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Diagnose unfruchtbar bei Männern: Ein Tabuthema gewinnt an Aufmerksamkeit

Die Spermienkrise wird seit Jahren öffentlichkeitswirksam diskutiert. Aber was ist dran an den beängstigenden Zahlen? Und was macht die Diagnose unfruchtbar mit der Beziehung, der Lebensplanung und dem Selbstverständnis von Männern?

Lange hängt der Kinderwunsch von Journalist Benedikt Schwan und seiner Frau in der Schwebe. Wollen sie Kinder, können sie sich diese leisten und haben sie das Zeug dazu, einen anderen Menschen großzuziehen? Als sie die Fragen allesamt mit Ja beantworten, ist Benedikt Schwan 35. Sie gehen es ganz entspannt an und lassen sich Zeit. Ohne Druck verbringen sie fünf Jahre mit dem Versuchen. 

Erst als er 41 ist, begeben sie sich in die Hände eines Kinderwunschzentrums. Dann der Schock: Benedikt Schwan hat Azoospermie, in seinem Ejakulat befinden sich keine Spermien. Er ist zeugungsunfähig. Die Diagnose schmeißt von heute auf morgen alles um, woran er vormals geglaubt hat. Plötzlich stellt er seine Männlichkeit, die eigene Lebensplanung und die Haltbarkeit seiner Beziehung in Frage. Die Selbstverständlichkeit, mit der er und seine Partnerin einst an den Kinderwunsch rangegangen sind, ist wie weggeblasen. Viele seiner Sorgen kann seine Frau auffangen, aber den Verlust des gemeinsamen Lebenstraums müssen sie zusammen stemmen. Im Umgang mit seiner Krankheit beginnt der Journalist zu recherchieren und seinen eigenen Schicksalsschlag im Rahmen eines größeren Ganzen zu betrachten. Denn entgegen seiner Befürchtungen, die dem stigmatisierten Tabuthema ganz klassisch anhaften, ist er mit seiner Diagnose nicht allein.

Männliche Unfruchtbarkeit scheint seit Jahrzehnten zu steigen

Laut der Weltgesundheitsorganisation gelten rund 15 Prozent der Paare weltweit als unfruchtbar. Mediziner:innen dokumentieren und behandeln Unfruchtbarkeit als couples disease, also als Paarkrankheit, was Aussagen über die gesonderte Zeugungsunfähigkeit des Mannes erschwert. Sie betrachten die Ursachen der Unfruchtbarkeit bei heterosexuellen Paaren in drei Kategorien: ein Drittel rein weibliche Faktoren, ein Drittel rein männliche Faktoren und ein Drittel, an dem beide Partner:innen Anteile tragen. Die männlichen Faktoren rücken jedoch erst seit einigen Jahren in den Fokus – und werden medial immer häufiger als wachsendes Problem thematisiert. Insbesondere nachdem eine Studie 2017 ergab, dass sich die Spermienzahl in den westlichen Industriestaaten seit den 70er-Jahren halbiert hat. Und die Autoren der Studie 2022 eine Neuauflage veröffentlichten, die das Problem als globales identifizierte. “Ich denke, dass es sich um eine Krise handelt, die wir angehen sollten, bevor sie einen Wendepunkt erreicht”, sagt Autor und Wissenschaftler Hagai Levine in Bezug auf die Erkenntnisse. Der Rückgang der Spermienanzahl repräsentiere aus seiner Sicht eine sinkende Kapazität der Reproduktionsfähigkeit.

Mediziner:innen dokumentieren und behandeln Unfruchtbarkeit als couples disease, also als Paarkrankheit, was Aussagen über die gesonderte Zeugungsunfähigkeit des Mannes erschwert. Die männlichen Faktoren rücken erst seit einigen Jahren in den Fokus. Grafik: Mikael Häggström (PD)

Doch was die ausgerufene Fruchtbarkeitskrise angeht, scheiden sich die Geister. Einige Forscher:innen nehmen die Studie wie Levine als Warnung wahr, andere sind von ihrer Aussagekraft nicht ganz überzeugt. So auch Dr. med. Maria Schubert vom Centrum für Reproduktionsmedizin und Andrologie der Universität Münster. Als klinische Andrologin und Wissenschaftlerin beschäftigt sie sich täglich mit den Fortpflanzungsfunktionen des Mannes – und beschwichtigt. Bedeutend sei nicht nur die Spermienmenge, auf die sich viele Studien fokussieren, sondern auch andere Parameter wie die Beweglichkeit der Spermien. Darüber hinaus liege die Spermienanzahl in den Studien nach wie vor oberhalb des Normbereichs. Schubert weist zudem darauf hin, dass es zwar steigende Zahlen männlicher Unfruchtbarkeit gebe, aber nicht ganz klar sei, worauf dieser Trend zurückzuführen sei – und ob es sich tatsächlich um einen Trend der Unfruchtbarkeit handele. Denn in den letzten Jahren habe sich einerseits die Diagnostik verbessert, andererseits sei männliche Unfruchtbarkeit bei Mediziner:innen stärker in den Fokus gerückt. Erst seit 2017 müssen sich Männer in Deutschland vor Beginn einer Kinderwunschbehandlung von eine:r Androlog:in untersuchen lassen. Die steigende Zeugungsunfähigkeit von Männern könnte also verschiedene Gründe haben und weise laut Schubert nicht zwangsläufig auf eine anbahnende Krise hin.

