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Illustration: Paula Günther

Mann oder Bär: Wie ein TikTok-Trend patriarchale Gewalt sichtbar macht

Mal ehrlich: Wem würdet ihr lieber allein im Wald begegnen – einem unbekannten Mann oder einem Bären? Seit einigen Wochen greifen zahlreiche Medien diese auf TikTok entstandene Frage auf. Egal ob in Straßeninterviews oder in Kommentarspalten auf Social Media: Die Wahl des Bären dominiert. Und die Erklärung dafür ist so einfach, wie sie traurig ist.

Als der Influencer »Call Me BK« in einem Video im März darüber sprach, dass einige seiner Freund:innen nicht grundlos Abneigungen gegen cis Männer entwickelt hätten, ahnte er wohl nicht, dass er einen viralen TikTok Trend in Gang setzen würde. In besagtem Video suchte er eine Erklärung für besagte Einstellung und wandte ein, dass die eigentliche Abneigung nicht gegen Männer per se sei, sondern sich gegen das Konzept des (toxischen) Mannseins, wie es patriarchale Strukturen fördern, richte. “Sie haben Angst vor Männern”, sagt er und schlussfolgert seine Überlegung mit dem folgenschweren Satz: “Wenn man allein im Wald ist, ist es zehnmal angsteinflößender, einen Mann zu sehen als einen Bären.”

Dieser Vergleich stilisierte sich binnen kürzester Zeit zur wohl viralen Gretchenfrage des Jahres 2024. “Mann oder Bär?” hieß es seitdem in unzähligen TikTok Videos, Reels, Straßeninterviews und Artikeln. Und für viele, mich eingeschlossen, wenig überraschend: Die meisten – darunter viele Frauen und weiblich gelesene Menschen – entscheiden sich in diesem Gedankenexperiment für den Bären. 

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Das Patriarchat nährt sich von weiblicher Angst

Die Begründungen dafür sind zahlreich: Der Bär könne einen zwar verletzen, aber immerhin würde die Gesellschaft die Bärenattacke glauben. Der Bär könne einen zwar töten, aber immerhin nicht sexuell missbrauchen. Zusammengefasst: Der Bär wird im Vergleich zum Mann in diesem Gedankenspiel zur abschätzbaren und dadurch annehmbaren Wahl. Auch wenn man in der Realität natürlich weder von dem einen noch vom anderen attackiert werden möchte.

Hinter dem TikTok-Gedankenexperiment steckt eine traurige Wahrheit. Laut Statistik erlebt jede vierte Frau mindestens einmal in ihrem Leben körperliche, sexualisierte oder psychische Gewalt durch einen Mann. Noch bis zum vergangenen Jahr wurde jeden dritten Tag ein Femizid begangen, mittlerweile ist es laut dem Lagebericht des BKAs jeden zweiten Tag. Diese Statistiken bilden nicht nur die reale Situation davon ab, wie Gewalt gegenüber Frauen (auch weltweit) steigt. Sie verstärken indirekt auch ein für viele Frauen sowieso schon “immer dagewesenes” Gefühl der Angst, zumindest aber des Unwohlseins gegenüber vielen Männern.

Laut Kulturwissenschaftlerin Pumla Dineo Gqola ist das kollektive Angstgefühl, mit dem viele Frauen aufwachsen und leben, das Ergebnis der sogenannten Female Fear Factory – einem patriarchalen Konstrukt, dass Mädchen und Frauen von klein auf vermittelt: Sei vorsichtig, damit dir nichts passiert. Ergo: Wenn dir in der Welt etwas passiert, dann deshalb, weil du nicht gut genug auf dich selbst aufgepasst hast. Täter-Opfer-Umkehr lässt grüßen.

Gängige Tipps, die ich und auch viele Frauen in meinem Umfeld von klein auf mitbekommen haben: bestimmte Gebiete, vor allem nachts, zu meiden; stets aufmerksam gegenüber unserer Umgebung und den Personen in unserer Nähe zu sein, und dabei möglichst keine Kopfhörer zu tragen; unauffällige Kleidung zu tragen sowie im besten Fall Selbstverteidigungstechniken zu erlernen oder Selbstverteidigungswerkzeuge wie (das verbotene) Pfefferspray mit sich zu führen. Ziemlich einschränkend, oder?

