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Bild: Beatrice Vanek

Wo die Kleidung des toten weißen Mannes weiterlebt

Der Jahresbeginn ist ein beliebter Zeitpunkt, um auszumisten. Aber was passiert eigentlich mit der Kleidung, die wir auf Nimmerwiedersehen in den Altkleidercontainer um die Ecke stopfen? Ein großer Teil landet da, wo er nicht hingehört: auf Mülldeponien, in Flüssen und Meeren in Afrika, Osteuropa und Asien. Dort verpestet der Textilmüll die Umwelt, zerstört lokale Textilmärkte und gefährdet die Gesundheit derer, die dort leben und arbeiten.

Was bedeutet eigentlich Exzess? „Obroni w’awu“ ist ein Begriff der westafrikanischen Akan-Sprachen, der so viel bedeutet wie „die Kleidung des toten weißen Mannes“. Der Begriff unterstreicht den Wert eines Kleidungsstückes in Ghana, wo Kleidung nicht exzessiv produziert, konsumiert und dann weggeschmissen, sondern weitervererbt, repariert und upgecycelt wird. Gleichzeitig hebt er aber auch die exzessive Überproduktion und den Überkonsum von Textilien der Länder des globalen Nordens hervor.

Denn als diese begannen, massenhaft Second Hand-Kleidung in afrikanische Länder wie Ghana zu exportieren, dachten Einwohner:innen, dass die vorherigen Besitzer:innen der Kleidungsstücke verstorben waren. Warum sonst sollten sie einst wertvolle Kleidungsstücke einfach wegschmeißen, nur um neue zu kaufen? Konzepte wie Überkonsum und Exzess waren den Menschen in Ghana bis dato fremd.

Die „Altkleiderlüge“

Auch in Europa galt Kleidung bis zur Industrialisierung als wertvolles Gut. Doch als in den 1990er-Jahren der Fast Fashion-Handel explodierte und Überproduktion und Überkonsum der neue Standard wurden, etablierte sich die kontroverse Tradition, Kleidung in einkommensschwache Länder zu „spenden“. Tatsächlich landen aber nur bis zu 10 % bei Bedürftigen. Etwa 40 % der Textilien werden über undurchsichtige Handelsnetzwerke in osteuropäische und vor allem afrikanische Länder exportiert.

Dort zerstören sie nicht nur die Umwelt, sondern auch die lokale Textilindustrie, die mit den billigen Preisen nicht mithalten kann. Schnell begann auf diese Weise Kleidung erst aus Großbritannien, einst Kolonialmacht in Ghana, und dann auch aus Deutschland, Schweden, Frankreich und den USA die afrikanischen Second Hand-Märkte zu überfluten.

Ein Mann schiebt eine Karre durch den Kantamanto Markt in Accra. Auf dem größten Second-Hand-Markt in Westafrika landen jährlich über 40.000 Tonnen Kleidung aus der ganzen Welt. Bild: IMF Photo/Andrew Caballero-Reynolds, (CC BY-NC-ND 2.0).
Stephanie Ocho (R) ist eine von mindestens 30.000 Händler:innen auf dem Kantamanto Markt. Bild: IMF Photo/Andrew Caballero-Reynolds, (CC BY-NC-ND 2.0).

Kleidung, wo sie nicht hingehört

Einer davon ist Kantamanto in Accra. Auf dem größten Second-Hand-Markt in Westafrika landen jährlich über 40.000 Tonnen Kleidung aus der ganzen Welt. Wöchentlich zirkulieren hier mehr als 15 Millionen Kleidungsstücke – eine Zahl, die man mit bloßer Vorstellungskraft nicht erfassen kann. Fast die Hälfte davon landet später auf improvisierten Mülldeponien, in Flüssen, am Strand und im Meer.

Auf der Mülldeponie in Old Fadama, Accra, landen täglich Millionen von Kleidungsstücken, die es nicht in ghanaische Haushalte geschafft haben. Der etwa zehn Meter hohe Hügel, der seit vierzig Jahren beständig wächst, mag vielleicht auf den ersten Blick wie eine natürliche Erhebung aussehen. Doch bei genauerem Hinsehen – und Riechen – wird deutlich, dass es sich um einen Berg von giftigem Müll handelt, der größtenteils aus Textilien besteht. Die ghanaische Regierung bezeichnet diesen Ort als Slum. Die ca. 80.000 bis 100.000 Menschen, die hier leben, nennen es ihr Zuhause. Viele von ihnen arbeiten auf dem Secondhand-Markt in Kantamanto. Oft unter sehr ausbeuterischen Bedingungen.

