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Foto: Lotte Berk.

Das Geheimnis von Barre: mehr als nur ein „pretty girl workout“

Barre, das Workout aus den 60er-Jahren, lockt Menschen weltweit in die Sportstudios – vor allem Frauen. Dafür gibt es historische Gründe. Kontrollierte körperliche Bewegungen zur sexuellen Befreiung waren einst das Motto. Darüber spricht heute kaum jemand mehr. Warum ist das so? Aus welchem Grund ist Lotte Berk wichtig für die Geschichte? Und welche Relevanz hat ihre sportliche Mission heute noch?

Wie eine Ballerina im Koffeinrausch

Kontrollierte Posen, kleine Bewegungen, elektronische Musik. Das einstündige Training auf der Matte und an der Ballettstange sowie Planks, Lunches, Squats und Core Work bringen meine Muskeln zum Zittern. Barre ist ein derzeit weltweit angesagtes Work-out, bei dem Übungen aus Yoga, Pilates, Ballett und funktionellem Training vereint werden. Und darauf, so verrät der Blick in die Trainingsräume eines Barre-Studios, setzen vor allem Frauen zwischen 20 und Mitte 40. Barre ist auch als „pretty girl workout“ verschrien, das von Models in den sozialen Medien vorgeturnt wird und das damit die Hoffnung auf Idealmaße schürt. Der Guardian hingegen lästert, die Bewegungen würden an eine Ballerina auf Koffeintabletten erinnern. Dass Barre nicht aus einem Schönheitswahn, sondern einer emanzipatorischen Motivation geboren wurde, ahnen nur wenige im Raum. Mehr dazu später.

„Bei der Entwicklung unserer Barre-Methode war es uns besonders wichtig, das Training so geschlechtsneutral wie möglich zu gestalten. Die Vorteile dieser Praxis sind universell.“ Foto: Shirah Perry, Barre-Senior-Trainerin und Ausbilderin beim Boutique-Studio BeCycle in Berlin.

Barre ist das Work-out der Leistungsgesellschaft, also für all jene, die Arbeit, Familie und Freizeit effizient organisieren müssen. CNN definiert die Zielgruppe als „physical overachievers“ – Personen, die bereits relativ fit sind, sich aber ständiger Optimierung unterziehen. Davon profitieren aber zunehmend auch Männer: „Bei der Entwicklung unserer Barre-Methode war es uns besonders wichtig, das Training so geschlechtsneutral wie möglich zu gestalten. Die Vorteile dieser Praxis sind universell“, erklärt Shirah Perry, Barre-Senior-Trainerin und Ausbilderin beim Boutique-Studio BeCycle in Berlin. Wie viele Trainerinnen hat Shirah ihren Hintergrund im Tanz. Unterschiedliche Einflüsse des Movement-Trainings, aus Pilates und Yoga, vereint Shirah heute auf eine Weise, die Menschen unterschiedlicher Statur ganzheitlich trainiert – und nicht nur Models formt. Dieser Gedanke wäre auch ganz im Sinne von Lotte Berk, der Erfinderin von Barre, gewesen.

Pelvic tucks für die gesellschaftliche Befreiung

Lotte Berk war eine deutsche zeitgenössische Tänzerin, die in den 1930er-Jahren aus ihrer Geburtsstadt Köln fliehen musste, da sie dort als Jüdin unter dem Schreckensregime der Nazis nicht mehr auftreten durfte. In London führte sie ihre Karriere fort. Dort eröffnete sie 1959 im Alter von 46 Jahren ein Übungsstudio nur für Frauen, in dem man ihr tägliches Tanz-Work-out erlernen konnte. Und das hatte es in sich!

„If you can’t tuck, you can’t fuck.“ Eine Frau, so Lotte Berk, könne im Bett kein Vergnügen erwarten, wenn sie ihren Beckenboden nicht einzusetzen weiß; und der wird bei Barre trainiert. Wer war diese Frau, die kein Blatt vor den Mund nahm, die heute auch als Queen of Fitness gilt und mit sportlichen Methoden für die Befreiung des weiblichen Geschlechts kämpfte? Mit ausgeprägtem deutschen Akzent spricht die adrette Dame in die Kamera. Ihre Haltung so präzise wie ihr Make-up und der brünette Bubikopf. „With exercises you lose inches, with counting calories you lose pounds. The secret is to persevere. Because you feel better, walk better and feel happier“, verspricht sie in ihrem Work-out-Video mit bestimmter Stimme.

Berk erkannte bald, dass ihr Training nicht nur bei der Genesung von Rückenproblemen half. Die Lotte-Berk-Technik steigerte auch das sexuelle Lustempfinden. Was als unverhoffter Nebeneffekt eintrat, brachte Frauen die Befreiung. Eine gewisse Prise Humor nahm einem damaligen Tabu die Schwere: „The Prostitute“, „The Sex“ und „Naughty Bottoms“ hießen die einstigen Posen.

Lotte Berk, die Erfinderin von Barre war das perfekte Vorbild für das Empowerment, das die Barre Sportart verbreiten sollte. Foto: Lotte Berk in den frühen 1960ern.

