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Foto: Diane Valera für MIPSTERZ

„Es hat seinen Preis, als Muslim aufzuwachsen” – ein muslimischer Hipster träumt von Utopie

Das Künstlerkollektiv Mipsterz hat die Muslim-Futurism-Bewegung ins Leben gerufen. Sie träumt von einer Zukunft, in der Muslim*innen und PoC die gleichen Chancen haben wie weiße Menschen. Wir haben mit dem Gründer Abbas Rattani gesprochen. Der Arzt, Künstler und Akademiker glaubt, dass Fiktion und Futurismus die richtigen Katalysatoren für eine bessere Zukunft sind.

Sind alle Mipsterz muslimisch?

Mipsterz sind ein dezentralisiertes Künstlernetzwerk von Menschen, die sich als muslimische Hipster identifizieren. Ich persönlich möchte nicht an den „dunklen Künsten“ teilnehmen, die definieren, was Menschen sind oder nicht sind, wer ein*e Muslim*in ist und wer nicht, aber alle unsere Mitglieder identifizieren sich als Muslim*innen. Wir haben nicht alle die gleichen religiösen Vorstellungen, aber zumindest teilen wir alle eine ähnliche metaphysische Vorstellung, den Glauben an eine höhere Macht. Manche von uns halten sich nicht an die Traditionen, ich persönlich bete fünfmal täglich, faste und lebe alle Traditionen.

Du bist muslimisch aufgewachsen?

Richtig. Mein Vater kommt aus Tansania, meine Mutter aus Indien. Meine Eltern kommen aus unterschiedlichen Orten und Systemen der Welt, deshalb habe auch ich einen weiteren Blick. Und das ist auch das Ethos bei Mipsterz. Wir sind offen für alle, jeder kann mitmachen.

Wer ist in der Muslim-Futurism-Utopie mit inbegriffen und wer entscheidet darüber?

Das ist die grundlegende Frage. Wir wollen definieren, wie die Zukunft im Jahr 3000 aussehen könnte. Man könnte argumentieren, alle Menschen sollten ein Interesse an Freiheit von Unterdrückung und Widerstand gegen hegemoniale Kräfte haben, die verhindern, dass marginalisierte Menschen aufblühen können. Alle, die dieses Interesse haben, machen automatisch in dieser zukünftigen Welt, in unserer Utopie, mit, da wir dieselbe Sprache sprechen. Deshalb haben wir unser Projekt in fünf Kategorien aufgeteilt: Identität, Gemeinschaft, Vorstellungskraft, Widerstand und Befreiung. Das sind auch die Themen der Afrofuturism-Bewegung, auf die auch die Muslim Futurism aufgebaut ist. Man könnte die Nation of Islam (Anm. d. Red.: eine politische Bewegung aus den USA) als eine frühe Form von Muslim Futurism ansehen. Auch Elijah Muhammad und Malcolm X fantasierten von einer Zukunftswelt, in der PoC unabhängig vom weißen Mann sind.

Wie die Afrofuturism-Bewegung träumt die Muslim Futurism Bewegung, der Ahmad El-Naggar und Rhea Morris angehören, von einer utopischen Zukunft, in der PoC unabhängig vom weißen Mann sind. Foto: Jenn Ravenna Tran für MIPSTERZ

Was ist der Unterschied zwischen Afrofuturism und Muslim Futurism?

Afrofuturism ist eine kulturelle und akademische Philosophie, die sich mit schwarzer Existenz in der Zukunft auseinandersetzt. Das Konzept basiert nicht auf Religion, sondern auf der Geschichte von Schwarzen in Amerika und über Amerika hinaus. Muslim Futurism und Afrofuturism gehören gewissermaßen zusammen. Muslim Futurism beinhaltet eine Erweiterung der afrofuturistischen Weltanschauung, die auch muslimische Menschen anderer Identitäten zusätzlich zur Schwarzen bzw. Afroamerikanischen miteinbezieht. Ohne Afrofuturism gäbe es Muslim Futurism nicht. Beide sind eine Reaktion auf Rassismus und white supremacy, die in allen Kulturen präsent sind und beide Bewegungen fordern Gleichberechtigung, Gerechtigkeit und Freiheit. So wie Afrofuturism fragt, wie eine schwarze Utopie aussehen könnte, fragt Muslim Futurism, wie eine muslimische Utopie aussehen könnte. Ein Fünftel der Muslim*innen in Amerika sind schwarz. Mos Deaf und Dave Chappelle sind schwarze Muslime, Malcolm X und Muhammad Ali waren schwarze Muslime. Viele Amerikaner*innen nehmen schwarze Muslim*innen nicht als solche zur Kenntnis, sie sagen dann: „Nein, nein, er ist nicht Muslim, er ist schwarz.“ Man kann blackness nicht von der muslimischen Identität trennen. Die meisten muslimischen Länder sind ehemalige Kolonialstaaten und kämpfen noch heute mit den Auswirkungen von Kolonialismus. Muslim Futurism hat die gleichen Forderungen wie Afrofuturism, öffnet die Bewegung aber für mehr Menschen.