Der etwa zehn Meter hohe Hügel, der seit vierzig Jahren beständig wächst, mag auf den ersten Blick wie eine natürliche Erhebung aussehen. Doch bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass es sich um einen Berg von giftigem Müll handelt, der größtenteils aus Textilien besteht. Bild: Screenshot via ABC

Zum Beispiel gibt es die sogenannten Kayayei, „die, die die Last tragen”. „Es sind größtenteils Wirtschaftsmigrant:innen aus dem Norden Ghanas, oft Frauen und Kinder, manche sind gerade mal sechs Jahre alt. Sie tragen 55 kg-schwere Ballen von Kleidung auf ihren Köpfen und bekommen pro Strecke einen Dollar”, sagte Liz Ricketts, Leiterin der Ghana- und US-basierten Or Foundation, welche Accras Textilmüll-Arbeiter:innen unterstützt. Nicht selten kollabieren die Kayayei unter ihren Textilballen.

Auch Divine Dekonor, Vorsitzender der Abfallsammler-Gesellschaft in Accra, arbeitet unter harten Bedingungen. Seit 2010 trennt er täglich von 7 Uhr morgens bis 17 Uhr Müll auf der Deponie Kpone in Accra. Monatlich verdient er dabei umgerechnet 75 Euro. Wie viele andere, die in der Mülltrennung arbeiten, leidet Dekonor unter chronischen Hüftschmerzen: “Fast jeder, der hier arbeitet, hat dieses Problem, weil wir uns ständig bücken müssen”, erklärt er. Aus erster Hand sieht Dekonor durch seine Arbeit den Schaden, den low-quality Textilien in Ghana anrichten. Ein einfaches Polyester-Shirt zum Beispiel kann bis zu 200 Jahren brauchen, bis es zerfällt. “Wir wünschen uns, dass europäische Länder mehr in Kleidung und Textilmüll investieren, damit die Materialien und die Menge nicht unsere Umwelt bedrohen”, sagt Dekonor.

Divine Dekonor arbeitet seit 2010 täglich von 7 Uhr morgens bis 17 Uhr als Abfallsammler auf der Mülldeponie Kpone in Accra. Bild: Divine Dekonor.
Divine Dekonor sieht durch seine Arbeit aus erster Hand den Schaden, den low-quality Textilien in Ghana anrichten. “Wir wünschen uns, dass europäische Länder mehr in Kleidung und Textilmüll investieren, damit die Materialien und die Menge nicht unsere Umwelt bedrohen”, sagt Dekonor. Bild: Divine Dekonor.
Wie viele andere, die in der Mülltrennung arbeiten, leidet Dekonor unter chronischen Hüftschmerzen: “Fast jeder, der hier arbeitet, hat dieses Problem, weil wir uns ständig bücken müssen”, so Dekonor. Bild: Divine Dekonor.
Überfüllte Mülldeponien sind in Ghana Symptom einer ökologischen Krise, ausgelöst durch Textil- und andere Abfälle aus dem globalen Norden. Bild: Divine Dekonor.

Fast Fashion: Mode als Wegwerfware

Seit 2000 hat sich die globale Produktion von Kleidung verdoppelt, während die Qualität und die Ausgaben für Kleidung gesunken sind. Dieses Phänomen hat einen Namen: Fast Fashion. Günstige Kleidung, oft aus billigen, synthetischen Fasern produziert, schnell wechselnde Kollektionen, viel Textilmüll. Laut einer Greenpeace-Studie besitzt jeder deutsche Erwachsene 95 Kleidungsstücke, ohne Unterhosen und Socken, etwa 60 Kleidungsstücke kommen jährlich dazu. Jedes fünfte Kleidungsstück wird so gut wie nie getragen.

Heute kaufen wir doppelt so viel Kleidung wie noch vor 15 Jahren, aber wir tragen sie nur noch halb so lang. Weltweit werden jährlich etwa 150 Milliarden Kleidungsstücke produziert, aber laut dem Weltwirtschaftsforum landen etwa 85 % davon auf Mülldeponien wie Old Fadama. Orte, an denen der Müll der einen zum Zuhause der anderen wird. „Wir sind die Müllhalde für Textilabfälle aus Europa, Australien und sonst wo geworden”, sagt Accras Abfall-Manager Solomon Noi.

