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Bild: David Buchholz

Kluft und Liebe – Josephine Apraku über die systemische Unterdrückung in Paarbeziehungen

Heiraten im weißen Kleid. Der Mann, der auf die Knie geht. Ist das die wahre Liebe? Nein, sagt Autor:in und Afrikawissenschaftler:in Josephine Apraku. „Die weit verbreitete romantisierte Überhöhung der Liebe wird dieser nicht gerecht und nimmt ihr zugleich ihr visionäres Potenzial”, schreibt Apraku in dem neuen Buch Kluft und Liebe (2022). Die realen Herausforderungen, die mit der Liebe in einer diskriminierenden Gesellschaft einhergehen, so Apraku, würden durch die Disney-Vorstellung von Liebe verschleiert. Wenn sie aber als machtkritische Praxis gelebt wird, hat die Liebe noch viel mehr Strahlkraft als bei Disney. Was Ungleichheiten in Beziehungen bedeuten können und wie wir damit umgehen, erklärt Apraku im Qiio-Gespräch.

Was hat dich dazu bewegt, ein Buch zum Thema Beziehung und Ungleichheit zu schreiben?

Zum einen meine persönliche Erfahrung: Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich im Alter von 15-16 Jahren schon in meiner ersten Beziehung gemerkt habe, dass wir total unterschiedliche Arten haben, die Welt wahrzunehmen und wahrgenommen zu werden. Mein Freund hat damals Politikwissenschaften studiert und sagte so etwas wie: ‘Im Zweifelsfall für die Mehrheit, denn das ist die Normalität.’ Ich weiß nicht mehr genau, worüber wir diskutiert haben, aber ich weiß noch, dass ich das problematisch fand. Vor einigen Jahren hatte ich dann eine Trennung und hatte das Bedürfnis, mich stärker damit zu beschäftigen, was Liebe eigentlich ist. Also auch aus der Fragestellung heraus: Wenn Unterdrückung die Normalität ist, was ist dann eigentlich Liebe?

Du hast also in deinen eigenen Beziehungen Ungleichheiten festgestellt und dann bemerkt, dass es nicht nur deine Beziehungen betrifft, sondern Beziehungen grundsätzlich. Sind alle Beziehungen von Ungleichheiten betroffen?

Ja. Mit Anfang 20 konnte ich das noch nicht so genau benennen, aber mit Mitte 20 ist es für mich immer deutlicher geworden, wo und wie Unterdrückung in Liebesbeziehungen wirkt, und was sie mit Sozialisierung zu tun hat.

Sind einige Paare mehr von Ungleichheiten betroffen als andere, zum Beispiel BIPoCs oder nicht heteronormative Paare?

Das glaube ich nicht. Ich habe manchmal den Eindruck, dass es den Leuten, die Diskriminierung erfahren, eher auffällt. Aber es ist immer eine Frage der Machtverteilung. Unsere soziale Position und die unserer Beziehungsperson hat einen großen Einfluss darauf, wie wir Macht innerhalb einer Beziehung aushandeln. Wenn zum Beispiel eine weiße Frau mit einem Schwarzen Mann zusammen ist, dann ist es oftmals so, dass weiße Menschen ihre Privilegien im Konflikt ausspielen. Oder, dass zum Beispiel BIPoC Männer ihre Privilegien als Männer ausspielen. Wenn eine Person, die insgesamt deutlich mehr Zugang zu sozialer Macht hat, mit einer Person zusammen ist, die das im Verhältnis deutlich weniger hat, dann macht das natürlich was mit den Beziehungsdynamiken. Ich glaube nicht, dass es Beziehungen gibt, bei denen Diskriminierung gar keine Rolle spielt. Ich glaube, die Frage ist eher, wie sie eine Rolle spielen. Denn selbst in gleichgeschlechtlichen Partner:innenschaften, in denen die Personen die gleiche soziale Position haben, kann etwa der unterschiedliche Umgang mit der eigenen sexuellen Orientierung zu Konflikten führen.

In deinem Buch Kluft und Liebe bezeichnest du strukturelle Diskriminierung als „schleichendes Gift”. Zerstört strukturelle Diskriminierung Beziehungen?

Ich glaube schon. Was ich spannend finde: In der Literatur einiger Therapeut:innen finde ich das mit Blick auf Sexismus tatsächlich genau so aufgeschrieben. Wenn zum Beispiel Sexismus in heterosexuellen Beziehungen zu so viel Ungleichberechtigung führt, wirkt sich das negativ auf die Beziehung aus. Es gibt Forschung, die belegt, dass Beziehungen, in denen Gleichberechtigung gelebt wird, glücklicher sind. Ich würde sagen, das gilt im Grunde für alle Formen von Diskriminierung.

