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Bild: Frederick Sandys, Medea, zwischen 1866 und 1868 (Public Domain)

Warum müssen in der Geschichte Frauen oft als Sündenbock herhalten?

Ob Missernten, Fehlgeburten, Revolutionen oder Affären – häufig stand eine Frau dafür auf der gesellschaftlichen Anklagebank. Welche waren das und wie bestimmen manche dieser vermeintlichen Schuldfiguren den Diskurs über Frauen auch heute noch?

Von der ersten biblischen Frau bis in die Gegenwart findet man Geschichten, die Frauen als Unheilbringerinnen, Hexen oder Verführerinnen stigmatisieren. Viele davon sind natürlich zu einhundert Prozent fiktiv. Und dreimal dürft ihr raten, von welchem Geschlecht die meisten dieser Geschichten geschrieben wurden. 

Sei es aus Furcht, Missgunst oder zur Erhaltung der vorherrschenden patriarchalen Machtstrukturen – in so einigen Geschichten aus der Feder männlicher Autoren kommt das weibliche Geschlecht nicht gut weg. Hesiod, Homer, Ovid, Sigmund Freud oder die Gebrüder Grimm sind prominente Beispiele dafür.

Historisch betrachtet, mussten Frauen mehr als einmal als Sündenbock für Dinge herhalten, die per se schlecht liefen. Dabei ist die Bezeichnung als Sündenbock immer eine Fremdzuschreibung. Sie dient als öffentlicher Zeigefinger, der auf Personen gerichtet wird, die immer für alle Fehler und Probleme verantwortlich gemacht werden. Meistens ist diese Schuldzuweisung jedoch unberechtigt. Für die Forscherin und Autorin Franziska Schutzbach steckt hinter frauenfeindlichen Kulturerzählungen sogar ein gesellschaftliches Kalkül.

Im Interview mit Qiio sagt sie: “In patriarchalen Besitzverhältnis spielen auch alte Bilder eine Rolle, etwa, dass die Frau der Gesellschaft etwas schuldig ist, weil sie als „schuldig“ betrachtet wird. In der jüdisch-christlichen Erzählung ist Eva die Frauenfigur, die für das Scheitern der Menschen schuldig gemacht wurde. Die Gleichsetzung von weiblich = schuldig führt zu der Annahme, dass Frauen der Gesellschaft immer etwas schulden. Sie müssen stets etwas leisten, um diese Schuld und ihre Schwäche abzubauen. Deshalb müssen sie quasi immer verfügbar sein.”

Laut Schutzbach ist es daher kein Wunder, dass Frauen denken, diese vermeintliche Schuld durch emotionale Dauerverfügbarkeit oder grenzenlose Zustimmung begleichen zu müssen. Ein Blick in die Geschichte von weiblichen Sündenböcken soll zeigen, wie bekannt uns allen diese Schuldbilder sind und wie nachhaltig wir von ihnen beeinflusst werden.  

Die Vertreibung aus dem Paradies: Eva und der Apfel 

Bild: Franz von Stuck, Adam und Eva, ca. 1920 (Public Domain, Städel Museum, Frankfurt am Main)

Eva ist das wohl bekannteste Beispiel aus der christlichen Theologie. Als vernunftlose Frau, die Adam verführt hat, zu sündigen, wird sie zum Sündenbock für die Vertreibung der Menschheit aus dem Paradies. Und damit einhergehend auch für die Erbsünde, die im christlichen Glauben die Ur-Schuld aller Menschen und ihre Fehlerhaftigkeit beschreibt. Als Strafe für alle Frauen werden wiederum die monatliche Periode und die schmerzhafte Geburt gewertet. Historische Malereien des Sündenfalls unterstützen das Narrativ, dass Eva die eigentliche Initiatorin des Anfangs vom Ende im Paradies war. Sie zeigen, wie die biblisch erste Frau zuerst nach dem Apfel greift oder ihn an Adam weiterreicht – und den Mann damit zum gleichen Schicksal verdammt. Diese Darstellung der Frau als Urheberin aller Sündhaftigkeit hat das Frauenbild über Jahrhunderte stark geprägt. 