Wie war es für dich, als Muslim in Amerika aufzuwachsen?

Dass 9/11 ein Wendepunkt für die muslimische Identität in den USA war, ist schwer zu leugnen. In den USA erzeugen die Medien ein verzerrtes Bild davon, wer ein*e Muslim*in ist. In den amerikanischen Medien ist ein Muslim jemand, der einen Bart hat und einen Turban trägt, in den Bergen lebt und Mitglied bei der Taliban oder dem IS ist. Mein Gesicht wird in den USA mit dem IS oder der Taliban assoziiert. Es gibt in Amerika kein großes Verständnis für die vielen verschiedenen muslimischen Identitäten. Es hat seinen Preis, als Muslim in Amerika aufzuwachsen.

Welchen Preis?

Ich bin in New York aufgewachsen, meine Hautfarbe und Identität waren immer extrem sichtbar. Wer nicht weiß ist, wird automatisch als untergeordnet kategorisiert und als „weniger Mensch“ angesehen. Einige meiner Verwandten, die eine Kopfbedeckung tragen, wurden dafür auf offener Straße angegriffen. Irgendwann schickten meine Eltern mich aus finanziellen Gründen zu meinem Onkel und meiner Tante, die Sikhs sind, nach Fayetteville, North Carolina, wo sich einer der größten Stützpunkte des US-Militärs befindet. Das war während der US-Besetzung von Afghanistan und dem Irak. Mein Onkel hat einen Bart und trägt einen Turban. Er wurde mehrfach angegriffen, unser Haus mit Steinen beworfen, weil es ein muslimisches Haus ist. So wurden wir schnell als Feinde gesehen, obwohl wir aktive Teilnehmer der Gemeinschaft waren, mein Onkel war Professor an der Universität, aber das war egal. So aufzuwachsen, nur weil man anders aussieht als andere, das hinterlässt Spuren.

Obwohl ein fünftel aller Muslim*innen in den USA schwarz sind, nehmen viele Amerikaner*innen schwarze Muslim*innen, wie Leah Vernon, nicht als solche zur Kenntnis. Foto: Jenn Ravenna Tran für MIPSTERZ

Wie hast du die anderen Mipsterz gefunden?

Während meines Studiums der Islamwissenschaft hatte ich wenige muslimische Freunde. Für sie war ich nicht muslimisch genug. Die meisten kamen aus dem Umkreis der Universität, kannten sich untereinander oder gingen in dieselbe Moschee. Und dann tauchte ich dort auf, ein Nerd aus Queens, New York, der sich für islamische Philosophie interessiert, transplantiert nach North Carolina. Dieses Umfeld hat mich entfremdet. Ich wollte mich endlich mit anderen Muslim*innen verbinden, aber konnte nicht. Dieses Muster setzte sich auch während meines zweiten Studiums in Pennsylvania fort. Das hat mich gestört, weil ich unbedingt eine Community mit Gleichgesinnten finden wollte. Also zog ich zurück nach New York und begann, als Stand-up-Comedian aufzutreten. Ich hatte das Gefühl, Comedy sei der beste Weg, meine philosophischen Ideen zu kommunizieren. 2011 begann die Occupy-Wall-Street-Bewegung, die sich gegen Kapitalismus und soziale Ungleichheit auflehnte. Ich habe damals einen Aufruf gestartet, mit anderen Muslim*innen in einer Satireaktion ein Zeichen gegen kapitalistische muslimische Unternehmen zu setzen. Andere muslimische Künstler*innen schlossen sich an und als die Proteste vorbei waren, wollten wir weitere Projekte machen. Viele queere oder schwarze Muslim*innen, Ismailit*innen, Ahmadis, asiatische oder lateinamerikanische Muslim*innen und andere muslimische Minderheiten kamen zu uns, da sie sich bei uns sicher fühlten. Wir redeten nicht unbedingt über den Islam, sondern über unsere eigenen Erfahrungen. Und so hat sich Mipsterz entwickelt.