Zwar gibt es steigende Zahlen männlicher Unfruchtbarkeit, aber worauf dieser Trend zurückzuführen ist, ist nicht ganz klar. Denn in den letzten Jahren hat sich einerseits die Diagnostik verbessert, andererseits ist männliche Unfruchtbarkeit bei Mediziner:innen stärker in den Fokus gerückt. Bild: Bobjgalindo (CC BY-SA 4.0)

Bei 60 bis 70 Prozent der betroffenen Männer liegen die Ursachen im Verborgenen

Besorgniserregender ordnet die Andrologin die wissenschaftlichen Lücken in der Ursachenforschung ein. Häufig ist die Zeugungsunfähigkeit beim Mann Folge eines Hodenhochstands, einer Krampfader oder Krebserkrankung, auch genetische Ursachen sind geläufig. Darüber hinaus können Umwelteinflüsse wie Nikotin, ungesunde Ernährung und mangelnde Bewegung die Fruchtbarkeit einschränken. Doch bei sechzig bis siebzig Prozent der Männer mit eingeschränkter Zeugungsfähigkeit sind die Ursachen bis heute unbekannt. Das setzt der Behandlung aktuell Grenzen, denn “in der Medizin therapieren wir gerne Dinge, deren Ursachen wir kennen”, so Maria Schubert.

Benedikt Schwan hat Azoospermie, in seinem Ejakulat befinden sich keine Spermien. Er ist zeugungsunfähig. Die Diagnose schmeißt von heute auf morgen alles um, woran er vormals geglaubt hat. Plötzlich stellt er seine Männlichkeit, die eigene Lebensplanung und die Haltbarkeit seiner Beziehung in Frage. Bild: Nat Urazmetova

Auch die Ursache von Benedikt Schwans Azoospermie ist nach wie vor unklar. Der Journalist beschäftigt sich in Ohnekind, dem aus seiner Recherche entstandenen Buch, mit den gesellschaftlichen Risiken, die eine mögliche Fruchtbarkeitskrise mit sich bringen könnte. Schließlich könnten mit sinkender Spermienqualität auch die Zukunft der Menschheit wackeln. In Anbetracht einer solchen Prognose passiert ihm politisch aktuell viel zu wenig. Schwan ist der Meinung: Es sollte im Interesse eines Staates liegen, dass seine Bürger Kinder bekommen, denn nur so gehe es weiter. Das Problem bestehe zunehmend weltweit. Zu den Lösungsansätzen gehört für den Journalisten auch die unkomplizierte Finanzierung der Kinderwunschbehandlung in Deutschland. Denn die kostet: Drei Versuche kriegen Kassenpatient:innen als verheiratetes Paar zur Hälfte bezahlt – die restlichen Aufwendungen müssen sie selbst tragen, wenn sie nicht das Glück haben, auf von den Ländern bereitgestellte Fördertöpfe zuzugreifen. Auch die Forschung nach Ursachen sollte finanziell deutlich besser unterstützt werden, so Benedikt Schwan.

Betroffene betrauern einen Traum, der sich nie bewahrheiten wird

Nach einigem Hin und Her entscheidet sich Benedikt Schwan dann gemeinsam mit seiner Frau gegen eine Kinderwunschbehandlung. Zwar hätte er seine Hoden mit einer sogenannten Mikro-TESE auf existierende Samenzellen untersuchen lassen können. Doch sie beschließen, dass es dafür aufgrund ihres – für einen Kinderwunsch – fortgeschrittenen Alters zu spät ist. Rückblickend bereut der Journalist, nicht früher mit der Familienplanung angefangen zu haben. „Für meine Beziehung hat es letztlich bedeutet, dass wir dieses Familienbild begraben mussten“, sagt er. Doch nur weil Benedikt Schwan diese Klarheit errungen hat, tut der Verlust eines potenziellen Kindes, einer potenziellen Zukunft, nicht weniger weh.