Werden wir innerhalb unserer Beziehung zu Täter:innen der Unterdrückung?

Ja, auf jeden Fall. Ich glaube, die Herausforderung – und deswegen spreche ich ja auch von schleichendem Gift – besteht darin, zu erkennen, dass Unterdrückung zur Normalität im Alltag gehört. Das heißt, es können oft Sachen sein, die uns nicht problematisch erscheinen, die wir wiederholen, die aber dafür sorgen, dass sich eine Person nicht wohlfühlt, bestimmte Themen anzusprechen oder sich auch in Gänze zu zeigen. Ich glaube, das hat großen Einfluss darauf, wie vertraut, intim und wie gegenseitig eine Liebesbeziehung als geteilter Raum überhaupt sein kann.

Unterdrückungsmuster funktionieren manchmal unbewusst. Als ich anfing, Kluft und Liebe zu lesen, bin ich als PoC-Frau mit dem Mindset einer Unterdrückten an das Buch herangegangen, um dann zu merken, dass ich genauso Unterdrückerin sein kann. Werden manchmal Unterdrückte zu Unterdrückern?

Ja, absolut, und es kommt noch ein anderer Punkt hinzu: Ich kann ja auch schlecht einschätzen, wie die Leute positioniert sind, die das Buch lesen und mit wem sie zusammen sind. Ich habe versucht, es an mir selbst durchzudeklinieren. Natürlich erfahre ich Rassismus, aber es gibt auch Aspekte und Momente von Rassismus, die ich zum Beispiel im Hinblick auf eine deutsche Staatsbürger:innenschaft nicht erlebe. Gerade aus einer intersektionalen Perspektive ist es wichtig, immer wieder wahrzunehmen, dass auch ich in bestimmten Zusammenhängen durchaus privilegierte Momente habe. Zum Beispiel, dass ich als cis Person wahrgenommen werde, dass ich fließend Deutsch spreche oder mich auf eine bestimmte Art ausdrücken kann, die als akademisch gewertet wird. Das heißt nicht, dass ich keinen Rassismus erfahre, aber es bedeutet auch, dass ich von bestimmten rassistischen Momenten unter Umständen weniger betroffen bin. Je nachdem, mit welcher Person ich zusammen bin, kann sich diese Konstellation durchaus auch ändern. Ich könnte mit einer Person zusammen sein, die von Sexismus, Rassismus und Colorism negativ betroffen ist. In dem Zusammenhang kann ich dann durchaus die Person, von der die Unterdrückung ausgeht.

“Wenn wir nicht dafür sorgen, dass eine gewisse Gleichberechtigung in unseren Beziehungen gelebt wird und Unterdrückungen in Beziehungen nicht wiederholt werden, dann trennt uns das in Beziehungen.” Bild: David Buchholz

Im Buch schreibst du, dass Gefühle politisch sind. Was meinst du damit?

Ich beziehe mich da unter anderem auf den Forschungsbereich Racial Identity Development. Dieser Forschungsbereich ist gar nicht so neu, den gibt es schon seit 40 Jahren. Mir ist es deshalb wichtig, das zu sagen, weil oftmals so getan wird, als wären das alles komplett neue Erkenntnisse, die erst in den letzten paar Jahren aufgekommen sind. Was ich im Zusammenhang mit Racial Identity Development besonders spannend finde, ist die Tatsache, dass Emotionen immer eine Rolle spielen und dass sich diese unterschiedlich äußern, etwa das weiße Menschen in der Beschäftigung mit Rassismus oft Gefühle von Schuld und Scham verspüren. Die Art und Weise, zu welchen Zeitpunkten und in welchen Zusammenhängen wir welche Emotionen zeigen, aber auch, wie andere Menschen unsere Emotionen wahrnehmen und welche Emotionen uns zugeschrieben werden, sind politisch. Gerade mit Blick auf Rassismus gibt es das Stereotyp der „Angry Black Woman” – die beständige Unterstellung von Aggressivität selbst in Zusammenhängen, wo Aggressivität eigentlich keine Rolle spielt. Oder mit Blick auf Ableismus zum Beispiel, die Vorstellung von den „glücklichen, behinderten Menschen”, die einfach nur glücklich sind, weil sie keine Ahnung haben, wie die Welt funktioniert. Diese Zuschreibungen, die mit Diskriminierung einhergehen, beeinflussen auch, wie wir in Liebesbeziehungen in Konflikte treten.

