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Eiskalter Urlaub: Tourismus in der Arktis boomt – und ist ebenso wichtig wie schädlich

Vor zwei Jahrhunderten war er das Ziel unerschrockener Seeleute. Heute ist der Nordpol das Reiseziel unterhaltungshungriger Touristen und wird bei Urlauber:innen immer beliebter. Was ist von dem Reisetrend zu halten? Anna Gielas forscht zu den Polarregionen und schreibt für Qiio ihre Gedanken auf.

Bildquelle: Dominique Müller, Pexels

Die Arktis bedeckt 16,5 Millionen Quadratkilometer der Erdoberfläche. Sie ist größer als ganz Europa. Die meisten von uns sehen im fernen Norden nicht mehr als Schnee, Eis und Wasser. Aber für vier Millionen Menschen ist der Nordpol die Heimat, die sich rasend schnell verändert. In einigen Regionen, die vor wenigen Jahren noch mit Schnee und Permafrost bedeckt waren, blühen jetzt im Sommer bunte Pflänzchen. Das mag schön aussehen, aber der schützende, kühlende Effekt, den Frost und Schnee auf das Erdklima ausüben, geht mit der tauenden Landschaft verloren. In anderen Teilen der Arktis weicht der Schnee, aber dort bleibt eine grau-braune marsähnliche Landschaft zurück. Bei diesem Anblick packen mich Hilflosigkeit und Scham. Hilflosigkeit, weil ich so wenig ausrichten kann und Scham, weil wir kollektiv so wenig unternehmen. Der finnische Forscher Panu Pihkala würde meine Gefühle als Climate Grief bezeichnen.

Doch was für mich ein Grund zum Trauern ist, ist für andere ein Grund zur Freude. Das gilt besonders für touristische Unternehmen. 2007 brachten Besucher:innen der US-amerikanischen Arktis kaum 750.000 US-Dollar in die Kassen. Ein Jahrzehnt später waren es bereits knapp 16 Millionen US-Dollar. Insgesamt ist der arktische Wintertourismus zwischen 2006 und 2016 um 600 Prozent gewachsen. Fachleute sprechen von einer „Arktifizierung” der Tourismusbranche. Zu den Hauptattraktionen zählen die Besuche indigener Dörfer sowie Kreuzfahrten mit Gletscherführungen.

Ausgerechnet der Klimawandel ermöglicht den aktuellen Reiseboom. Er begünstigt die Eisschmelze, wodurch erstmals Urlaub in Gebieten möglich ist, in denen noch vor einigen Jahrzehnten undurchdringliches Eis herrschte. Vor vierzig Jahren legten Passagierschiffe in den Gewässern der kanadischen Arktis nur 3496 Kilometer zurück – vor rund zehn Jahren waren es bereits 68384 Kilometer.

Bildquelle: Iakub Arifulin, Pexels

Viele kanadische Inuit betrachten den Fremdenverkehr als eine große Chance. Das indigene Volk der Inuit (Inuit: die Personen; Inuk: die Person) bewohnt Regionen, die zu den größten und nördlichsten der Welt gehören: Inuit leben im Norden Kanadas und auf Grönland, ebenso in Teilen des US-amerikanischen Bundesstaates Alaska. Sie werden auf insgesamt 180.000 Menschen geschätzt und sind seit rund 5000 Jahren ist der Arktis beheimatet. Aber die Kolonialisierung im Laufe der letzten Jahrhunderte sowie Regierungsmaßnahmen in den letzten hundert Jahren stürzten die Inuit in Armut. Heute leiden sie unter einer der höchsten Armutsquoten der Welt. Deshalb weckt der Zustrom chinesischer, US-amerikanischer und anderer Tourist:innen ihre Hoffnungen auf den wirtschaftlichen Aufschwung.