Das Öffnen der Büchse: Pandora als Anti-Heilsbringerin

Bild: John William Waterhouse, Die Büchse der Pandora, 1896 (Public Domain)

Pandora nimmt einen prominenten Platz in der griechischen Mythologie ein. In einer gängigen Version ihres Mythos wird sie für das Öffnen der Büchse, die alles Übel der Welt beinhaltet, verantwortlich gemacht. In einer anderen Variante ist nicht sie diejenige, die die Büchse öffnet, sondern ihr Gatte Epimetheus – allerdings erst, nachdem sie ihn darum gebeten hat. Die Neugier der Frau wird in der Sage um Pandora zu einem Laster stigmatisiert, das nicht nur persönliche Konsequenzen hat. Es vermag, direkt die ganze Welt in Kummer, Hass und Leid zu tränken. Das Bild der wissbegierigen Frau als Unheilsbringerin kam in der Geschichte spätestens immer dann zum Tragen, wenn Frauen auf die gleichen Wissensressourcen wie Männer zurückgreifen wollten. Etwa, weil sie ein Studium an einer Universität für sich beanspruchen möchten. Letzteres durften sie in Deutschland beispielsweise erst um 1900.

Die Umkehrung der Täter-Opfer-Rolle: Medusa als Monster

Bild: Michelangelo Merisi da Caravaggio, Medusa, 1597–98 (Public Domain)

Medusa ist ein weiteres Beispiel aus der griechischen Mythologie, deren Schicksal stark an die heutigen Debatten rund um sexuelle Übergriffe erinnert. Vielen ist Medusa nur als Gorgone, also als Schreckensgestalt mit Schlangenhaaren bekannt. Dabei war sie nicht immer ein Monster: Erst Athene verdammte sie dazu, nachdem sie erfahren hat, dass Poseidon Medusa in ihrem Tempel vergewaltigt hat – und damit den heiligen Grund und Boden der Göttin entweiht hat. Das Opfer in dieser Geschichte, Medusa, wird in dieser Geschichte zur Täterin: Ihr Blick verwandelt jede:n zu Stein. Als Gorgone ist sie fortan die Gegenfigur von männlichen Helden wie Perseus, der sie schließlich enthauptet. Dass Athene nicht Poseidon, sondern Medusa für die Entweihung des Tempels (und damit für die Vergewaltigung) bestraft, ist typisches Victim Blaming, dem Opfer von sexuellen Übergriffen auch heute noch ausgesetzt sind.

Der Fall Troja(s): Helena als Femme Fatale

Bild: Evelyn De Morgan, Helena von Troja, 1898 (Public Domain)

Dass Schönheit nicht immer nur ein Segen ist, zeigt das Beispiel von Helena von Troja. Als schönste Frau Griechenlands entfacht sich ein Machtkampf über sie, der fatal im allseits bekannten Trojanischen Krieg endet. Helena wird in vielen Erzählungen für schuldig erklärt: Ihre Schönheit habe den Männern derart den Kopf verdreht, dass ihre Entführung durch Paris besagten Krieg nicht nur auslöste, sondern dieser auch zugunsten der Griechen ausfiel. Helena wurde als “Femme Fatale” deklariert, deren Schönheit die eigentlich vernünftigen männlichen Figuren der Geschichte gedankenlos handeln lässt. Dass die gängige Darstellung von Helena von Troja letztlich nur den Stereotypen der erotisch-verführerischen und begehrenswerten Frau nährt, die Männer in ihren Bann und letztendlich auch in ihr Unglück zieht, gerät dabei leicht aus dem Blick. 

Die Angst vor allem Unerklärlichen: Frauen als Hexen

Bild: Hans Baldung Grien, Hexen, 1508 (Public Domain)

In der frühen Neuzeit entstand im Zuge der Inquisition ein Bild von Frauen, das unzählige Opfer zur Folge hatte: die Hexe. Dargestellt als Verbündete des Teufels, verfolgte man Frauen aus allen Schichten. Ein prominentes Beispiel ist Sidonia von Bork. Ihre Entscheidung, ehelos zu bleiben und für eigene wirtschaftliche Belange einzutreten, führte zu ihrer Anklage und Hinrichtung. Als “Hexen” diffamierte Frauen machte man zum Sündenbock für Krankheiten, Missernten und Totgeburten – weshalb häufig etwa auch Hebammen der Hexerei bezichtigt wurden. Manchmal reichte für eine Anschuldigung auch der simple Umstand, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Durch märchenhafte Erzählungen wie jene der Gebrüder Grimm festigte sich das Bild der bösen Hexe auch im literarischen Kontext. 