Natürlich können solche Verhaltensmuster dazu beitragen, dass man sich besser schützen kann. Gleichzeitig sorgt es dafür, dass viele alltägliche Orte als Orte weiblicher Angst gebrandmarkt werden, die von Frauen und weiblich gelesenen Menschen gemieden werden sollten. Was paradox ist, denn Spielplätze, Clubs, Brückenunterführungen, die nächtliche leere Straße, das eigene Zuhause oder auch der Wald werden nicht durch mangelnde Vorsicht von Frauen gefährlich – sondern durch Täter, die sich an eben jenen Orten meist ohne Konsequenzen bewegen können.

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Wenn aus Frust Gewaltfantasien werden

In Reaktion auf die Viralität des Mann oder Bär-Vergleichs teilte der Influencer »Call Me BK« Anfang Mai ein zweites Video, in dem er erklärte, dass ihm bei seinem Gedankenexperiment von Anfang an klar gewesen sei, dass sich Frauen bei dieser Frage eher für den Bären entscheiden würden. Seine Absicht sei vielmehr gewesen, Männer einen Gedankenanstoß zu geben, warum Frauen spontan eine Begegnung mit einem Bären bevorzugen würden. Eine Reflexion, die zwar wichtig wäre, aber nicht überall Anklang findet. 

Im Gegenteil: Viele vorrangig männliche User echauffieren sich in den Kommentarspalten der Social-Media-Beiträge zum “Mann oder Bär”-Trend, dass dieses ganze Gedankenexperiment unsinnig sei. Andere basteln in ihrer Freizeit geschmacklose Memes, die Frauen zeigen, die von Bären angegriffen werden. Und wieder andere werden beleidigend und drohen jenen, die sich öffentlich für den Bären aussprechen, selbst Gewalt an – und bestätigen damit den Hintergrund des Gedankenexperiments noch einmal mehr.

Wie man an diesen Reaktionen sieht, ist es im Kampf gegen Gewalt an Frauen ziemlich redundant, schwerpunktmäßig der einen Hälfte der Bevölkerung zu raten, stets vorsichtig zu sein, anstatt der anderen Hälfte von klein auf beizubringen, sich respektvoll und angemessen zu verhalten. Was wir für eine gewaltfreie Zukunft wirklich brauchen, sind – neben konsequenten Strafverfolgungen und einem ausgebauten Sicherheitsnetz für Betroffene etwa in Form von Frauenhäusern – konstruktive Ansätze, die den Ursachen für die Gewalt gegen Frauen auf den Grund zu gehen. 

Die Leipziger Autoritarismus-Studie von 2022 hat in diesem Bereich einen ersten Schritt gemacht: Fiona Kalkstein, Gert Pickel, Johanna Niendorf, Charlotte Höcker und Oliver Decker verdeutlichen darin, dass antifeministische Weltbilder und Ansichten mit Aggressionen, Ressentiments und hegemonialer Männlichkeit  zusammenhängen. Laut ihren Ergebnissen zeigt sich außerdem, dass statistisch gesehen jeder dritte Mann in Deutschland ein geschlossenes antifeministisches Weltbild aufweist – 2020 war es noch jeder vierte Mann.

Wenn uns der “Mann oder Bär”-Trend also eine Sache vor Augen führt, dann ist es, dass die Gründe für Gewalt gegen Frauen besser und umfangreicher erforscht werden müssen. Und zwar nicht nur von Frauen und weiblich gelesenen Menschen selbst – Antifeminismus und das Patriarchat schaden schließlich allen Menschen, auch jenen Männern, die beides verinnerlicht haben. Dazu gehört auch, dass mehr Männer die Männlichkeitskonzepte, mit denen auch sie von klein auf konfrontiert werden, hinterfragen. Oder jene, die ihnen auf TikTok & Co durch toxische Personen vorgelebt werden. Denn auch Männer können Feminismus – wenn sie denn wollen. 

Ein Trend allein kann diese Art von Arbeit nicht bewältigen – dafür braucht es nachhaltige Ansätze auf politischer, gesellschaftlicher und individueller Ebene. Und die Übersetzung von Online-Trends wie der des “Mann oder Bär”-Vergleichs in den physischen Raum. Ich denke hier an Kollektive wie 22nd Century Womxn, die als Reaktion auf den viralen Trend sogenannte Nightwalks wieder aufleben lassen haben. Oder an männliche Aktivisten, die sich als HeforShe-Botschafter bei UN Women engagieren. Denn ganz ehrlich: Alles andere, I can‘t bear.