Wie findet man bei so vielen verschiedenen Muslim*innen einen Konsens?

Einer meiner Professoren, Omid Safi, sagte mal: „Der Macht unterwerfen sich die Menschen bereitwillig oder widerwillig, aber der Schönheit unterwerfen sich alle bereitwillig.“ Dieser Satz ist mir im Gedächtnis geblieben. Was uns untereinander verbindet ist mehr die Kunst als der Glaube, über sie finden wir einen Konsens. Kunst, Musik oder Poesie lösen bei jedem etwas aus, es verbindet.

Gerade ist euer Musikvideo „Alhamdu“ rausgekommen. Wie ist es zu dem Projekt gekommen?

2019 gab es eine große Debatte um das Genre des Songs „Old Town Road“ von Little Nas X und Billy Ray Cyrus. Ist das ein Country-Song oder ein Hip-Hop-Song? Viele Weiße sagten: Er ist schwarz, also ist es ein Hip-Hop-Song. Dabei ist es viel mehr ein Country-Song. Weiße wollen die „Weißheit“, die mit Countrymusik verbunden wird, nicht auf Schwarze übertragen. Wenn schwarze Künstler Musik machen, dann ist das Rap, Rhythm and Blues oder Hip-Hop. Meiner Meinung nach sind diese Kategorien eine Form von white supremacy. Deshalb wollten wir etwas erschaffen, das sich über diese Kategorisierungen hinwegsetzt, sie satirisch beäugt und eine neue Kategorie begründet, die nicht „world music“ ist. Wir haben uns gefragt: Wie würde muslimisch-westliche Musik in hundert oder fünfhundert Jahren klingen? Viele von uns sind Musiker und so kam es zu der Idee, ein Musikvideo zu machen.

Warum habt ihr den Titel „Gott sei Dank” bzw. „Alhamdu“ gewählt?

 Alhamdu ist die Kurzform von Alhamdulilah. Kanye West singt in seinem Song „So Appalled” den Satz „Praises due to the most high – Allah”. Als ich das hörte, dachte ich: Das ist Alhamdulilah. Das Wort hat sich so in den Sprachgebrauch integriert, dass auch Nicht-Muslim*innen es mittlerweile verwenden. Das hat mich fasziniert, denn nach 9/11 wurde alles, was „Allah“ beinhaltete, als fanatisch angesehen. Als der ägyptische Comedian Ramy Youssef mit seiner Serie „Ramy“ 2019 einen Golden Globe gewann, begann er seine Dankesrede mit „Allahu Akbar“, Gott ist groß. Das Publikum lachte und ich glaube viele Menschen haben in diesem Moment begriffen, wie absurd wir die muslimische Identität verzerrt haben. Wir haben Sätze wie „Gott ist groß“ oder „Gott sei Dank“ und die Weltanschauung, sich einer höheren Macht zu unterwerfen, mit Terrorismus gleichgesetzt.

Welche futuristischen Ideen stecken hinter dem Musikvideo?

Wir haben uns gefragt: Was, wenn wir in eine andere Galaxie reisen würden, in der es einen anderen Planeten wie die Erde gäbe, auf dem andere Muslim*innen leben? Oder: Wie sähe eine postapokalyptische Welt in tausend Jahren aus, in der Muslim*innen wie Phönix aus der Asche steigen und alle muslimisch sind? Auf jeden Fall müsste die Mode ein kosmopolitischer, farbenreicher Mix mit Elementen aus verschiedenen Kulturen der Welt sein, kombiniert mit amerikanischem oder japanischem Street Style. Dann haben wir uns gefragt, wo würden sie leben, wie würde es da aussehen? Wir haben uns vorgestellt, dass es keine geografischen Grenzen geben würde, sondern nur natürliche Grenzen, wie Felsformationen, Flüsse oder Ozeane. Deshalb haben wir das Musikvideo in der kalifornischen Wüste, wo auch Star Treck gefilmt wurde, gedreht, da gibt es solche geologischen Formationen. Aber in einer postapokalyptischen Zukunft könnten Muslim*innen auch unter der Erde Leben, in den verlassenen U-Bahn-Stationen New Yorks zum Beispiel.

„In einer postapokalyptischen Zukunft könnten Muslim*innen auch unter der Erde Leben, in den verlassenen U-Bahn-Stationen New Yorks zum Beispiel.” Foto: Jenn Ravenna Tran für MIPSTERZ

 „Ich würde sogar sagen, dass der Prophet Muhammad bereits ein Muslim Futurist war.” 