Das Ende der Monarchie: Marie Antoinette isst lieber Kuchen

Bild: Nach Élisabeth-Louise Vigée Le Brun, Marie Antoinette, nach 1783 (Public Domain)

Marie Antoinette, Königin von Frankreich, wurde zwar nicht der Hexerei bezichtigt. Doch man gab ihrem verschwenderischen Lebensstil die Schuld an den Umständen, die letztlich zur Französischen Revolution führten – etwa dem wachsenden Unmut der untersten Bevölkerungsschicht sowie den wirtschaftlichen Problemen des Landes. Die Anekdote, sie habe auf die Hungersnöte der Bevölkerung mit dem Ausspruch “Wenn sie kein Brot haben, dann sollen sie Kuchen essen” reagiert, hält sich beständig. Marie Antoinettes Amtszeit wird dadurch nicht nur als Leben im Überfluss, sondern auch als ein Leben auf Kosten anderer stilisiert. Tatsache hingegen ist, dass sie nicht anders als die Könige vor ihr lebte. Dass die Monarchie mit Marie Antoinette fiel, wird allzu leicht als weibliches Versagen in Führungspositionen bewertet. Frauen in hohen Ämtern haben noch heute mit diesem Vorurteil zu kämpfen.

Die Geburt aller Probleme: Wie die (Stief-)Mütter, so die Kinder

Bild: William-Adolphe Bouguereau, Der Schlaf, 1864

Bindungsprobleme, psychische Störungen, Verhaltensauffälligkeiten: Die Schuld dafür wird häufig der (Stief-)Mutter zugeschrieben. Die psychoanalytischen Theorien von Sigmund Freud zum Elektra- und Ödipuskomplex unterstützten diese Form des “parent-blaming” oder “mother-blaming”. Und Disney-Filme wie Schneewittchen oder Cinderella verankerten den Stereotypen der “bösen Stiefmutter” kulturell in unserer Vorstellung. Was beide vermeintlichen Schuldfiguren dabei vermitteln: Kinder sollen Frauensache sein. Dass die Mutter, Stiefmutter oder auch Schwiegermutter vornehmlich als die Schuldige in Sachen Erziehung angeklagt wird, hängt auch damit zusammen, dass Kinder, Haushalt und emotionale Care-Arbeit bereits seit Jahrhunderten als “weibliches” Terrain festgelegt sind.  

Die Praktikantin: Monica Lewinsky als zeitgenössische Verführerin

Bild: Monica Lewinsky und Bill Clinton, 2. Februar 1997 (Public Domain, William J. Clinton Presidential Library)

In die Fußstapfen der “schönen Helena” trat in den 90er Jahren Monica Lewinsky. Sie hatte während ihrer Zeit am Weißen Haus eine Affäre mit dem verheirateten Bill Clinton. Die Schlagzeilen, die diese Liaison auslösten, deklarierten sie zur Hauptschuldigen an den Eheproblemen der Clintons, den fallenden Umfragewerten der Demokraten und natürlich der Tatsache, dass ein Mann wie Bill Clinton sich überhaupt auf außereheliche Verbindungen einließ. Bestehende Machtverhältnisse blendeten die Medien zugunsten der Darstellung von Lewinsky als “Femme Fatale” aus. Dabei war Lewinsky zum Zeitpunkt der Affäre eine 22-jährige Praktikantin im Weißen Haus und Bill Clinton der amtierende Präsident. 

Weibliche Schuldfiguren kritisch zu hinterfragen, zählt zu einer der wichtigsten Aufgaben unserer Zeit im Kampf um Gleichberechtigung und Anerkennung. Denn beides ist nicht möglich, solange dem weiblichen Geschlecht mit Schuldzuweisungen begegnet wird, die auf misogynen Narrativen basieren. Noch mehr impulsgebende Überlegungen, wie sich unser Gesellschaftssystem verändern muss, könnt ihr in unserem Interview mit Franziska Schutzbach nachlesen.