Weltweit sind Städte geprägt von marginalisierender Stadtentwicklung und diskriminierenden Planungsstrategien. Viele davon sind den meisten Bewohner*innen unbekannt. Das muss sich ändern, damit sich etwas ändert!
Eine Stadt ist mehr als eine Ansammlung von Gebäuden. Auf engem Raum treffen hier verschiedenste Lebensrealitäten aufeinander. Die Straßen und Plätze zwischen den Gebäuden sind der „öffentliche“ Raum. Henri Lefebvre beschreibt in seinem Buch „Das Recht auf Stadt“ treffend: „Die Stadt hat eine symbolische Dimension; die Monumente, aber auch die Leerflächen, Plätze und Prachtstraßen, symbolisieren den Kosmos, die Welt, die Gesellschaft oder einfach den Staat.“ Wenn wir diese symbolische Dimension auf die Art und Weise übertragen, wie unterschiedlich Stadtbewohner im öffentlichen Raum behandelt werden, zwängt sich unweigerlich die Frage auf, was das über die Gesellschaft aussagt, in der solche Unterschiede möglich sind.
Der öffentliche Raum schrumpft
Die EINE Öffentlichkeit gibt es nicht, auch wenn diese Vorstellung in den Köpfen einiger Stadtplaner*innen noch immer existiert. Vielmehr sind es unzählige Teilöffentlichkeiten, die sich den öffentlichen Raum einer Stadt teilen und die jeweils individuelle Bedürfnisse haben. Jedoch haben scheinbar nicht alle das gleiche Anrecht darauf, diesen Raum zu nutzen. An die Stelle von öffentlichen Räumen, die ohne Einschränkung von allen nutzbar sind, treten vermehrt kommerzielle Räume, in denen vor allem störungsfrei konsumiert werden soll. Privatisierte, öffentlich genutzte Flächen wie Bahnhöfe, Flughäfen oder Einkaufspassagen sehen aus wie öffentliche Räume, haben aber ein eigenes Hausrecht. Von diesem Hausrecht kann Gebrauch gemacht werden, um die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit einzuschränken, Menschen den Zugang zu verwehren, Verhaltensverbote aufzustellen und private Überwachungs- und Sicherheitstechnik einzusetzen. Diese privatisierten Räume reduzieren die Fläche des tatsächlich öffentlichen Raums, der ohnehin eine sehr knappe Ressource ist. Ein wesentlicher Faktor für die Knappheit sind die Massen von Autos, die nur Einzelpersonen dienen, dafür aber beachtliche Flächen einnehmen, die für die restliche Bevölkerung nicht nutzbar sind und alternative Nutzungen ausschließen. Wie Flächen genutzt werden dürfen, darüber entscheiden die Kommunen, die damit ein wichtiges Steuerungswerkzeug für die Stadtplanung haben. Wie erheblich sich die Flächennutzung auch auf das soziale Gefüge von Städten auswirken kann, zeigen historische Beispiele.
Historische Beispiele diskriminierender Stadtplanung: Zoning und Redlining
„Zoning” bedeutet, dass für ein Stück Land eine oder mehrere Nutzungsweisen festgelegt werden, zum Beispiel Industriebebauung oder Wohnnutzung. Dieses an sich neutrale Planungswerkzeug wurde in den USA jedoch auch zur gesellschaftlichen Trennung genutzt. Ein für Einfamilienhäuser vorbehaltenes Viertel war zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA gleichbedeutend mit einem Viertel für die Mittelschicht und die war überwiegend weiß. Darüber hinaus konnten Behörden durch die Umwandlung von Wohngebieten in Industriegebiete gezielt fördern, dass sich in größtenteils afroamerikanischen Vierteln gesundheitsschädliche Industrien, Mülldeponien und andernorts nicht geduldete Gewerbe niederließen. Zugleich konnten sie steuern, dass dies in von weißen bewohnten Vierteln nicht geschah und somit subtil Einfluss auf die Entwicklung von Stadtteilen nehmen.
