projekt fotografierte, und anderen jungen, LGBTQ+ Menschen, sich trotz all dem Hass, der ihnen entgegengebracht wird, zu outen, die eigene Identität zu akzeptieren und zu ihr zu stehen, an einem Ort wie Russland. In meinen Augen sind sie Menschenrechtskämpfer:innen.

Wie war es für dich, eine solche kriminelle Gruppe zu treffen?

Drei Mitglieder der Gruppe erklärten sich bereit, mich für ein Interview zu treffen. Es war sehr merkwürdig. Ich wollte sie fragen, warum sie das tun und wie sie das rechtfertigen. Aber es kam irgendwie anders, es hat sich sehr unprofessionell angefühlt. Einer der Männer begrüßte mich mit einer geladenen Waffe. Wir trafen uns auf einem Parkplatz in Moskau. Ich denke, das war seine Art, mir zu zeigen, wer am längeren Hebel sitzt. Es gibt nicht viele Interviews, die damit beginnen, dass jemand dir eine geladene Waffe auf einem Parkplatz zeigt. Das war ziemlich gruselig. Aber ich glaube, dass Empathie beim Fotografieren das Wichtigste ist. Und das gilt für beide Seiten. Also habe ich auch versucht, zu verstehen, warum die Mitglieder dieser Gruppe tun, was sie tun. Damit möchte ich nicht ihre Taten rechtfertigen, sondern die Gedanken und Gefühle verstehen, die sie dazu bringen. Ich kam nicht umher, zu vermuten, dass ein paar von ihnen eigentlich selbst queer sind, aber ihre Sexualität unterdrücken. Es war wichtig, diese Gruppe zu treffen, weil sie eben auch Teil der Realität sind. Denn als schwuler Mann in Russland, der Dating-Apps nutzt, ist das eine Angst, mit der du leben musst. Es gibt viele solcher Gruppen, nicht alle müssen einem online begegnen, die können dich genauso gut auf der Straße angreifen oder vor einem Club. Die Gruppe, mit der ich mich getroffen habe, hat angegeben, 70 solcher Videos gemacht zu haben. Und es gibt viele dieser Gruppen. Das ist also nichts, dass ein paar Jungs ein paar Mal gemacht haben. Es ist ein systematisches Problem, über das jede:r in Russland Bescheid weiß. Und diese Videos werden tausendfach auf VK, dem russischen Facebook, geteilt. 

Maxim Martsinkevich (im schwarzen Tshirt) ist ein selbst erklärter Homophob und hosted eine populäre online Video-show, in der schwule Männer zu fake Dates eingeladen werden und anschließend entführt und gefoltert werden. Ein Markenzeichen von jedem Video ist das Rasieren des Kopfes der Opfer und das Aufmalen des LGBT-Symbols. Foto: Mads Nissen.

Für das Foto von Alex und Jon hast du den ersten Platz beim World Press Photo of the Year 2014 gewonnen. Die Ausstellung fand ausgerechnet in Moskau statt. Wie war das überhaupt möglich?

Die Ausstellung stand zeitweise auf der Kippe. Sie musste letzten Endes über Crowdfunding finanziert werden, weil viele Sponsoren einen Rückzieher gemacht haben, als sie von dem Thema erfahren haben. Daraufhin sollte das Foto von Jon und Alex hinten in eine Ecke kommen. Aber wir haben darauf bestanden, dass das Gewinnerfoto zentral und sichtbar aufgehängt wird. Jon und Alex waren tatsächlich ziemlich entspannt – ich war derjenige, der Angst hatte. Ich hatte so große Angst, dass ich mit der Zeit paranoid wurde. Jedes Mal, wenn wir die Strecke vom Hotel zur Ausstellung liefen, hatte ich Angst, dass wir angegriffen werden. Ich begann, die Gesichter der Menschen aus diesen homophoben Videos wiederzuerkennen. Ich begann, sie auf der Straße zu sehen. Jon und Alex müssen damit jeden Tag leben, stell dir das mal vor. Trotzdem war die Ausstellung ein Erfolg, sie bekam auch viel Aufmerksamkeit in den Medien. Heute könnte so eine Ausstellung nicht mehr in Russland stattfinden. Es war also gut, dass wir das gemacht haben, so konnte das Thema mehr Aufmerksamkeit bekommen. Aber ich erinnere mich auch an ein unangenehmes Ereignis: Eine russische Journalistin beharrte während der Ausstellung darauf, mich zu fragen, ob ich selber schwul sei oder nicht. Und ich sagte zu ihr: Das tut nichts zur Sache. Es ist egal. Später versuchte ich, zu erklären, warum ich die Frage nicht beantworten wollte. Und zwar, weil ich denke, es ist irrelevant, da es bei dem Thema nicht um mich geht, sondern um Menschenrechte. Wenn ich schwul wäre, was dann? Sind die Fotos dadurch mehr oder weniger relevant? Es fühlte sich für mich nach einer Fangfrage an. 

Das sagt auch viel über russische Journalist:innen aus, wenn sie solche Fragen bei der Ausstellung eines World Press Awards stellen. Wie geht es Jon und Alex heute?