Beine werden da schon mal wie auf dem Untersuchungsstuhl des Gynäkologen gehalten. Das „pelvic tucking“, also das Kippen des Beckenbodens, sieht nach Sex aus – und fühlt sich auch ein bisschen so an. Durch die Anspannung des Unterleibs wird dieser besser durchblutet, gleichzeitig gewinnen wir, Frau sowie Mann, die Kontrolle über ihn. Jenseits der körperlichen Schulung sollten Frauen in den 60er-Jahren vor allem dazu ermutigt werden, ihre Lust auszuleben, sich von gesellschaftlichen Zwängen zu befreien und sich als starke, sinnliche Wesen wahrzunehmen.

Die Vermittlung sexuellen Selbstbewusstseins war für die damalige Zeit radikal und Lotte Berk die ideale Botschafterin. Berk, die schon immer ein emanzipiertes Privatleben genoss, bisexuell liebte und in einer offenen Beziehung mit ihrem Ehemann lebte, wurde damit endgültig zur „Freie Liebe“-Botschafterin. 1970, während der zweiten Welle des Feminismus, verhalfen die Medien ihrem Work-out zu weitreichender Bekanntheit. Allerdings versäumte sie es, sich die Rechte an ihrer Technik sowie ihrem Namen zu sichern: Davon profitierten andere und heute boomt der Markt mit Varianten der Lotte-Berk-Technik nicht nur in den USA, sondern auch in Europa.

Empowerment ja, aber nicht nur sexuell

Was aktuell unterrichtet wird, hat mit der Lotte-Berk-Technik allerdings nicht mehr viel zu tun. „Barre ist unglaublich offen für Interpretation. Man kann aus zahllosen unterschiedlichen Stilen und Ansätzen den für sich passenden wählen“, erklärt Shirah. Berks Technik wurde über die Jahre in ihrer Sinnlichkeit reduziert. Explizite sexuelle Referenzen spielen in Shirahs Unterricht keine Rolle. „Um im Rahmen unserer Bemühungen eine inklusive und einladende Umgebung zu schaffen, vermeiden wir übertrieben sexuelle Bewegungen, Aussagen oder Andeutungen. Es ist 2020 und Empowerment kommt in so vielen Formen daher!“ Der sexuelle Nebeneffekt ist somit in den Hintergrund gerückt. Laut Burr Leonard, Gründerin von The Bar Method, wurde in der Trainerausbildung im Jahr 1990 sogar explizit verboten, diesem Aspekt Aufmerksamkeit zu schenken. Sex wurde in den Studios zum Tabu – und ist es scheinbar immer noch, weil wir die Befreiung erreicht haben?

Zum Themendienst-Bericht von Teresa Nauber vom 13. Dezember 2017:
Mit Ball an der Ballettstange: Im Berliner Studio ´Becycleª wird beim Barre-Work-out auch mit Hilfsmitteln trainiert. (Archivbild vom 29.11.2017. Foto: Alexander Heinl/dpa-tmn

Sport als Spiegel der Zeit

Die Fitnessindustrie ist ein Spiegel des aktuellen Zeitgeists. Immer neue Sportarten reagieren gefühlt immer schneller auf Bedürfnisse der Gesellschaft – auf kollektiver wie auch auf individueller Ebene: Power oder Entspannung, Kraft oder Ausdauer, Outdoor- oder Indoor-Aktivitäten. In den 80er-Jahren emanzipierte sich beispielsweise Jane Fonda mit ihren Aerobic-Videos aus den ihr zugeschriebenen Rollen als Model, Schauspielerin und abhängige Ehefrau. Sie zeigte außerdem der Welt, dass es neben Fußball für Männer auch Work-outs für Frauen gibt. In den 90er-Jahren entwickelte sich die Fitnesswelle dann Richtung High-Impact-Training: schlanke Linie für die Frau, Muskeln für den Mann. Heute hingegen vereinen immer mehr Work-outs wie Boxen, Yoga und Langstreckenläufe physische sowie mentale Stärkung. Die aktuelle Leistungsgesellschaft fordert uns ganzheitlich, nur haben sich die Themen seit den 1960er-Jahren verändert. In den meisten Ländern haben wir uns seitdem sexuell befreit. Wir brauchen also – hoffentlich – keinen geschlossenen Raum und keine angeleitete Praxis mehr, um uns sexuell zu entdecken und zu schulen.

Durch Barre zu mehr Emanzipation? Foto: Shira Perry, BeCycle Barre Berlin.

Dennoch, auch wenn sie nicht der vorrangige Grund für Barre ist, eine abschließende Frage an Shirah: Tragen Lotte Berks Übungen wirklich zur sexuellen Lust bei? „Ich kann aus persönlicher Erfahrung durchaus sagen, dass dieses Format, wenn es richtig ausgeführt wird, ein Rezept für erfüllten Sex ist. Aber das ist nur ein Aspekt von vielen.“ Es ist daher nur fair, den Mehrwert von Barre, dem vermeintlichen „pretty girl workout“, anzuerkennen. Barre kann ein Work-out für Empowerment sein – nur eben in anderen Bereichen.