Es gibt viele Klüfte: Rassismus, Sexismus, Klassismus usw. Gibt es überhaupt Beziehungen ohne Klüfte? Sind diese Klüfte nicht eigentlich etwas ganz Normales und die Liebe das, was die Klüfte überbrücken kann?

Ich glaube nicht, dass es Beziehungen gibt, in denen Unterdrückung gar keine Rolle spielt. Ich beziehe mich zum Beispiel an einer Stelle auf den Podcast von Esther Perel, die sich in einer Folge mit der Beziehung eines gleichgeschlechtlichen Paares beschäftigt, in der der jeweilige Umgang mit der Unterdrückungserfahrung total unterschiedlich ist. Und das wiederum führt zu Konflikten. Das sage ich, weil es oftmals diese vereinfachte Vorstellung gibt, wenn Schwarze Menschen mit Schwarzen Menschen zusammen sind oder Frauen mit Frauen, dann ist die Unterdrückung aufgehoben. Aber so einfach ist es eben nicht, weil wir in der Regel intersektional positioniert sind. Wenn jetzt eine Schwarze Frau mit einem Schwarzen Mann zusammen ist, dann gibt es aber trotzdem noch die sexistische Komponente. Liebe an sich überbrückt die Klüfte nicht, zumindest nicht so, wie wir sie gesamtgesellschaftlich verstehen. Dafür müssen wir erstmal verstehen, was wir eigentlich meinen, wenn wir Liebe sagen. Dieses gesamtgesellschaftliche Verständnis, in dem Ausdrücke wie ‘Mord aus Leidenschaft’ oder ‘Stalking aus Liebe’ normal sind, in der auch die letzten Stufen der Gewalt immer noch unter Liebe verhandelt werden, werden uns nicht helfen, einen angemessenen Umgang mit Unterdrückung zu finden. In diesem Zusammenhang bleibt Unterdrückung die Normalität und wird nicht hinterfragt. Deswegen finde ich es wichtig, dass wir uns diesen Begriff aneignen und uns fragen: Was meine ich eigentlich, wenn ich Liebe sage? Für mich hat im Zusammenhang mit Liebe Gewalt keinen Raum. Das ist auch nicht meine eigene Definition, sondern die Definition von zwei Psychoanalytikern, auf die ich mich beziehe, nämlich Erich Fromm und M. Scott Peck, die wahrgenommen haben, dass, weil es dieses gesellschaftliche Verständnis gibt, Leute oftmals etwas als Liebe wahrgenommen haben, was eigentlich Manipulation oder Gaslighting war. Deswegen sollten wir einen Schritt zurückgehen und sagen: Das, was hier gerade passiert, hat mit Liebe nichts zu tun, sondern ist eine Beschneidung meiner Menschlichkeit. Ich finde, es ergibt total Sinn, dies auch direkt mit Blick auf Unterdrückung weiterzudenken. Denn Unterdrückung ist definitiv eine Beschneidung unserer Menschlichkeit, und zwar unser aller Menschlichkeit.

Heißt das, wir haben als Gesellschaft eine falsche Definition von Liebe?

Sie ist unvollständig. Es fehlt eine Definition von Liebe aus einer machtkritischen Perspektive. Gerade auch in paartherapeutischen Zusammenhängen wird Liebe oftmals als Wert verstanden. Dann ist sie etwas, was wir praktizieren, was wir kultivieren, etwas, das wir tun. Wir können nicht einfach sagen: ‘Ich liebe dich’ und dann nichts tun, was damit auf einer Linie ist. Ich glaube, es ergibt Sinn, diese Ansätze von Liebe auch explizit mit Unterdrückung in Relation zu setzen.

Würdest du sagen, die Liebe ist ein Werkzeug gegen die soziale Ungleichheit oder die soziale Ungleichheit eher ein Werkzeug gegen die Liebe?

Ich glaube, beides ist wahr. Je nachdem, wie wir Liebe verstehen wollen. Wenn wir Liebe nicht definieren, wenn wir offenlassen, was das für uns bedeutet, dann ist es ein Werkzeug, um Unterdrückungen bestehen zu lassen, weil dann ja sogar unterschiedliche Formen von Gewalt als Zeichen von Liebe deklariert werden können. Wenn wir Liebe als machtkritische Praxis, als Abwesenheit von Gewalt definieren, dann kann Liebe durchaus ein Werkzeug gegen Unterdrückung sein. Und hoffentlich nicht nur in der Liebesbeziehung, sondern auch darüber hinaus.

Es gibt auch Beziehungen mit Machtgefällen, die in Zweisamkeit gut funktionieren, aber durch Druck von außen leiden oder sogar zerbrechen. Hast du damit Erfahrungen gemacht?

