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„Warum müssen wir immer alles besitzen?“ – Ein Interview mit Architekt Van Bo Le-Mentzel

Der Berliner Architekt entwirft die Stadt der Zukunft — in menschlichen Maßstäben. Und kreiert neue öffentliche Räume, in denen man sich zuhause fühlt. 

Der deutsche Architekt mit laotischen Wurzeln Van Bo Le-Metzel ist ein Innovator ohne gleichen. Er findet neue Designformen für globale Bewegungen und erreicht mit seinen radikalen Ideen Menschen auf der ganzen Welt. 

Das Wohnkonzept der ‘Tinyhouses’ hat sich sich vom kalifornischen Silicon Valley aus zur globalen Bewegung entwickelt. Das bekannteste Projekt des Berliner Architekten, der einer der wichtigsten Vertreter des ‘Tinyhouse-Movement’ in Deutschland ist, heißt „100-Euro Wohnung“. Diese seriell verstellbare Typenwohnung soll aufgrund ihrer geringen Größe nur 100 Euro Miete kosten. 

Wir trafen Van Bo Le-Mentzel in seinem sieben Quadratmeter großen ‘Tiny-100’, dem Prototypen der 100-Euro Wohnung, um über derzeitige Projekte, seine Einschätzung zu aktuellen Entwicklungen im Städtebau und seine Vorstellung über eine ‘Stadt der Zukunft’ zu sprechen. 

Das Wohnkonzept der ‘Tinyhouses’ hat sich sich vom kalifornischen Silicon Valley aus zur globalen Bewegung entwickelt. Ben Chun CC BY-SA 2.0

Herr Le-Mentzel, Sie designen mit Ihrem Team ‘Tinyhouses’ – Doch hat nicht heute jede*r den Traum der eigenen, großen (Altbau-)Wohnung mit Balkon und viel Licht? Wie realistisch ist ‘Tiny-Living’?

Es geht mir mit den ‘Tinyhouses’ nicht um ein ‘Entweder-oder’. So sehen das zwar einige, doch mein Ansatz ist es, die ‘Tinyhouses‘ additiv — also ergänzend — zu begreifen. Wenn man die Wohnung als den Ort wahrnimmt, der alle Elemente des Lebens beinhalten muss, dann muss diese Wohnung natürlich groß sein. Mein Plädoyer ist es aber, den fehlenden Platz zu Hause, durch die Stadt zu kompensieren. Und ‘Tinyhouses’ stellen ein Element von vielen im Werkzeugkasten der Stadt dar. Das ist zuallererst eine Frage der Haltung, denn — warum muss man immer alles besitzen? Schließlich geht man auch ins Museum, wenn man Kunst sehen will, oder man fährt für einen Tag nach Brandenburg, wenn man das Landleben genießen will. Meine Frau und ich wohnen mit unseren zwei Kindern in einer Zweizimmerwohnung in Kreuzberg. Ich behaupte mal, dass die meisten Menschen weggezogen wären, aber wir haben uns dagegen entschieden. Wenn ich zum Beispiel einen Meetingraum brauche, dann treffe ich Leute in einem Café oder lade in eines meiner vier ‘Tinyhouses’ ein — und nicht in meine kleine Küche.

Sind ‘Tinyhouses’ also wie Schrebergärten zum Wohnen?

In gewisser Weise schon. Schrebergartenbesitzer werden oft belächelt und für spießig erklärt, dabei sind sie ein unterschätztes Beispiel dafür, wie man städtische Freiräume aus ökologischer und gesellschaftlicher Sicht effizient nutzen kann — und auch ‘Tinyhouses’ nutzen sonst ungenutzte Flächen in der Stadt. Schrebergartenbesitzer ergänzen ihre Wohnung um zusätzlichen Raum und filtern außerdem ganz ehrenamtlich unsere Stadtluft. Das sind grüne Lungen, die unsere vom Asphalt versiegelten Städte brauchen. Leider werden diese Freiräume — Schrebergärten, aber auch Parks und Friedhöfe — immer weiter zugebaut.

Tinyhouses’ stellen ein Element von vielen im Werkzeugkasten der Stadt dar. Das ist zuallererst eine Frage der Haltung, denn — warum muss man immer alles besitzen? Foto: Van Bo Le-Mentzel

Das geschieht, weil immer mehr Menschen in urbane Zentren drängen. Für viele Städte heißt die schnelle Lösung: Wohnraum verdichten durch engere Bebauung. Wie reagieren Sie als Architekt auf solche Pläne?

