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Collage: Paula Günther (Qiio Magazin), André Brouillet: Eine klinische Lektion in der Salpêtrière, 1887 (Gemeinfrei), Paul Richer: Schwellung des Halses bei einer Hysterikerin, 1888-1918, Wellcome Collection (CC BY 4.0)

Von Männern erfunden: Diagnose Hysterie als Machtmittel gegen das weibliche Geschlecht

Hysterie gilt seit der Antike als “Frauenkrankheit” – dabei steckt hinter dem Konzept vor allem eins: eine patriarchale Machtausübung, die bis heute nachhallt.

“Kein Grund, gleich hysterisch zu werden!” Wer hat diesen Satz schon einmal gehört? Ich wette, es sind einige. Und ich bin mir sicher, dass darunter viele Frauen sind. Denn was als vermeintlich harmloser Kommentar in Alltagssituationen daher kommt, trägt eine lange und leidvolle Geschichte mit sich: das Stigma der Hysterie, das vor allem Frauen im 19. Jahrhundert schnell und bereitwillig aufgedrückt wurde. 

Als angebliche “Frauenkrankheit” von Männern erfunden, diente die “Diagnose” der Hysterie über Jahrtausende hinweg vor allem einem Ziel: der Kontrolle des weiblichen Geschlechts. Egal, ob zur Ausgrenzung aus gesellschaftlichen, akademischen und politischen Sphären, zur Verbannung ins Haus oder zur Bildung der öffentlichen Meinung über Frauen – mit der Erfindung der Hysterie stellte man alle Frauen gleichermaßen unter den Generalverdacht, verrückt zu sein oder es werden zu können.

Ein Blick in die Geschichte der Hysterie zeigt, wie tiefgreifend das Stigma der “Hysterikerin” das Leben von Frauen verschiedener Epochen beeinflusst hat – und warum es sich auch heute noch so hartnäckig hält.

Antike Mythen oder: Die Geburt der Hysterie

Hysterie tauchte als Begriff bereits im Altertum auf. Hippokrates, ein griechischer Arzt, deklariert sie in der Antike zur Frauenkrankheit schlechthin – und zwar wortwörtlich. Denn der Begriff Hysterie stammt nicht zufällig vom altgriechischen Wort für Gebärmutter, hystéra. Hippokrates (und später auch Platon) vermuteten damals, dass psychische, aber auch physische Probleme bei Frauen genau dort ihren Ursprung hatten.

Durch eine angenommene “Wanderung” der von zahlreichen Nerven durchsetzten Gebärmutter seien Frauen anfälliger für jede Art von Nervenkrankheit. Im Laufe der Antike formte sich dadurch ein beharrlich anhaltendes Bild: Die Gebärmutter wandert unkontrolliert im Körper der Frau umher. Aufhalten könne man diese Wanderung und die mit ihr angeblich einhergehenden Symptome nur durch – dreimal darf man raten – genau, eine Schwangerschaft. 

Denn wer schwanger wird, kann nicht an Hysterie erkranken, so die recht fadenscheinige Devise. Das bedeutete aber vor allem, wie die Journalistin Antje Schrupp beschreibt, eine Institutionalisierung (also Vereinnahmung) und Freiheitsbeschneidung des Frauenkörpers. Nicht ohne Grund ist vor diesem Hintergrund der Wunsch nach reproduktiver Selbstbestimmung – vor allem bei Menschen mit Uterus – heute stärker denn je. 

Freudloser Sex und Erkenntnisse auf dem Höhepunkt

Ein zugegebenermaßen einleuchtender Erklärungsversuch für die wiederum absurde Vorstellung einer wandernden Gebärmutter hielt sich bis ins 19. Jahrhundert: Man(n) nahm an, dass Frau ein unbefriedigendes Sexleben hatte – und ihre Gebärmutter daher Amok lief. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts hatte diese Hypothese für manche Frauen drastische Folgen. 

Denn um den Uterus wieder an Ort und Stelle zu bringen, therapierte man Hysterie unter anderem durch die Entfernung der Gebärmutter oder der Klitoris. Das war nicht nur eine Verstümmelung weiblicher Geschlechtsorgane, sondern rückblickend auch eine mehr als kontraproduktive Maßnahme. Eine entfernte Gebärmutter bedeutet(e), dass Schwangerschaften nicht mehr möglich waren (logisch). Und wie die Forschung dank der Wissenschaftlerin Sabine Grüsser-Sinopoli seit rund zwei Jahrzehnten weiß: Die Klitoris ist immer am weiblichen Orgasmus beteiligt. Entfernt man sie, wird das Sexleben daher nicht befriedigender, im Gegenteil.