Die Wurzel dieser ökologischen Krise ist das Fast Fashion-Phänomen. Denn aufgrund der gestiegenen Produktion und der gesunkenen Qualität ist das Geschäft mit Altkleidern für Händler:innen nicht mehr profitabel. „Die Händler:innen kaufen diese großen Säcke mit Secondhand-Kleidung, um sie weiterzuverkaufen, aber der Großteil ist nicht mehr in nutzbarem Zustand“, erklärt Beatrice Vanek, die für das Waste Management Unternehmen Black Forest Solutions für ein Projekt in Ghana war. Je mehr Kleidung nicht nutzbar ist, desto mehr landet direkt auf Mülldeponien.

Je mehr Kleidung schlechte Qualität hat, desto mehr landet auf Mülldeponien, so wie der Mülldeponie Kpone. Bild: Beatrice Vanek
An der Wurzel dieser ökologischen Krise ist das Fast Fashion-Phänomen. Denn aufgrund der gestiegenen Produktion und der gesunkenen Qualität ist das Geschäft mit Altkleidern für Händler:innen nicht mehr profitabel, also landet ein Großteil der importierten Kleidung auf Mülldeponien. Bild: Beatrice Vanek

Modehäuser produzieren gezielt mehr, als sie verkaufen können

Alleine 2018 kalkulierte H&M die Nachfrage nach den eigenen Produkten versehentlich dermaßen falsch, dass das Modehaus am Ende des Jahres nicht verkaufte Produkte im Wert von 4,3 Milliarden Dollar hatte.

Auch der chinesische Fast Fashion-Riese Shein ist für seine „Mode als Wegwerfware”-Mentalität bekannt. Shein listet auf seiner Website täglich zwischen 2.000 und 10.000 neuen Produkten, aber nur 6 % der gelisteten Produkte halten sich auf der Website länger als 90 Tage. Die niedrige Qualität der Produkte motiviert Sheins Kund:innen zudem dazu, beschädigte Produkte schnell zu entsorgen und neue zu erwerben. Shein allein produziert jährlich 6,3 Millionen Tonnen Treibhausgase als Nebenprodukt seiner Produktion.

Wissenschaftler:innen sind sich heute einig, dass Fast Fashion direkt für die globale Zunahme von Textilmüll verantwortlich ist. 2018 produzierte der Fast Fashion Sektor 2,1 Milliarden Tonnen Treibhausgasemissionen. Und das, obwohl das Bewusstsein für Nachhaltigkeit in Europa in den letzten 10 Jahren zugenommen hat. Paradoxerweise mussten Forscher:innen feststellen, dass der Konsum von Textilien trotzdem weltweit gestiegen ist und Konsument:innen Kleidungsstücke schneller entsorgen.

Die Verantwortung liegt bei den Konsument:innen

Der Ghanaer Yayra Agbofah ist Social Entrepreneur und setzt sich mit seiner NGO „The Revival“ für Upcycling des Textilmülls in Ghana ein. Sein Ziel: Upcycling als kulturelle Praxis etablieren, um mit Textilmüll besser umzugehen. „Kannst du dir vorstellen, dass dein T-Shirt weniger kostet als ein Kaffee? Würdest du es länger tragen, als du deinen Kaffee trinkst?“, fragt ​​Yayra Agbofah das Publikum während seines Vortrags auf der Fashion Changers Konferenz für nachhaltige Mode.

Der Ghanaer Yayra Agbofah ist Social Entrepreneur und setzt sich mit seiner NGO „The Revival“ für Upcycling des Textilmülls in Ghana ein. Sein Ziel: Upcycling als kulturelle Praxis etablieren, um mit Textilmüll besser umzugehen. Bild: The Revival

„Nachhaltigkeit im Kapitalismus zu etablieren ist sehr schwierig, weil Industrien darauf ausgelegt sind, Profit zu machen“, erklärt Agbofah. „Je mehr du verkaufst, desto mehr Profit machst du. Und um mehr zu verkaufen, musst du Menschen gezielt dazu bringen, mehr zu konsumieren und mehr zu produzieren. In der Produktion gibt es aber eine Mindestanzahl: Wenn du Knöpfe für einen Mantel brauchst, gibt die Fabrik eine Mindestanzahl von tausend Knöpfen vor. Auch wenn du nur zehn brauchst, musst du tausend bestellen und bist so dazu gezwungen, mehr Ware zu produzieren.“