Alles andere als subtil ist das „Redlining” womit die Praxis bezeichnet wird, Gebiete aufgrund ethnischer Merkmale abzugrenzen und zu diskriminieren. In einer Landkarte wurden jene Bereiche mit einer roten Linie (red line) markiert, in denen ein erhöhtes Risiko für Versicherungen und Investitionen bestand. Das geschah in den USA seit den 1930er Jahren infolge der Weltwirtschaftskrise, als die Regierung beschloss, die Bevölkerung durch die Vergabe von Hypotheken davor zu bewahren, ihr Eigentum zu verlieren. Für die Bewohner*innen dieser rot markierten Stadtteile bedeutete das „Redlining” jedoch, dass ihnen Kredite nur verteuert oder gar nicht angeboten wurden und viele ihr Wohneigentum verloren. Ausschlaggebend für die Kategorisierung eines Stadtteils war die Hautfarbe seiner Bewohner*innen. Die Folgen dieser Praxis prägt Demographie und Wohlstandsverteilung amerikanischer Gemeinden bis heute, wie aktuelle Studien belegen. Gezielt diskriminiert wurden auch chinesische und chinesischstämmige Minderheiten in amerikanischen Städten durch den „Chinese Exclusion Act” aus dem Jahr 1882, der ihnen vorschrieb, in welchen Gebieten sie sich ansiedeln durften. Diese Praxis führte in großen Städten wie New York und San Francisco zu überbevölkerten Häuserblocks, die zehntausende von Menschen aufnehmen mussten. Heute sind Chinatowns nur noch als touristische Highlights bekannt, ihre menschenunwürdigen Entstehungsbedingungen finden dagegen selten Erwähnung.
Gezielt diskriminiert wurden auch chinesische und chinesischstämmige Minderheiten in amerikanischen Städten. Diese durften sich nur in bestimmten Stadtteilen ansiedeln. Foto: OrnaW
Null-Toleranz -Politik und Broken-Windows-Theorie
Beispiele für gezielte Diskriminierung in Städten finden sich nicht nur aufgrund ethnischer Zugehörigkeit, sondern auch aufgrund von Verhaltensweisen. Mit dem Ziel einer vermeintlich höheren Attraktivität von Innenstädten sind es heute vor allem Obdachlose und Drogenabhängige, die gezielt aus Stadtzentren ausgeschlossen werden. Die Stadt New York führte im Jahr 1994 unter Bürgermeister Giuliani die Null-Toleranz-Strategie ein, die sich auf die Broken-Windows-Theorie stützt. Demnach führt eine zerstörte Fensterscheibe zur Zerstörung weiterer Fensterscheiben und die Duldung unerwünschter Verhaltensweisen zu Kriminalität und somit zum Verfall ganzer Stadtteile. Unter Berufung auf diese Theorie wurde die New Yorker Polizei personell aufgestockt und mit umfangreichen Befugnissen ausgestattet, um auch kleinere Vergehen wie Betteln, Alkoholkonsum, Schwarzfahren oder Schuleschwänzen rigoros zu verfolgen. Gleichzeitig wurden Personenkontrollen von verdächtig aussehenden oder auffälligen Personen erhöht. Damit einhergehend wurde eine umfangreiche Polizeigewalt in den USA legitimiert, deren Willkür und institutioneller Rassismus spätestens seit der Tötung Gerorge Floyds und der Bewegung Black Lives Matter auch international wahrgenommen wird. Die Wirksamkeit der Null-Toleranz-Strategie ist nicht belegt und heute höchst umstritten, wird aber auch in der deutschen Politik immer wieder im Rahmen der inneren Sicherheit diskutiert. Eine ironische Interpretation der Broken-Windows-Theorie liefert das Hamburger Aktionsnetzwerk „es regnet Kaviar“ mit seinem Abwertungskit gegen Gentrifizierung. In einem sehenswerten Video stellt es Maßnahmen vor, wie das eigene Stadtviertel abgewertet werden kann, um Immobilienpreise niedrig zu halten.
Ironisch gemeint, aber nicht undenkbar: Die Sitzfläche der Bezahlbank von Safe&Urban klappt erst nach Bezahlung herunter. Abb: Martin Binder.