Als Pioniere gefeiert, räumten erst Sigmund Freud und der befreundete Arzt Dr. Josef Breuer mit dem antiken Mythos der Gebärmutter als Büchse der Hysterie auf: Sie definierten Hysterie als psychische Krankheit, die fortan auch Männer befallen könne, neu. Herausgefunden haben sie das übrigens durch das “Studieren” von Patientinnen, allen voran Bertha Pappenheim, die als “Anna O.” in die Geschichte der Psychoanalyse einging. 

Seht her, so sieht Hysterie aus!

Wie sehr eine Diagnose als Hysterikerin dennoch ausgenutzt oder fingiert werden konnte, berichtet Medizinhistorikerin Karen Nolte in einem Beitrag auf Deutschlandfunk: Beim Erforschen einer Akte fällt ihr auf, dass eine Frau, die mit einem Arzt liiert war, nachdem sie ihn für etwas kritisiert hatte, wegen Hysterie in eine Klinik eingewiesen wurde. Kurz: Sie wurde unbequem und fand sich deshalb kurze Zeit später als Hysterikerin diagnostiziert in einer der zahlreichen Kliniken bzw. Nervenheilanstalten des 19. Jahrhunderts wieder. 

Eine dieser Einrichtungen, die Pariser Klinik Salpêtriere, markiert ein besonders anschauliches Kapitel in der Geschichte der Hysterie. Bilder aus der Klinik dienten vor allem dazu, den Einzelfall zu verallgemeinern und ihn als natürliches Gesetz zu etablieren. “Seht her, so sieht Hysterie aus!” war die Kernaussage – verbildlicht durch die inszenierte und manipulierte Darstellung von Frauen (etwa durch elektrische Instrumente, die nachträglich weggeschnitten oder -retuschiert wurden). 

Bilder aus der Klinik Salpêtriere dienten vor allem dazu, den Einzelfall zu verallgemeinern und ihn als natürliches Gesetz zu etablieren. Das Beispiel einer gähnenden Frau, die angeblich ein Symptom von Hysterie mit ihrem Gähnen zur Schau stellt, zeigt die Absurdität der Hysterie-Diagnose. Bild: Wellcome Collection (CC BY 4.0)

“Je vernünftiger ich redete und handelte, für desto verrückter hielt man mich.”

Dass Kliniken wie die Salpêtriere nicht gerade dazu beitrugen, Gesundheit und Wohlbefinden zu fördern, sondern eher das Gegenteil bewirkten, zeigt wiederum die Enthüllungsstory der amerikanischen Journalistin Nellie Bly von 1887. Für die New York World, der Tageszeitung des Verlegers Joseph Pulitzer, besuchte die als Elizabeth Cochran geborene Bly das New York City Lunatic Asylum von Blackwell’s Island. Sie ließ sich dafür als Patientin einweisen, um anschließend einen authentischen Augenzeugenbericht geben zu können. Denn die psychiatrische Anstalt war zwar gefürchtet, doch was in ihrem Inneren eigentlich vor sich ging, drang damals kaum nach außen.

Nachdem Nellie Bly erfolgreich “Verrücktheit” vortäuschte und nach Blackwell’s Island gebracht wurde, erkannte die junge Reporterin schnell, dass es wesentlich leichter war, für verrückt erklärt zu werden, als für geistig gesund. Denn in der Psychiatrie angekommen, verhielt sich Bly fortan vollkommen normal – was jedoch nicht zu ihrer direkten Entlassung aus der Einrichtung führte. In ihren Notizen hielt sie damals fest: “Je vernünftiger ich redete und handelte, für desto verrückter hielt man mich.”

