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Foto: Bernd Kolb

“Die ‘Forever young’-Gesellschaft hat zum Sterben keine Zeit” – Ein Gespräch mit Ex-Dax Manager Bernd Kolb

Bernd Kolb spielte in einer Punkband, war erfolgreicher Internetunternehmer und Innovations-Vorstand der Deutschen Telekom. Seitdem hat sich einiges im Leben von Bernd Kolb getan. Mit seinem „Club of Marrakesh“ hat er jahrelang Dutzende kluge Köpfe zusammengebracht, um die Welt ein Stück besser zu machen und den Klimawandel aufzuhalten. Aber ernüchtert erklärte er den “Appell an die menschliche Vernunft” als gescheitert. Seitdem hat sich Bernd Kolb auf die Suche nach der Weisheit des Menschen gemacht. Im Jahr 2012 brach Kolb auf eine Reise auf, um Antworten auf die wichtigste Frage im Leben zu finden. Wer und was sind wir?

Die Welt scheint sich in vielen Bereichen (Politik, Gesellschaft, Umwelt) in eine völlig falsche Richtung zu bewegen. Konsum statt Reflexion, Egozentrismus statt Gemeinwohl, Bewusstlosigkeit statt Bewusstsein, Kontrolle statt Autonomie. Haben Sie eine Antwort darauf, wieso das so ist?

Bernd Kolb. Foto: Raimar von Wienskowski

Das sind viele Themen, die Sie in Ihrer Frage ansprechen. Ohne Konsum wäre es heute gar nicht mehr möglich, eine auf Weltwirtschaft basierende Ökonomie so zu gestalten, dass die bald 8 Milliarden Menschen alle auch eine wirtschaftliche Existenzgrundlage haben oder bekommen. Die Frage kann also nicht sein „Konsum ODER Reflexion“, sondern wir müssen beides zusammenbringen, wenn wir nachhaltig (über-)leben und wirtschaften wollen. Reflektierter, kritischer Konsum führt zwangsläufig auch zu reflektierter Güterproduktion- das ist die Konsumentenmacht, von der wir leider noch viel zu wenig Gebrauch machen. Erst wenn die Ökobilanz eines Produkts neutral, oder noch besser positiv wird, richtet Güterkonsum keinen Schaden mehr an. Aber zu einer Dummheit gehören an der Stelle immer zwei: Einer der sie anbietet und ein anderer, der sie kauft.

Wir kaufen also gerne Dummheiten ab?

Meine Großmutter hätte doch keinen Volkshochschul-Kurs in „Nachhaltigkeit“ gebraucht, um zu erkennen, dass es bei einem Kleidungsstück zum Billigpreis von 5 Euro nicht mit „rechten Dingen“ zugehen kann. Das zeigt uns das eigentliche Problem: Wie kann es sein, dass wir im Zeitalter der „Informationsgesellschaft“, in der wir so viel „wissen“, an so vielen Stellen wider besseren Wissens handeln? Dieses Paradoxon führte mich zur Frage nach dem individuellen und auch dem kollektiven Bewusstsein. Wir sind mit unserer einseitig materiell orientierten Weltsicht auf der niedrigsten Ebene unseres Bewusstseins angekommen. Wir sind vom SEIN ins HABEN gegangen, wie Erich Fromm das so treffend ausdrückt. Das ist der eigentliche Irrweg, denn der Grund für diese Entwicklung liegt in der fälschlichen Annahme, dass materieller Reichtum zu mehr Wohlbefinden, Lebenszufriedenheit oder gar Lebensglück führt. Alle Sozialstudien zu diesem Thema belegen, dass dies nicht stimmt.

Haben wir als Individuum eine reale Möglichkeit, diesen negativen Entwicklungen wirklich etwas entgegenzusetzen?