One-way-bustickets für Obdachlose
Ein weiteres haarsträubendes Beispiel: Um sich der Obdachlosen zu entledigen, verteilen zahlreiche Städte in den USA One-way-Bustickets an Obdachlose, um sie aus der Stadt hinaus zu befördern. The Guardian berichtet auf Grundlage einer mehrjährigen Recherche von vielen Millionen US-Dollar, die in Fahrscheine für bisher über 20.000 Obdachlose investiert wurden, vor allem von New York in Städte des Westens der USA. Dass diese gängige Praxis nicht dazu führt, Obdachlosigkeit zu reduzieren, hat sich längst herausgestellt. Hätte die Politik diese Millionen nicht stattdessen in Infrastruktur, Unterkünfte und Hilfsprogramme investieren sollen? In Deutschland setzt man nicht auf One-WayBustickets, doch auch hier fließt viel Geld in Maßnahmen, die Obdachlose von bestimmten Orten fernhalten sollten, anstatt in Infrastruktur und Hilfsangebote zu investieren. Ein Beispiel ist die Kersten-Miles-Brücke in Hamburg, die für über 100.000 Euro vor Obdachlosen abgeschirmt wurde.
Eine Berliner Plattenbausiedlung. Foto: Marcus Lenk.
Randgebiete für Randgruppen
Zu struktureller Marginalisierung im europäischen Städtebau führte unter anderem die „Charta von Athen”, die der Architekt Le Corbusier im Jahr 1943 veröffentlichte. Unter anderem forderte er die Trennung der vier für ihn entscheidenden Funktionen: Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Transport. Die Umsetzung seiner Ideen hatte die Marginalisierung ganzer Stadtteile zur Folge und führte zur Errichtung von Siedlungen mit reiner Wohnfunktion in städtischen Randbezirken und zum Ausbau „autogerechter” Städte, da durch die räumliche Funktionstrennung auch die Verbindungsstraßen immer wichtiger wurden. Stadtzentren verödeten und historisch gewachsene Gefüge wurden im Sinne einer Auflockerung verdichteter Zentren zerstört. Im immer weiter fortschreitenden Städtewachstum und der Erkundung neuer Bauformen entstanden in Randbezirken vieler Städte Hochhaussiedlungen, die auf keine gewachsene Struktur fußten, sondern auf dem Reißbrett entstanden. Es hat sich gezeigt, dass gerade die Durchmischung der bei Le Corbusier getrennten Funktionen zu lebendigen Städten führt und so haben Stadtzentren wieder an Bedeutung für öffentliches Leben gewonnen. Doch die Freiheit zur Wahl des Wohnortes besteht nur dann, wenn man sie sich leisten kann. Daher sind es vor allem einkommensschwache Bevölkerungsschichten, die in den Hochhaussiedlungen der Randbezirke leben. Das „Monitoring Soziale Stadt” der Berliner Senatsverwaltung belegt: Die soziale Benachteiligung in Berlin wird immer weiter an die Stadtränder verdrängt. Diese anhaltende Entwicklung könnte dazu führen, dass sich, ähnlich wie die Pariser Banlieues, um Berlin weitere Großsiedlungen am Stadtrand entwickeln. Mit der immer deutlicheren Verdrängung von armen Bevölkerungsgruppen und steigenden Preisen in Stadtzentren wird auch in Kauf genommen, dass Innenstädte immer mehr zu anonymen Einkaufspassagen mutieren, in denen sich niemand besonders willkommen fühlt und in denen die Lebensqualität für alle sinkt.
„Brickell Key“ in Miami ist eine Insel als Gated Community. Abb: CreativeCommons.
Gated Communities sind auch bei uns längst angekommen
Der Ausschluss von Bevölkerungsgruppen findet nicht nur durch steigende Preise und schrittweise Verdrängung, sondern auch ganz explizit statt, zum Beispiel durch Gated Communities: Überall dort, wo die Schere von Arm und Reich stark auseinander geht, existieren in sich abgeschlossene, wohlhabende Wohngegenden. Gründe dafür liegen wohl in der Angst vor Kriminalität, in der Unzufriedenheit über die öffentliche Infrastruktur, dem Wunsch nach Abgrenzung von anderen Bevölkerungsgruppen oder kultureller Homogenität des Wohnumfeldes. Der Trend zur Abgrenzung von ganzen Wohngebieten ist weltweit zu beobachten. In besonders großem Stil ist diese Entwicklung in Nordamerika zu beobachten. Die erste Gated Community wurde um 1850 in den USA gegründet, mittlerweile leben über 10 Millionen Amerikaner in bewachten Wohnanlagen. Eine dieser Anlagen ist „Brickell Key“ in Miami: ein ganzer Inselwohnblock, der nur über eine gesicherte Brücke zugänglich ist. Auch in vielen Ländern Südamerikas, in China, Russland und Südafrika (um nur einige zu nennen) leben heute große Teile der Ober- und Mittelschicht in Gated Communities.
