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Foto: Pim Chu

Chinas Millennials machen Fotos, wie sie chillen und der Staat zensiert alles!

Chinas Millennials haben genug. Genug von Überstunden, genug von Hypotheken, genug von Erwartungshaltungen, die sie nicht erfüllen können. Wohlbehütet als Einzelkinder während des wirtschaftlichen und technologischen Aufschwungs aufgewachsen, wehren sich die desillusionierten Millennials nun gegen Chinas Arbeitskultur und gehen in den Angriff über – im Liegen. Wie Nichtstun zum revolutionären Akt einer Generation wurde. 

Luo Huazhong döst eingekuschelt in einer weißen Decke im Bett, die Vorhänge sind geschlossen. Der Morgen ist längst vorbei, wahrscheinlich ist es schon Nachmittag. Das Bild suggeriert: Ich gehe heute nicht mehr aus dem Haus. Huazhong ist nicht in Covid-Quarantäne, er chillt. „Ich chille, und ich habe nicht das Gefühl, dass daran irgendetwas falsch ist“, schrieb er im April diesen Jahres in einem Blogpost, den er „Lying flat is justice” nannte.

Pünktlich zu ihrem 100. Geburtstag kommt Chinas Kommunistische Partei (KPCh) ins Schwitzen. Die KPCh sieht sich konfrontiert mit einer neuen Art von Bedrohung: Diese Rebellion ist still. Die Verbreitung: viral. Ihre Ausrichtung: liegend. Risikofaktor nach Einschätzung der Kommunistischen Partei: hoch. „Tangping“ oder „Lying Flatism“ heißt die neue Bewegung Chinesischer Millennials, die sich entgegen der konsum- und erfolgsorientierten Ideale der kommunistischen Partei dafür entschieden haben, sich dem Druck und den Erwartungshaltungen von Gesellschaft und Politik nicht länger zu beugen.

Chinesische Millennials haben keine Lust mehr, sich kaputt zu arbeiten. Stattdessen legen sie sich hin. Foto: Gabrielle Henderson

Die stille Revolution

Jener virale Blogpost, welcher im chinesischen Internet mitsamt aller Diskussionsforen und Beiträge zu dem Thema bereits zensiert wurde, sollte kurz danach das Manifest der „Lying Flat“ Bewegung werden. „Lying Flat“ – das bedeutet nicht oder weniger zu arbeiten, auf Materielles zu verzichten, nicht zu heiraten, keine Kinder zu bekommen, kein Auto und kein Haus zu kaufen, nicht auf Erfolg hinzuarbeiten, sich nicht mit der Konkurrenz zu messen und sich stattdessen mehr Zeit für sich selbst nehmen. Chinesischen Millennials schrauben ihre Erwartungen an sich selbst runter und an Freizeit und mentale Gesundheit hoch.  

Fünf Jahre zuvor kündigte der heute 31-Jährige Luo Huazhong seinen Job in einer Fabrik, machte eine Fahrradtour nach Tibet und entschied, mit begrenztem Budget von Nebenjobs und Ersparnissen zu leben, wie die New York Times berichtete. Er nannte diesen Lifestyle „Lying Flat“ und inspirierte damit Millionen andere. Wie viele andere junge Chines*innen es ihm gleich taten, ihre Jobs kündigten oder Stadtflucht begingen, um „sich hinzulegen“, ist unklar.

Klar ist aber, dass die Dimension der Bewegung groß genug zu sein scheint, um die kommunistische Partei einzuschüchtern. Innerhalb kürzester Zeit zensierte diese sämtliche Inhalte, die mit der „Lying Flat” Bewegung in Verbindung gebracht werden könnten und unterband den Verkauf von T-Shirts, Handyhüllen und anderen mit der Bewegung assoziierten Produkten. Dass Nichtstun die Umwelt und das Gemüt schont, sieht die chinesische Regierung gehörig anders: „Lying down is unacceptable“, verkündeten die Medien im Fernsehen. Pessimismus und Hoffnungslosigkeit dürften die Produktivität nicht beeinflussen, findet die chinesische Regierung.