Ich bin in meiner Haltung nah beim skandinavischen Städteplaner Jan Gehl, der dadurch bekannt geworden ist, dass er den Times Square in New York autofrei gemacht hat. Seine These sagt aus, dass die Stadt auf den Menschen ausgerichtet werden muss. Das mag zwar banal klingen, doch hat im öffentlichen Raum oft nicht der Mensch Vorfahrt, sondern zum Beispiel Autos, Bahnen oder Trams. Nach Gehl sollte der Mensch oberste Priorität haben — das hat nicht nur Einfluss auf den Straßenverkehr, sondern auch auf Häuser. Wenn es demnach Priorität hat, dass der Mensch alle Stockwerke ohne Fahrstuhl erreicht, dann schließt das zum Beispiel Hochhäuser aus. Außerdem müssen Entfernungen innerhalb der Stadt auf den menschlichen Maßstab ausgelegt werden. Das ist nicht der Fall, wenn ich zu einem Geschäft auf der anderen Straßenseite möchte und dafür erst 300 Meter zur nächsten Ampel laufen muss.

Wenn Sie also heute durch Berlin Mitte laufen, wollen Sie sich am liebsten an den Kopf fassen?

Ich halte modernen Städtebau nicht per se für schlecht — er folgt einfach einer anderen Ideologie. Für mich muss die Identität eines Ortes, die Chance bekommen, sich auszudrücken. Nach der Logik des jetzigen Kapitalismus haben Straßenzüge jedoch 200 Meter lang dieselbe Fassade — Abwechslung ist nun mal teuer. Viele Architekten entwerfen heute Häuser, damit deren Kapitalanleger sich wohlfühlen; die machen sich dann gut im Portfolio von Immobilienkonzernen. Aber zum Leben sind diese, denke ich, nicht geeignet. 

Das bekannteste Projekt des Berliner Architekten heißt „100-Euro Wohnung“. Diese seriell verstellbare Typenwohnung soll aufgrund ihrer geringen Größe nur 100 Euro Miete kosten. Foto: Van Bo Le-Mentzel

Wie sieht so eine ‘Stadt in menschlichen Maßstäben’ aus?

Der Fehler moderner Städteplanung ist, dass verschiedene Formen der Nutzung — ob Gewerbe- Wohn- oder Kleingartengebiete — voneinander getrennt werden. Deshalb müssen wir oft so lange Wege zurücklegen —, ob zur Arbeit, zum Einkaufen oder um Freunde zu treffen. Mein Team der ‘Tinyhouse Foundation’ und ich haben in den letzten Monaten ein Konzept entwickelt, das versucht, diese Gebiete wortwörtlich unter ein Dach zu bringen. Wir nennen das Konzept: ‘Circular City — Zirkuläre Stadt’. Die Idee ist ganz simpel: Gärten und Wohnungen befinden sich auf dem Dach des Gewerbes. Zwar ist es in Deutschland derzeit verboten, ganze Viertel lückenlos zu bebauen — auch aus ökologischen Gründen — doch würde unser Vorschlag zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Oben gewinnen wir unglaublich viel freie Fläche für Gärten und Parks, während die untere Ebene Raum für Nutzer schafft, die nicht unbedingt Fenster brauchen, wie Museen, Shopping Malls, Bowlingbahnen, Clubs oder auch Fabriken. Rein technisch lässt sich das lösen, rechtlich ist so ein Konzept allerdings noch nicht erlaubt. Laut Flächennutzungsplan muss ganz klar definiert werden, ob es sich um ein Gewerbe- oder ein Wohngebiet handelt. Und auch kulturell können sich viele eine Stadt in Ebenen einfach nicht vorstellen.

Wie zirkuliert diese Stadt?