So etwa in Pond Inlet im kanadischen Territorium Nunavut. Indigene Reiseorganisatoren nennen den Ort mit seinen knapp 2000 Einwohnern „das Juwel des Nordens“. Dieser zieht so viele Gäste aus aller Welt an, dass das Durchschnittseinkommen des Örtchens auf über 89000 kanadische Dollar pro Person geklettert ist –  in einer Region, in der davor sieben von zehn Kindern ohne Ernährungssicherheit aufgewachsen sind.

Allerdings heißen nicht alle Inuit in Pond Inlet und anderen Gemeinden den Tourismus willkommen. Am häufigsten kritisieren sie, dass zu viele Tourist:innen auf einmal da seien. In Gesprächen mit Forscher:innen beschreiben sie ein „Gefühl des Eindringens“ gegenüber den Besucher:innen. Die Inuit sind auch besorgt über die Verschmutzung des Wassers, etwa im kanadischen Örtchen Gjoa Haven. Dort leben die Einwohner:innen von der Jagd auf Meeressäugetiere. Entsprechend groß ist ihre Angst vor Ölverschmutzungen und anderen Verunreinigungen durch Touristenschiffe.

Bildquelle: Mark Neal Pexels

Einmal die Arktis besuchen, bevor ihre eisige Schönheit für immer dahinschwindet

Auf der benachbarten Insel Grönland werben Einwohner:innen mit schmelzenden Gletschern: „Einmal die Arktis besuchen, bevor ihre eisige Schönheit für immer dahinschwindet“. So werden gefährdete Ökosysteme zum Urlaubsziel. Auch in Grönland sind die Inuit auf den Tourismus angewiesen. Hier haben einige indigene Gemeinden nach wie vor keinen Zugang zu sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen. Die Multimillionen-Dollar-Industrie der Kreuzfahrten mit Gletscherbesichtigungen weckt auch hier große Hoffnungen und trägt bereits ihren eigenen Namen: „Last Chance Tourism“. Dabei verschärft der wachsende Touristenandrang die ökologische Krise, denn wo Kreuzfahrtschiffe sind, ist auch Luftverschmutzung: Regelmäßig erhöhte Konzentrationen von Rußpartikeln, Kohlenstoffdioxid und anderen Emissionen können die Eisschmelze beschleunigen. Es ist ein Teufelskreis zum Haareraufen: Je mehr Besucher:innen die schmelzenden Gletscher erleben wollen, desto mehr trägt der Tourismus zu der Schmelze bei, was noch mehr Last-Chance-Reisende in die Arktis lockt. Ich wünschte, die Gletscherfahrten würden der Umwelt und damit letztlich uns Menschen zuliebe unterbunden.

Allein im arktischen Städtchen Longyearbyen auf Spitzbergen laufen rund 1100-mal pro Jahr Touristenschiffe in den Hafen ein. Manchmal sind 3500 Leute an Board – das ist mehr als die Gesamtbevölkerung Longyearbyens.

Obwohl weniger Kreuzfahrtschiffe als Frachtschiffe die arktische Region befahren, verursachen sie mehr Emissionen. Dazu kommen der Abfall und das Abwasser, die auf den Touristenschiffen entstehen. Viele arktische Gemeinden besitzen keine Einrichtungen, um ihre eigenen Abfälle umweltgerecht zu entsorgen, ganz zu schweigen von denen der Touristenschiffe. Das verleitet Anbieter dazu, sowohl den Abfall als auch das mit Schweröl verunreinigte Abwasser der Schiffe im arktischen Ozean zu versenken. Dabei sind Ölverschmutzungen am Nordpol besonders problematisch. Aufgrund ungünstiger Wetter- und Meeresbedingungen sowie der anhaltenden Dämmerung und Dunkelheit während des arktischen Winters können die Verschmutzungen nicht wie anderswo eingedämmt werden. Das vervielfacht die schwerwiegenden Auswirkungen solcher Vorfälle auf die polaren Ökosysteme.