Dass Nichtstun die Umwelt und das Gemüt schont, sieht die chinesische Regierung anders: „Lying down is unacceptable“, verkündeten die Medien im Fernsehen. Pessimismus und Hoffnungslosigkeit dürften die Produktivität nicht beeinflussen, findet die chinesische Regierung. Quelle: Screenshot Lele Farley

Die einst wohlbehütete Mittelklasse wehrt sich 

Es ist eine stille Resignation, ein Protest gegen die gescheiterte demografische und wirtschaftliche Politik Chinas, die zwar Millionen aus der Armut in den Mittelstand zog, aber gleichzeitig Abermillionen desillusionierte, sie überarbeitet und hoffnungslos zurückließ. Es ist ein Protest derer, die ohne Geschwister in stabilen Verhältnissen, mit den Vorzügen des technischen Fortschritts aufwuchsen und nun genug von Hypotheken und dem 996-Lifestyle haben. 996 – das bedeutet von 9 Uhr morgens bis 9 Uhr abends zu arbeiten, an 6 Tagen die Woche. Während Chinas Millennials jahrelang 12 Stunden täglich arbeiteten, stiegen die Immobilienpreise, doch die Gehälter nicht. Die Jugendarbeitslosigkeit ist mit 11% auf dem höchsten Stand seit 1999, Tendenz steigend.

Während Chinas Millennials jahrelang 72 Stunden in der Woche arbeiteten, stiegen die Immobilienpreise, doch die Gehälter nicht. Die Jugendarbeitslosigkeit ist mit 11% auf dem höchsten Stand seit 1999, Tendenz steigend. Quelle: Statista.

2016 führte China nach über 40 Jahren 1-Kind-Politik die 2-Kind-Politik ein, dieses Jahr wurde diese sogar auf 3 Kinder erweitert, um der demografischen Krise vorzubeugen. Chinas Bevölkerung wird immer älter, der Anteil der erwerbsfähigen Bevölkerung immer kleiner. Doch Chinas Millennials wollen keine Kinder haben und schon gar nicht so viele. Die Geburtenrate ist niedriger denn je, seit 2016 ist sie sogar noch stärker gesunken. Chinas Millennials fragen sich, mit welchen Mitteln sie überhaupt Kinder bekommen sollen. Nicht nur lassen Geld- und Zeitdruck keinen Raum für Familie, auch lange Arbeitszeiten, schlechte Wohnbedingungen, Diskriminierung gegen Mütter am Arbeitsplatz und die Tatsache, dass viele chinesische Einzelkinder sich um ihre alternden Eltern kümmern müssen, rückt die Familienplanung in den Hintergrund. Bei der immer größer werdenden wirtschaftlichen Kluft bleibt Erfolg für viele junge Chines*innen außer Reichweite – wieso  also nicht einfach hinlegen und die Erwartungen herunterschrauben?

Chines*innen arbeiten oft im 996-Modell, also von 9 Uhr morgens bis 9 Uhr abends, an 6 Tagen die Woche. Wo soll da Zeit für Familie bleiben? Foto: Max van der Oetelaar

Lying Flat – ein Wendepunkt für Chinas Arbeitskultur?

„Der Druck kommt hauptsächlich von den Menschen, mit denen man in Konkurrenz steht, und von den Werten der älteren Generation“, schrieb Luo Huazhong in seinem Blogpost. „Jedes Mal, wenn man nach populären Nachrichten sucht, findet man nur Nachrichten zu Romantik oder Schwangerschaft (…), als ob ‚unsichtbare Wesen eine bestimmte Art zu denken und Druck kreieren würden. Aber wir müssen nicht so sein. Ich kann auch einfach in der Sonne schlafen wie Diogenes, oder in einer Höhle leben wie Heraclitus (…) Lying Flat ist meine weise Bewegung“, ergänzte er.

Dass junge Chines*innen sich zur Ruhe legen, ist der kommunistischen Partei ein Dorn im Auge. Sie kontert mit Propagandasprüchen wie „Die Anstrengung selbst ist eine Art der Glückseligkeit” oder „Die Entscheidung, sich als Reaktion auf Druck ‘hinzulegen’ ist nicht nur unfair, sondern beschämend”. Doch die hilflosen Reaktionen der Regierung sind ebenso leer, wie die Hoffnung der Millennials in eine erfolgreiche Zukunft.

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Trotz Zensuren ist „Lying Flat“ nicht mehr aufzuhalten – gerade, weil die Bewegung eine passive Dimension hat. Wenn China dauerhaft wettbewerbsfähig bleiben möchte, muss der Einparteienstaat künftig die Bedürfnisse der gebärfähigen Generation miteinbeziehen, sonst droht der demografische Kollaps. Ob der Druck der „Lying Flat“-Bewegung groß genug ist, um den Kurs der Kommunistischen Partei zu beeinflussen und für bessere Lebensverhältnisse und Familienpolitik zu sorgen, bleibt abzuwarten.