Die Art und Weise, wie wir heute Wohngebäude planen, ist oft unvereinbar mit jeglicher Form öffentlichen Raums, solange dieser nicht pünktlich um 18:00 Uhr die Türen schließt. In der ‘Circular-City’ ermöglicht eine ein Meter dicke Erdschicht zwischen der unteren und oberen Ebene es, dass Clubs, Wohnungen aber auch die Industrie fußläufig zu erreichen sind — ohne Lärmbelästigung. Die untere Ebene des Gewerbes und der Industrie ist für jeden zugänglich, während die zweite Ebene, die der Gärten und Wohnungen, nur für die Nachbarschaft bestimmt ist. Diese wird dadurch zirkulär, indem sie stadtweit miteinander verbunden wird. So entsteht eine neue autofreie Ebene innerhalb der Stadt, die es vorher nicht gegeben hat. Diese Ebene ist zum Beispiel auch nicht für Touristen, sondern nur für die Bewohner der Stadt bestimmt. Ich denke nicht, dass wir Tourismus minimieren sollten, obwohl er in Großstädten wie Berlin, Barcelona oder Paris immer mehr zum Problem wird. Doch, wenn die Stadt verschiedene Ebenen für verschiedene Nutzungen bereitstellt, gewinnen wir ganz neue öffentliche Räume, wo sich Menschen treffen können.

In der ‘Circular-City’ ermöglicht eine ein Meter dicke Erdschicht zwischen der unteren und oberen Ebene es, dass Clubs, Wohnungen aber auch die Industrie fußläufig zu erreichen sind. Illustration: Van Bo Le Mentzel.

Wo wäre dieses Konzept konkret anwendbar?

Das Entwicklungsstadium der ‘Circular City’ ist noch ganz abstrakt. Wir haben die Pläne also noch keiner Stadt konkret vorgestellt. Allerdings habe ich Mustergrundrisse bereits am Berliner Flughafen Tegel ausprobiert. Gerade dort funktioniert das Konzept super, da an diesem Standort nach der Schließung des Flughafens auch Industrie für E-Mobility geplant ist. Die jetzigen Pläne sehen vor, dass große Hallen für die Herstellung von Elektromotoren auf die eine Seite gebaut werden und Wohngebiete auf die andere. Das halte ich für einen großen Fehler. Jeder Block sollte ein eigenes Ballungszentrum werden — eine ‘Circular City’, wo alles Raum findet, was die Bewohner des Viertels zum Leben brauchen.

Ein Gedankenspiel zum Ende: Wie sieht Ihre Stadt der Zukunft aus?

Meine utopische Vorstellung geht über das Leben in einer Stadt hinaus. Was mir dabei vorschwebt, ist eine ‘Verglobalisierung’ von Raum in einem ‘Internet of Spaces’. In diesem Szenario bin ich nicht länger Staatsbürger, sondern nur noch Angehöriger einer Community. Im Moment bin ich Deutscher, aber falls Staaten in der Zukunft nicht mehr handlungsfähig sind, müssen wir neue Systeme finden, um uns zu organisieren. Bitcoins und Blockchains haben beispielsweise gezeigt, dass man keine Zentralbank braucht, um Finanzen zu kontrollieren. Meiner Vorstellung nach würde ungenutzter Raum dann wie Blockchains organisiert. Das könnte beispielsweise durch Künstliche Intelligenz geschehen: Der Algorithmus weiß, ob eine Fläche in einem bestimmten Zeitraum frei ist — für ‘Tinyhouses’ zum Beispiel. Wenn ich also ortsungebunden leben möchte, um dem städtischen Mietwahnsinn zu entgehen, könnte dieses ‘Internet of Spaces’ dies möglich machen. So hätte ich global Zugriff auf Räume, ohne abhängig von meinem Pass, meinem Einkommen, meiner Sexualität oder Religion zu sein. Ich müsste nur Teil bestimmter Communitys sein. Gerade, wenn sich solche Communitys bewegen können, ‘Tinyhouses’ sind schließlich auf Rädern, eröffnen sich ganz neue Möglichkeiten der Begegnung. So könnten Gesellschaften ganz neu strukturiert werden, ohne dabei den Anspruch zu haben, dass alles immer perfekt funktionieren muss. 

Vielen Dank für das Gespräch.

Qiio berichtete bereits zuvor von Le-Mentzel. In Zusammenarbeit mit seinem Team, der ‘Tinyhouse-University’, dem Projekt ‘SAVVY Contemporary’ und dem Bauhaus-Archiv hat er das Weltkulturerbe des Dessauer Bauhauses auf ‘tiny’ Größe geschrumpft und es  in Form eines transkulturellen Begegnungsortes auf Weltreise geschickt.