Ich höre diese Frage sehr oft. Wir verstecken uns gerne hinter dem großen Ganzen. Die Welt muss sich ändern, aber wir uns selbst nicht. Es ist gerade umgekehrt. Nur wir als Individuum haben die Möglichkeit, etwas zu ändern- nämlich bei uns SELBST. Es ist schlicht kein Argument, mit großem Bedauern zu sagen „Was soll ich als Einzelner denn da machen?“. In Wahrheit ist es so, dass NUR ICH als Einzelner etwas ändern kann, in meinem Denken und in meinem Handeln. Kann sich so die Welt verändern oder ist das eine Utopie? Ghandi, der wahrlich Großes bewegt hat, wurde für diesen Ansatz lange ausgelacht. Aber die Geschichte hat uns gelehrt: wer zuletzt lacht, lacht am besten!

“Von der Teilhabe an einem Öko-System hin zum Einzel-Akteur eines Ego-Systems”

Das führt uns zwangsläufig zu einem noch wichtigeren Aspekt, nämlich den Begriff des „Individuums“. Die starke Betonung unserer Individualität führt immer mehr dazu, dass wir „vereinzeln“. Wir grenzen uns in unserer Identität vom Ganzen ab und werden dadurch zu selbstoptimierenden Einzelwesen. Dies führt zu einer immer stärkeren Denaturierung, die uns von der Teilhabe an einem Öko-System hin zum Einzel-Akteur eines Ego-Systems macht. Was uns aber die Natur zeigt ist „Einheit in Vielfalt“. Es geht dabei nicht um eine neue Uniformierung der Gesellschaft, sondern vielmehr um die Balance der Beziehung zwischen dem Einen und dem Ganzen. Einheit bedeutet nicht Verschmelzung, sondern das Aufheben der Trennung. Interessanterweise hat die EU im Jahr 2000 den Slogan „In Vielfalt geeint“ zum offiziellen politischen „Motto“ erhoben. Ein sehr guter Gedanke, der aber noch mit Leben gefüllt werden will.

Was macht das Leben lebenswert und sinnvoll?

Das Leben ist ein großes Geschenk. Dies zu erkennen heißt, den Wert zu schätzen. Nichts und niemand muss das Leben erst lebenswert machen. Das Leben ist ein Wert an sich. Wie sinnvoll wir unser Leben gestalten, ist genauso einfach zu beantworten. Wir müssen uns nur bei allem fragen, ob das auch Sinn macht, was wir tun. Sinn für uns selbst und gleichzeitig auch Sinn für die Gemeinschaft. Schauen wir uns also unseren Alltag an, mit all den vielen kleinen und großen Entscheidungen, die wir treffen, und fragen uns: Macht das gerade wirklich Sinn? Falls wir diese Fragen nicht mit JA beantworten können, ist es ja geradezu absurd, es zu tun, es ist schlicht sinnlos. Und diese Sinnleere macht uns krank. Wer dies einmal verstanden hat und sich daraufhin unser Bildungssystem anschaut, erkennt sofort, was zu tun ist. Wir brauchen von Kindheit an bis ins hohe Alter eigene „Erfahrungsräume“, die uns zeigen, wie uns der Sinn im Leben in eine tiefe Zufriedenheit führt.

“Diese Sinnleere macht uns krank”

Sie leben ja mittlerweile vorwiegend auf Java in Yogyakarta. Ihre Entscheidung der westlichen Welt zu entkommen fasziniert mich. Auf der anderen Seite kommen Sie regelmäßig nach Berlin, um das, was Sie auf Ihren Reisen in den vergangenen Jahren erfahren haben, zu teilen. Wieso machen Sie das?

Ich bin der westlichen Welt nicht „entkommen“, ich habe lediglich selbst entschieden, wie und wo ich leben will. Ich bin kein Aussteiger, sondern ein Einsteiger. Ich lebe nicht ausschließlich an einem Ort, weil meine Interessen und Neigungen vielfältig sind. Ich lebe in Kontrasten, die meinen Horizont jeden Tag erweitern. Mit Berlin, Marrakesch und Yogyakarta lebe ich in 3 vollkommen unterschiedlichen Kulturräumen und erfahre tagtäglich, was Globalisierung für das tägliche Leben bedeutet.