Diese Elemente haben wir in das Video miteingebracht. Und wenn es keine Grenzen gäbe, wären die Muslim*innen, die dort leben würden, aus aller Welt, also haben wir mit bosnischen, kongolesischen, pakistanischen, asiatischen, arabischen und Latino-Muslim*innen gedreht, die alle zum gleichen Stamm gehören. Im Koran gibt es diesen Vers, der lautet: „Wir haben euch zu Völkern und Stämmen gemacht, damit ihr einander kennenlernt.“ Der Islam fordert Muslim*innen dazu auf, sich zu vernetzen und kennenzulernen. Wir verstehen das als Anreiz zur Kollaboration und ehren diesen Vers in unserem Video.

In dem Song singt ihr: „This is the new America, this is the new utopia”. Wie sieht die neue Utopie bzw. das neue Amerika aus?

Eine Utopie kann nur entstehen, wenn ein Volk sich eine Utopie vorstellen kann und die Möglichkeit hat, aufzublühen. Dazu braucht es gewisse Grundbedürfnisse, Sicherheit, ausreichend Ernährung, Freiheit von Unterdrückung, Gleichberechtigung. Der globale Norden hat von der Ausbeutung des globalen Südens profitiert und dabei viele Gruppen, nicht nur Muslim*innen, systematisch daran gehindert, Erfolg zu haben. Diese Strukturen bestehen zum Teil noch bis heute. Der erste Schritt in Richtung einer Utopie ist, diese Strukturen zu überwinden.

„This is the new America, this is the new utopia”, singen Mipsterz in ihrem neuen Song „Alhamdu”. Um diese Utopie zu erreichen, müssen unterdrückende Strukturen überwunden werden. Foto: Sara Alfageeh für MIPSTERZ

Grace Jones war ihrer Zeit voraus, sie ist eine Afrofuturistin par excellence. Wer wäre ein Muslim Futurist par excellence? 

Es gibt bereits gegenwärtige Künstler und Denker, die sich mit Muslim Futurism auseinandersetzen. Beispielsweise die Journalistin Vanessa Taylor, die sich als schwarze Muslimin identifiziert. Aber eigentlich ist Muslim Futurism keine neue Bewegung. Ich würde sogar sagen, dass der Prophet Muhammad bereits ein Muslim Futurist war. Muhammad träumte von einer neuen Welt, in der alle Menschen harmonisch zusammenleben und auch für Versklavte und Arme Gerechtigkeit besteht. Das ist ein Akt des Widerstands, ein „futuring“ Akt. In der schiitischen Tradition gibt es auch den in Verborgenheit lebenden zwölften Imam al-Mahdī, den ich als Ultrafuturisten bezeichnen würde. Er taucht einfach unter und sagt: „Ich komme irgendwann in der Zukunft zurück.“ Auch Jesus, der einer unserer Propheten ist, war ein Futurist. Propheten sind Futuristen: Sie kommen aus der Zukunft, um uns zu belehren.

„Propheten sind Futuristen: Sie kommen aus der Zukunft, um uns zu belehren”, findet Mipsterz-Gründer Abbas. Foto: Abbas Rattani

Wie geht es mit dem Muslim Futurism Projekt weiter?

Die zweite Phase von Muslim Futurism ist eine Ausstellung, in der wir Kunst von muslimischen Künstler*innen ausstellen werden. Wir werden versuchen, eine immersive Erfahrung zu generieren, die eine muslimische Zukunft darstellt. Wenn man die Ausstellung betritt, befindet man sich in der muslimischen Zukunft und die soll so schön sein, dass jede*r sich ihr bereitwillig unterwirft. Wir wollen die Ausstellung vor allem an Orten zeigen, an denen es nicht unbedingt viele Muslim*innen gibt. Sie wird in Durham, Iowa City und Miami zu sehen sein, und möglicherweise auch in Städten in Europa. Dann wird es noch die Muslim Futurism Konferenz, die vom 21. bis 23. Januar 2022 virtuell stattfindet, geben. Auf der Konferenz wollen wir gemeinsam Muslim Futurism definieren und all die Fragen besprechen, die du mir gestellt hast. Jeder kann bis zum ersten August Essays und Aufsätze einreichen, die Teilnahme ist für alle offen und kostenfrei.

Wenn ihr immer noch nicht genug von utopischem Futurismus habt, hört in die Mipsterz Muslim Futurism Playlist rein oder lasst euch von der Kraft Shamel Pitts afrofuturistischen Tanzes inspirieren.