Leider ist Jon nicht länger unter uns, er ist trotz seines jungen Alters an einem Herzinfarkt gestorben. Alex geht es soweit ich weiß gut, er lebt nach wie vor in Russland. Viele andere, die ich kennengelernt habe, versuchen Russland zu verlassen und suchen verzweifelt nach Hilfe. Wenn das hier also irgendjemanden erreicht, der Menschen helfen kann, Russland zu verlassen, sagt mir Bescheid. Die Situation ist zum Verzweifeln. 

Siehst du irgendeine Hoffnung für die Zukunft?

Ich bin immer hoffnungsvoll, weil ich glaube, dass Dinge sich immer ändern können. Aber es könnte noch sehr lange dauern. Manchmal muss erst etwas sehr Schreckliches passieren, damit der Widerstand groß genug wird. Mit dem aktuellen Regime sehe ich keine Hoffnung, dass es besser wird. Aber auch dieses Regime wird nicht für immer andauern. Es ist aber nicht nur die LGBTQ+ Bevölkerung, die dort unterdrückt wird. Auch Menschen, die gegen Korruption sind, die an Meinungsfreiheit, politische Freiheit oder eine gerechte Justiz glauben, werden unterdrückt. 

Auch andere Länder in Europa, wie Rumänien oder Ungarn, haben Gesetze wie Russland erlassen oder diskutieren solche. Die EU hat kürzlich angekündigt, rechtliche Schritte gegen Ungarns anti-LGBTQ+ Gesetz einzuleiten. Wie siehst du diese Entwicklungen?

Es gibt aktuell viele Länder auf der Welt, die zum Konservativismus tendieren. Aber waren diese Orte jemals gute Orte, um queer zu sein? Zum Beispiel Ungarn: War es jemals ein guter Ort, um Teil der LGBTQ+ Community zu sein? Sicherlich nicht. In anderen Ländern, in denen sich etwas zum Positiven verändert, passiert der Wandel viel schneller, als ich es erwartet hätte. 

Zum Beispiel?

In vielen europäischen Ländern, wie zum Beispiel in meinem Heimatland Dänemark. Heute ist es unter vielen jungen Leuten völlig tabu, homophobe Witze zu machen. Das war vor 10, 20, 30 Jahren noch anders. Sowohl die grundsätzliche Haltung, als auch die Gesetze in vielen Ländern haben sich verändert. Das ist zwar immer noch nicht gut genug oder schnell genug, aber es gibt eben auch viel positive Veränderung. Ich gebe dir ein Beispiel: Ich habe drei Kinder. Neulich sind die Eltern der Schulkinder zusammen gekommen, um zu diskutieren, wie wir die Geburtstage der Kinder feiern sollten. Denn früher war es so, dass die Jungs zusammen feierten und die Mädchen zusammen. Aber was, wenn sich nicht alle Kinder mit ihrem biologischen Geschlecht identifizieren können? Und warum sollte man Mädchen und Jungs überhaupt trennen? Das ist einfach eine veraltete Art und Weise, Dinge zu handhaben. Also beschlossen wir, die Geburtstage zusammen zu feiern. Es hat mich gefreut, dass alle Eltern schon weit genug dafür waren. Wenn meine Kinder über LGBTQ+ Menschen sprechen, tun sie das sehr respektvoll. Sie sind noch nicht mit konservativen Einstellungen, wie Homophobie oder Rassismus, vorbelastet. Kinder müssen Rassismus und Homophobie erlernen, jemand muss es ihnen beibringen. Und das ist das, was wir stoppen müssen.

Fotografie kann dazu einen Beitrag leisten.

Absolut. Sonst würde ich es nicht tun (lacht). Aber ich finde auch, es ist ein verbreiteter Irrglaube der westlichen Gesellschaft, nach dem Bild zu suchen, das die Welt verändert, oder nach dem Helden oder der Heldin, die die Welt rettet. Wir heben diesen individuellen Helden sehr hervor, die eine Person, die den Unterschied gemacht hat. Ich glaube, das setzt viele Leute unter Druck, einzigartig sein und aus der Menge herausstechen zu wollen. Das führt dazu, dass viele glauben, sie seien nicht gut genug. Ich sehe mich mehr als Teil einer Bewegung, und diese Bewegung hat lange vor mir begonnen – und wird lange nach mir existieren. Ich habe viel Rückmeldung auf das Gewinnerfoto bekommen. Menschen, denen das Foto dabei geholfen hat, sich zu outen. Menschen, die homophob waren, und sich geändert haben. Das Foto hat also einen Unterschied gemacht. Aber am Ende ist es nur Teil einer viel größeren Bewegung. 

Manchmal muss erst etwas sehr Schreckliches passieren, damit der Widerstand groß genug wird”, sagt der Fotograf Mads Nissen. Foto: Morten Rode.

Mads Nissens (1979) Fotografien wurden 2015 und 2021 mit dem World Press Photo Award ausgezeichnet. Für Nissen ist die Kamera ein Werkzeug für den Aktivismus. Seit 2014 arbeitete er unter anderem als Fotograf für die dänische Zeitung Politiken, für das Time Magazin, Newsweek, CNN, National Geographic, The Guardian, Stern, den Spiegel und weitere. Nissen hat drei Bücher veröffentlicht: The Fallen, Amazonas und We Are Indestructible.