Der Umgang mit dem Thema der Zeugungsunfähigkeit wird für Betroffene wie Benedikt Schwan zudem erschwert, weil beinahe der Eindruck entstehen könnte, sie wären mit ihrem Schmerz alleine. Kaum ein Mann redet öffentlich über die eigene Diagnose, in Kommentarspalten tauschen sich häufig Frauen aus – selbst wenn es nicht um ihre, sondern um die Unfruchtbarkeit ihres Partners geht. Der Zeugungsunfähigkeit haftet ein Gefühl der Scham an, das wohl vom Konstrukt der Männlichkeit herrührt. „Die Männer haben so eine Angst, öffentlich über männliche Zeugungsunfähigkeit zu reden, weil sie das Gefühl haben, sie sind keine richtigen Männer mehr“, so Benedikt Schwan. Der Journalist kennt diese Zweifel nur zu gut. Nur wenige Männer wollten über ihre Unfruchtbarkeit sprechen. Erst nach Veröffentlichung seines Buches kamen viele Betroffene mit ihrer ganz persönlichen Geschichte auf den Autor zu.

Kaum ein Mann redet öffentlich über die eigene Diagnose, in Kommentarspalten tauschen sich häufig Frauen aus. Der Zeugungsunfähigkeit haftet ein Gefühl der Scham an, das wohl vom Konstrukt der Männlichkeit herrührt. Bild: Alex Green

Thema Fruchtbarkeit: Wie früh ist zu früh?

Benedikt Schwan möchte Veränderung sehen. Auch, aber nicht nur, weil die Problematik sich in den nächsten Jahrzehnten zuspitzen könnte. Er appelliert an Eltern von Jungen und an junge Männer selbst, sich schon früh mit dem Thema Fruchtbarkeit auseinanderzusetzen. Viel früher, als er es getan hat. So plädiert er dafür, dass Jungen möglicherweise schon mit dem Eintritt in die Pubertät Samenproben abgeben, um frühzeitig Probleme zu erkennen. Auch identifiziert er eine große Diskrepanz zwischen dem Umgang von Frauen mit Gynäkolog:innen und Männern mit Androlog:innen. Ein engeres Verhältnis und regelmäßigere Besuche in der Andrologie könnten seiner Einschätzung nach eine frühere Diagnostik ermöglichen – und damit Heilungschancen verbessern.

Die Andrologin Maria Schubert sieht vor allem die Mediziner:innen in der Verantwortung, Auffälligkeiten am Hoden wie beispielsweise eine Krampfader oder Hodenhochstand im Blick zu haben. Regelmäßige Spermiogramme, also die Untersuchung des Spermas auf dessen Menge und Qualität, könnten hingegen schnell ungewünschte Nebenwirkungen herbeiführen. Bild: privat

Die Andrologin Maria Schubert sieht dagegen vielmehr die Mediziner:innen selbst in der Verantwortung. Kinderärzt:innen und Allgemeinmediziner:innen sollten Auffälligkeiten am Hoden wie beispielsweise eine Krampfader oder Hodenhochstand im Blick haben und schon im jungen Alter darauf pochen, diese näher untersuchen und gegebenenfalls behandeln zu lassen. Darüber hinaus ist sie der Meinung, dass ein Besuch bei eine:r Androlog:in oder Urolog:in nach zwölf Monaten des unerfüllten Kinderwunsches ausreiche, wenn keine bekannten Risikofaktoren auf männlicher oder weiblicher Seite vorliegen und die Partnerin unter 35 Jahre alt ist. Regelmäßige, „prophylaktische“ Spermiogramme, also die Untersuchung des Spermas auf dessen Qualität, könnten dagegen schnell ungewünschte Folgen herbeiführen. Schließlich bilden sich die Spermien alle zwei bis drei Monate neu und das Spermiogramm ist somit nur eine Momentaufnahme. Ist ein Mann also gerade besonders gestresst oder ernährt sich schlechter als sonst, kann das Ergebnis düster aussehen – und noch mehr Stress hervorrufen, der gar nicht nötig gewesen wäre.

Männliche Unfruchtbarkeit verdient mehr Sichtbarkeit

Ganz gleich, ob die männliche Unfruchtbarkeit zum wachsenden Problem wird oder andere Faktoren zu den steigenden Zahlen führen, Unfruchtbarkeit ist für die betroffenen Individuen bereits heute ein Thema. Denn Benedikt Schwan und Maria Schubert sind sich einig: Die Diagnose Unfruchtbarkeit bedeutet häufig einen ähnlich tiefen Einschnitt wie die einer lebensbedrohlichen Krankheit. „Die Belastung und Einschränkung, die betroffene Paare erleben, wenn sie einen lange gehegten Wunsch in seiner Selbstverständlichkeit plötzlich hinterfragen müssen, wird häufig unterschätzt“, sagt Schubert. Auch erzählt sie, dass viele Patient:innen ganz erstaunt sind, wenn sie sehen, dass sie im Wartezimmer nicht allein sind – denn andere Betroffene gibt es zur Genüge, auch wenn man selten von ihnen hört. Vielleicht bringt der (vermeintliche) Trend der männlichen Unfruchtbarkeit so letztlich zumindest ein Positives: Das Tabu rund ums Thema Zeugungsunfähigkeit wird langsam endlich gebrochen.