 “Mache also Gebrauch von der Freiheit, die wir uns im Übrigen politisch und gesellschaftlich mit großen Opfern erkämpft haben und die keineswegs so selbstverständlich ist”

Das ist in der Praxis nicht ganz einfach zu managen, denn ich bin ja an allen Orten mit unterschiedlichen Projekten aktiv, pflege also auch ganz vielfältige Beziehungen, über jede Art von Grenzen hinweg. Aber es ist wundervoll und jede Mühe wert. Ich bin unabhängig und selbstbestimmt, mache also Gebrauch von der Freiheit, die wir uns im Übrigen politisch und gesellschaftlich mit großen Opfern erkämpft haben und die keineswegs so selbstverständlich ist, wie viele heute meinen. Ich mache konsequent nur noch Sachen, die für mich Sinn machen. Dazu gehört auch, das Ganze nicht zum Egotrip verkommen zu lassen, sondern meine vielen Erfahrungen und Erkenntnisse mit anderen zu teilen. Mut zu machen und mit gutem Beispiel vorangehen. Nicht nur ständig zu kritisieren, sondern konstruktiv aufzuzeigen, wie vielfältig das Leben und unsere Möglichkeiten sind.

Foto: Bernd Kolb

Ich bin (also) nicht GEGEN etwas, sondern FÜR etwas Neues. Ich organisiere keine Demos gegen Umweltzerstörung oder künstliche Intelligenz, sondern engagiere mich für das Leben an sich, für die Natur, für die Vielfalt und für die menschliche Weisheit, die auf dem Verbindenden zwischen allem beruht. Wir Menschen sind so viel mehr, als wir denken- wenn wir uns für neue (Selbst-)Erfahrungen öffnen.

Das Deutsche Ärzteblatt schrieb über sie, dass sie beruflich ALLES erreicht haben. Nun würde mich interessieren: Was bedeutet aber ALLES? Und wie würden Sie Erfolg definieren?

Haha, ja, beruflich alles erreicht zu haben bedeutet in der heutigen Zeit, die größtmögliche Selbstoptimierung geschafft zu haben. Materieller Reichtum, Macht oder Ruhm, am besten alles zusammen. Sogesehen sind folglich die Donald Trumps dieser Welt unsere Besten. Wenn wir Erfolg definieren wollen, müssen wir uns also die Zielsetzung anschauen. Und da landen wir wieder beim Einzelnen. Welches Ziel verfolgen wir? Wir haben aus den Augen verloren, welch fundamentaler Einfluss unsere Umwelt auf unser Wohlbefinden hat. Wir empfinden immer dann Glück, wenn auch die anderen um uns herum glücklich sind. Schön finden wir die unberührte Natur, tun aber alles, um sie zu zerstören. Wir sehnen uns nach Liebe, aber behandeln uns wie Wettbewerber. Ich könnte noch viele Beispiele machen, wie weit sich unsere heutigen Zielsetzungen von dem entfernt haben, was uns als Mensch wirklich erfüllt. Der größte Erfolg besteht darin, dass man sich auf seinem Sterbebett im Frieden mit sich selbst befindet und sein Leben nicht bereut. Das ist heutzutage leider nicht mehr vielen vergönnt, die „Forever young“-Gesellschaft hat zum Sterben eigentlich gar keine Zeit.

In Ihrem letzten Buch „Brahman“ stellen Sie die Frage „Wer UND was sind wir?“ Aber wie lautet denn die Antwort?

Die Frage nach dem „Wer und was wir sind“ halte ich für die für jeden von uns wesentlichste Frage aller Fragen. Wir identifizieren uns mit einer von unseren äußerlichen Erfahrungen geprägten Vorstellung von uns. Wir denken uns das aus, wer wir sind, oder vielleicht besser gesagt, wir bilden uns das ein. Wir beantworten diese Frage also nicht (mehr) aus Selbst-Erkenntnis heraus, sondern wir versuchen, unsere zugedachte Rolle bestmöglich zu spielen. So entsteht das, was wir Persönlichkeit nennen.

Die Schwierigkeit besteht (nun) darin, diesen Diskurs überhaupt zu führen, denn die meisten können sich das überhaupt nicht mehr vorstellen, dass sie etwas über die Person hinaus sein „könnten“. So wird dies von vielen schnell als philosophischer oder gar esoterischer Quatsch abgetan. Das lässt sich überhaupt nur aufbrechen, wenn anstelle von Ignoranz und Zynismus wenigstens Neugier entsteht. Genau diese Neugier, diese Lust am Entdecken, wer und was wir eigentlich wirklich sind, versuche ich zu entfachen.