Eingezäunte Wohnblocks mit privaten Grünanlagen, eigener Tiefgarage, Pförtner, Kameraüberwachung und eigenen Spielplätzen sind längst auch in Deutschland angekommen. Um sich der Wirklichkeit eines städtischen Gefüges zu entziehen, bevorzugen auch in Deutschland immer mehr Menschen, sich ihre eigene heile Welt inmitten einer nicht-heilen Stadt zu bauen. Das wohl bekannteste Beispiel ist die erste deutsche Gated Community „Arcadia” in Potsdam. Seit ihrer Fertigstellung finden sich in deutschen Großstädten immer mehr dieser gesicherten Wohnanlagen, wie die „Central Park Residence” in Leipzig, die „Prenzlauer Gärten” oder das „Parkpalais” in Berlin. Die Luxusimmobilienagentur Engel&Völkers bestätigt: „In Deutschland wendete man sich geschlossenen Wohnanlagen erst in den 90er-Jahren zu, inzwischen überzeugen ihre zahlreichen Vorzüge aber auch hier.”
The Commons (2020), Gretta Louw, public artwork (custom campaign for commercial billboards and mobile advertising platforms) commissioned by the Culture Department of the City of Munich for the series Öffentlichkeiten, Foto: Maximilian Geuter.
Was sagen unsere Städte über unsere Gesellschaft aus?
Um auf den anfangs zitierten Lefebvre zurückzukommen: Welche symbolische Dimension haben unsere Städte? In Deutschland leben wir in Städten, in denen ein Großteil des kostbaren öffentlichen Raums von parkenden und fahrenden Autos eingenommen wird. Wir leben in Städten, in denen der tatsächlich öffentliche Raum weniger wird und in deren Zentren kein Platz für einkommensschwache Bevölkerungsschichten ist. Wir leben in Städten, in denen Obdachlose verdrängt, nicht aber die Ursachen von Obdachlosigkeit bekämpft werden. Wir leben in unternehmerischen Städten, die ihr wertvollstes Gut, den öffentlichen Raum, an profitorientierte Unternehmen abtreten, ohne dafür sozialen Mehrwert für die Bewohner*innen zu erhalten. Wir leben in Städten, in denen die finanzielle Situation über das Anrecht auf die Nutzung von öffentlichem Raum entscheidet.
Doch sind Städte Orte, die Widersprüche zulassen müssen, an denen unterschiedlichste Lebensstile nebeneinander existieren. Sie sind Orte der Heterogenität, der individuellen Freiheit und der Gleichberechtigung. Das sollte am öffentlichen Raum ablesbar sein. Jede und jeder hat das gleiche Recht auf Stadt und wir können Städte zu sehr viel aktiveren Lebensräumen machen. Dafür muss Bürger*innenbeteiligung effizienter und zum selbstverständlichen Bestandteil von Stadtgestaltung werden, soziale Infrastrukturen müssen gestärkt werden und anonyme öffentliche Räume zu identifizierbaren Orten werden. Das, was zwischen den Häusern passiert, macht den besonderen Reichtum von Städten aus: der Raum, in dem Unerwartetes passiert, in dem Meinungen aufeinander treffen, in dem gestritten, gelernt und gestaunt wird. Eine Stadt ist keine gute Stube, die adrett und brav auf irgendjemanden Eindruck machen soll – wer sich das wünscht, ist in seiner eingezäunten Siedlung mit Pförtner bestens aufgehoben.
Übrigens: Im Rahmen des digitalen Stadtfestivals „Urbane Welten“ stellt das Berliner Zukunftsmuseum Futurium Fragen zu den Städten der Zukunft. Unter anderem stellt sich dort das fiktive Unternehmen „Safe&Urban“ vor, das Stadtmöbel entwirft, die durch Ironie und Übertreibung auf bereits existierende Verdrängungsstrategien aufmerksam machen. Mehr zum Thema diskriminierende Stadtmöblierung findet sich im Qiio-Artikel „Hostile Design“.