Bildquelle: Nacho Canepa, Pexels

Wie lassen sich die Schattenseiten des arktischen Tourismus‘ mit seinen Vorteilen in Einklang bringen? Nachfolgend einige Möglichkeiten:

  1. Buche bei Reiseanbietern, die gezielt mit lokalen Naturschutzorganisationen zusammenarbeiten. So lässt sich die arktische Flora und Fauna aus nächster Nähe erleben und du trägst gleichzeitig zu ihrem Schutz bei.
  1. Wähle Reiseveranstalter, die an dem „Stille-Projekt” teilnehmen. Die Idee dahinter: die arktische Umwelt bewusst erleben und Lärmverschmutzung (etwa durch Schneemobile und Kreuzfahrtschiffe) eindämmen.
  1. Arbeite mit Wissenschaftler:innen zusammen. Im Rahmen von „Citizen Science“ und „Public Participation in STEM Research“ können Freiwillige beispielsweise Wasserproben entnehmen – etwa zur Untersuchung des Phytoplanktons und der generellen Verfassung des arktischen Gewässers. So bekommt dein Urlaub einen Nutzen für die Allgemeinheit.
  1. Meide Reiseanbieter, die mit exotischen und kaum bereisten Zielen werben. Bei solchen Zielen ist die Infrastruktur für Abfallentsorgung meistens nicht vorhanden. Außerdem ist gerade in entlegenen arktischen Gegenden die Tierwelt das Eindringen des Menschen nicht gewohnt und könnte Schaden nehmen.
  1. Wenn dich ungewöhnliche Reiseziele locken, wähle jene, die entsprechend für Touristen ausgebaut sind, etwa die Region Strandir in Island mitsamt dem dortigen Museum für isländische Zauberei und Hexerei. Das Museum hat historische Wurzeln, denn die Menschen in Strandir glaubten jahrhundertelang an Hexerei. Das Museum und die Region wurden in den letzten Jahren extra für Touristen ausgebaut, weil die Fischerei, von der die Einwohner Strandirs früher lebten, eingegangen ist. Dein Besuch kommt den Einwohner:innen zugute.
  1. Bedenke bei deiner Reiseplanung auch, dass indigene Gemeinden „das Gefühl des Eindringens“ gegenüber Besuchern hegen können. Bezieh diese Vorbehalte bewusst in deine Urlaubsplanung ein, indem du den Veranstalter und die Termine so auswählst, dass du indigene Gemeinden in einer kleinen Reisegruppe besuchst.
  1. Um die arktischen Ökosysteme zu schützen, solltest du nicht am falschen Ende sparen: Hier gilt es nicht den billigsten Anbieter auszusuchen. Entscheide dich stattdessen für jenen, dessen Wasserfahrzeuge jährliche Überprüfungen und Kontrollen bestehen und der entsprechende Zertifikate für umweltfreundlichere Schiffsantriebe vorweisen kann.

Aber an erster Stelle sollte nicht der Konsum, sondern der Schutz der Arktis stehen. Deshalb würde ich raten: Verzichte auf Flüge in die kanadische und US-amerikanische Nordpolregionen. Fahr lieber mit dem Zug oder dem Bus in die skandinavischen Teile der Arktis. Schweden, Norwegen und Finnland haben die entsprechende Infrastruktur und dein CO2-Fußabdruck bleibt dadurch deutlich geringer. Auch indigenen Bewohner:innen kannst du helfen, ohne einen Fuß in ihre Heimatorte zu setzen – etwa über Einrichtungen wie Tungasuvvingat Inuit. „Last Chance Tourism“ lässt sich in den polaren Regionen nicht reinen Gewissens betreiben, denn er verkörpert die zerstörerischen Ausmaße des heutigen Konsums: Tourist:innen bezahlen dafür, dem Verfall unserer Umwelt beizuwohnen – und treiben ihn dadurch weiter an.