Oftmals, wenn wir über Diskriminierung und Liebesbeziehungen sprechen, ist das das Erste, was den Leuten einfällt. Zum Beispiel, dass ein Paar von Rassismus oder Ableismus unterschiedlich betroffen ist. Natürlich gibt es Dinge von außen, wie zum Beispiel institutionalisierte Diskriminierung – Wer darf heiraten, wer darf Kinder adoptieren – oder auch, dass eine Person beständig Mikroaggressionen erfährt und deren Beziehungsperson(en) nicht. Mein Punkt ist, dass viele Momente von Diskriminierung auch außerhalb einer Beziehung stattfinden und sich trotzdem auf diese auswirken. Wir können die Gesamtheit von Unterdrückung nicht in oder mit einer Liebesbeziehung auflösen, das ist nicht realistisch. Eben deshalb erscheint mir die Frage, wie diese Menschen das in ihrer Beziehung verhandeln, so zentral. Wir können gemeinsam überlegen, wie wir in der Beziehung damit umgehen wollen, wenn etwa eine Mikroaggression geäußert wird. Gehen wir gemeinsam aus der Situation? Sagt die Person, die nicht betroffen ist, etwas? Das sind Dinge, die wir auch im Vorhinein besprechen können.

Was ist mit anderen Beziehungen, zum Beispiel Freundschaften?

Der Blick auf Freund:innenschaft ist genauso wichtig. Ich glaube, dass das total wichtige Liebesbeziehungen sind, die oftmals nicht als Liebesbeziehungen verhandelt werden. Zum anderen würde ich auch behaupten, dass wir das, was Liebe als machtkritische Praxis machen könnte, in allen Beziehungen üben können. Eine Freundin von mir, hat das letztens sehr schön beschrieben: „In meinen Freund:innenschaften, habe ich mehr über Liebe als Praxis gelernt, als irgendwo sonst.“

Eigentlich daten wir meistens innerhalb unserer eigenen Blase. Warum gibt es auch heute noch in Beziehungen kaum soziale Mobilität?

In der Regel ist unser Alltag so stark von Segregation geprägt, dass wir mit Blick auf die verschiedenen Formen von Diskriminierung vor allem Menschen um uns haben, die uns ähnlich sind. Der andere Punkt ist, dass unsere Vorstellungen von Attraktivität zutiefst von unterschiedlichen Formen von Diskriminierung geprägt sind. In dem Zusammenhang werden vor allem weiße, normschlanke, cis Menschen ohne sichtbare Behinderungen als attraktiver wahrgenommen. Wir haben von klein auf gelernt, zu lesen, wahrzunehmen und dann einzuteilen, welche Personen „wertig” sind und welche nicht. Wir nehmen diese Kategorisierungen binnen Bruchteilen von Sekunden vor. Da geht es in der Regel weniger darum, ob diese Person zu mir passt oder ob sie eine ähnliche Beziehungsform will. Die Frage wird am Anfang gar nicht gestellt. Das gilt nicht nur für Leute, die auf Dating-Apps unterwegs sind, sondern im Grunde lassen sich die Forschungsergebnisse, die auf Dating-Apps gemacht werden, auch in Situationen, in denen Menschen sich nicht digital kennenlernen, nachstellen. In dem Punkt gibt es keinen großen Unterschied zwischen dem digitalen und dem analogen Kennenlernen.

Was sollte die Gesellschaft über Liebe lernen?

Ich würde mir wünschen – besonders auch für aktivistische Kontexte –, dass wir Liebe als Praxis leben. Denn die Herausforderung ist doch, dass wir zwar den Wunsch hegen, Unterdrückung zu überwinden, aber wir alle nicht mit den Werkzeugen aufwachsen diese Vision zu versuchen. Dafür brauchen wir, meine ich, schon jetzt eine liebevolle politische Praxis miteinander.

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Bild: Daham Choi

Über die Interviewpartnerin:

Josephine Apraku ist Afrikawissenschaftler:in und Referent:in für intersektionale rassismuskritische Bildungsarbeit. Als Lehrbeauftragte:r hat Josephine unter anderem an der Alice Salomon Hochschule und der Humboldt-Universität zu Berlin unterrichtet. Darüber hinaus schreibt Josephine als Kolumnist:in für Magazine wie EDITION F und Missy Magazine. Josephines Buch Kluft und Liebe ist 2022 bei Eden Books erschienen.

Mehr zum Thema Finanzen und Beziehungen in unserem Kompendium Uncoupling Love and Finance.