Nach zehn Tagen sorgte Blys Anwalt für ihre Entlassung. Ihre Geschichte über die Zustände in der Anstalt wurde veröffentlicht und machte Eindruck. Unter anderem, weil sie zum Vorschein brachte, dass einige der Patientinnen gar nicht geisteskrank waren. Bly schrieb dazu, dass zwei Monate im New York City Lunatic Asylum ausreichen würden, um jede Frau zu einem geistigen und körperlichen Wrack zu machen. Ermittlungen, die Nellie Blys Aufzeichnungen auslösten, hatten im Jahr 1894 letztlich die Schließung der Einrichtung zur Folge. Die von Nellie Bly befragten eingewiesenen Frauen, die wie sie geistlich vollkommen gesund waren, verschwanden jedoch – manche wurden verlegt und durften keine Besucher:innen mehr empfangen, von anderen behaupteten die Ärzte sogar, es habe sie nie gegeben.

DIe Geschichte von Nellie Bly zeigt, dass Kliniken wie die Salpêtriere oder das New York City Lunatic Asylum nicht gerade dazu beitrugen, Gesundheit und Wohlbefinden zu fördern. Im Gegenteil: Es war vor allem für Frauen wesentlich wahrscheinlicher, für verrückt erklärt zu werden, als für geistig gesund. Bild: Wellcome Collection (CC BY 4.0)

“Phantastische” Stigmata und wo sie zu finden sind

Mit dem Ausgang des 20. Jahrhunderts verabschiedete sich die bis dahin etablierte Wissenschaft schließlich zunehmend vom Hysterie-Konzept. Stattdessen rückte die Bezeichnung der dissoziativen Verhaltensstörung an ihren Platz – vielleicht auch deshalb, weil Hysterie in ihrer reinen Begrifflichkeit schon eine Geschlechtsspezifität suggeriert, wo keine sein sollte. Aber egal, ob in dem alten Mythos um die Gebärmutter “als Tier, dass sich nach Kindern sehnt” oder in der Freud’schen Theorie unbefriedigter Kindheitswünsche: Die Facetten des Hysterie-Konzeptes waren ein Teil der Lebensrealitäten von unterschiedlichen Frauen der Geschichte. Und leider sind sie auch im 21. Jahrhundert noch präsent.

Wer heute etwa über Krankheitssymptome klagt wird noch immer schnell mal als “hysterisch” bezeichnet. Auch wenn man als Frau die Stimme erhebt oder mal so richtig ‘ausrastet’, ist das vorbestrafte H-Wort nicht weit. Die Frage ist: Warum ist das auch heute noch so? Und warum zucke ich als Frau zusammen, wenn das Wort mir oder anderen Frauen an den Kopf geworfen wird? 

Nun, wahrscheinlich, weil sich die Erzählung oder das Bild der “hysterischen Frau” so hartnäckig über Jahrtausende hinweg in den Köpfen der Gesellschaft gehalten und andere gängige Geschlechtsstereotypen genährt hat – etwa die Frau als die Emotionale, als Verrückte oder als die, die sich ganze Krankheiten einbildet. Oder anders gesagt: Die Frau als Gegensatz zum rationalen, nüchternen Mann, der mit “klarem Kopf” in der Lage ist, Entscheidungen zu treffen.  

Wer heute als weibliche gelesene Person über Krankheitssymptome klagt, die Stimme erhebt oder bei einem Konzert mal so richtig ‘ausrastet’ wird noch immer schnell mal als “hysterisch” bezeichnet. So trägt dieses Foto beispielsweise den einfachen Titel “Hysterie”. Bild: Daniel Schmalhofer (CC-BY-SA 2.0)

Der zunehmende zeitgenössische Überdruss an Geschichten, die patriarchale Machtverhältnisse sichtbar machen, ändert nur leider nichts an ihrer Wirklichkeit – für alle, die darunter litten, die derzeit leiden und all jene, die nie (wieder) darunter leiden wollen. Kulturerzählungen und Geschichten wie die der Hysterie sind dabei vor allem die Symptome, nicht der Ursprung von Unterdrückung, Ausbeutung und fehlender Gleichberechtigung. In der Kritik steht schließlich ein ganzes System, das all jene, die darunter leiden, überhaupt erst hervorbringt: das Patriarchat. 

Weitere historische Frauenbilder, die auch heute noch unsere Sicht auf und unser Verständnis von Frauen beeinflussen, findet ihr hier.

Headerbild (Collage): Paula Günther (Qiio Magazin), André Brouillet: Eine klinische Lektion in der Salpêtrière, 1887 (Gemeinfrei), Paul Richer: Schwellung des Halses bei einer Hysterikerin, 1888-1918, Wellcome Collection (CC BY 4.0)