Foto: Bernd Kolb

Wer viel Zeit mit Social Media verbringt, ist ununterbrochen Kaufanreizen, Konsum und Versprechungen ausgesetzt. Sehen Sie darin eine Gefahr?

„Soziale Medien“ als Begriff ist an sich eine fast schon unverschämte Lüge. Eine Mogelpackung, die genau das Gegenteil des eigentlichen Inhalts verspricht. So etwa wie „autonomes Fahren“. Das einzige autonome Fahren, dass es gibt, ist, wenn ich selbst am Steuer sitze und autonom bestimme. Der ehrliche Begriff wäre also „computergesteuertes Fahren“. Es sei denn, dass wir unsere Autonomie an künstliche Intelligenz abgeben wollen. Dann wird der Computer autonom und der Begriff stimmt wieder. In dieser Logik müsste es „Assoziale Medien“ heissen, wenn wir damit Facebook und andere mediale Internetplattformen meinen. Nirgendwo im sozialen Raum, in dem wir uns bewegen, wird bereits heute so viel künstliche Intelligenz eingesetzt, wie bei Facebook, Twitter, Google und Amazon. Gigantische Monopole, die auf subtile, für die meisten unsichtbare Art und Weise manipulieren, was wir glauben, was wir meinen und was wir kaufen. So wurden bereits große politische Entscheidungen manipuliert, allen voran der Brexit in England und die amerikanische Präsidentschaftswahl. Soziale Medien verengen unsere Weltsicht zunehmend, weil wir künstlich intelligent permanent in unseren Glaubenssätzen bestätigt werden- ohne dies zu erkennen. „Fake News“ heisst das neue Zauberwort, wir glauben nur noch, was wir glauben wollen. Ein Beispiel: Im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf poppte auf einmal eine Meldung auf, dass der Papst eine persönliche Empfehlung für die Wahl Trumps ausgesprochen hat. Fake News? „Wer weiss“ ist nicht mehr das Paradigma, sondern „wers glaubt“. Wer ruft beim Papst an und fragt ihn, ob er das auch wirklich gesagt hat? Selbst wenn ein offizielles Dementi des Vatikans gekommen wäre(!)- wer glaubt nun ans Dementi? So verbreitet sich ein undurchdringbarer Nebel um uns herum, in dem wir uns zunehmend selbst, aber auch gesellschaftlich verirren. Deshalb wäre es richtiger, von „Asozialen Medien“ zu sprechen, denn nichts befördert die Spaltung unserer Gesellschaft tiefgreifender als die schöne neue digitale Welt. Wer also die „digitale Transformation“ zum Segen der Menschheit hochlobt, darf sich nicht wundern, wenn wir eines Tages „chinesische Verhältnisse“ bekommen. Wer jetzt wissen will, was ich damit meine, sollte mal „China Social Credit System“ „googeln“. Aber auch hier gilt zumindest im Westen: Zu einer Dummheit gehören immer zwei.

Schauen wir in die Zukunft: Denken Sie, dass wir weiterhin in unserer westlichen Welt so zerstörerisch gegenüber uns selbst, der Natur und unseren Mitmenschen handeln werden? Und wie könnte eine positive und nachhaltige Gestaltung der Zukunft aussehen?

Noch kann niemand kann voraussagen, was WIR in Zukunft tun und lassen werden. Wenn ich sage „Noch“, dann meine ich damit, dass wir in einigen Teilen der Welt, zu denen auch Deutschland gehört, „noch“ die Freiheit haben, über uns selbst und damit auch über unsere persönliche Zukunft zu bestimmen. Dieses historisch einmalige Fenster, daß sich durch die Idee der vernunftbasierten, freiheitlichen Demokratie geöffnet hat, beginnt sich wieder zu schließen. WIR sind also die Generation, die es „noch“ in der Hand hat, selbst auf die Entwicklungen der Zukunft Einfluss zu nehmen, ob wir wollen oder nicht. Dieser historischen Verantwortung müssen wir uns dringendst bewusst werden.