In der konkurrenzorientierten Marktwirtschaft, so Agbofah, gäbe es viele Aspekte, die den Produzent:innen wirtschaftlich nicht erlauben, mehr Nachhaltigkeit durchzusetzen. Da Nachhaltigkeit aber gerade im Trend ist, greifen Modehäuser zu Greenwashing-Praktiken. So auch Fashion Gigant Shein, der kürzlich ankündigte, 15 Millionen Dollar an Textilarbeiter:innen in Ghana zu spenden.

Aber was sind schon 15 Millionen Dollar für ein Modehaus mit einem Marktwert von 100 Milliarden Dollar? Ähnlich verhält es sich mit H&Ms „Let’s Close the Loop”-Kampagne, die seit 2013 gebrauchte Kleidung annimmt und recycelt. Im Austausch für ihre gebrauchte Kleidung bekommen Kund:innen einen Warengutschein – werden also erneut zum Konsum angeregt.

Für Agbofah sind Kampagnen und Gesten dieser Art nichts weiter als Greenwashing. „Die Modehäuser präsentieren sich in den Augen der Konsument:innen als nachhaltig, ohne ihre Produktion zu reduzieren”, sagt er. Aber nur, wer die Produktion reduziert, wirkt der Überproduktion entgegen. „Das heißt aber nicht, dass Nachhaltigkeit nicht möglich ist”, sagt Agbofah. „Als Konsument:innen haben wir die Macht, das Narrativ zu ändern und nicht überzukonsumieren. Wenn wir nicht überkonsumieren, hat die Industrie keine andere Wahl, als nicht überzuproduzieren.”

Yayra Agbofahs Ziel ist es, Upcycling als kulturelle Praxis zu etablieren. Bild: Friday Boi (J.K.M Wormenor)
Gemeinsam mit seinem Team gibt Yayra Agbofah Upcycling-Workshops, zum Beispiel auf dem Secondhand-Markt in Kantamanto, und macht aus gebrauchten Jeans-Stoffen Uniformen für lokale Ananas-Bauern. Bild: Friday Boi (J.K.M Wormenor)

Neben der Bekämpfung des Überkonsums ist auch die Etablierung einer kulturell verankerten Recycling-Mentalität wichtig, um Fashion Waste entgegenzuwirken. Mit The Revival setzt Agbofah deshalb auf Bildung und Umsetzung: Gemeinsam mit seinem Team gibt er Upcycling-Workshops, zum Beispiel auf dem Second Hand-Markt in Kantamanto, und macht aus gebrauchten Jeans-Stoffen Uniformen für lokale Ananas-Bauern.

Als Konsument:innen können wir in Sachen Nachhaltigkeit noch viel von Ghana lernen, das macht Agbofah deutlich. Denn anders als hierzulande sei Exzess in Ghana keine salonfähige Praxis. „Hier schmeißen die Menschen ihre Kleidung und Produkte nicht einfach weg. Sie behalten sie oder geben sie an andere Generationen weiter”, sagt Agbofah. Diese kulturelle Praxis war auch mal in Europa üblich. Ein paar Jahrzehnte des Überflusses haben leider schon gereicht, diese über Bord zu werfen. Umso wichtiger wird es nun, Konzepten wie Upcycling und Conscious Consumption mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

Ihr möchtet euch gegen Überproduktion und Überkonsum engagieren? Dann reduziert euren Konsum, schmeißt eure alte Kleidung nicht weg und spendet sie nicht an Organisationen, die sie in andere Länder exportieren. Welche karitativen Organisationen seriös sind, erfahrt ihr in diesem Merkblatt der Verbraucherzentrale. Ihr möchtet euch weiterbilden und Organisationen unterstützen, die sich gegen Textilmüll engagieren? Dann wendet euch an Organisationen wie The Or oder The Revival, oder werdet Mitglied bei den Fashion Changers. Mehr Informationen zu Ghanas Textilmüll-Krise erhaltet ihr auch in Yayra Agbofahs TEDTalk.